VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 12.03.2010 - 7 K 1116/09.A [= ASYLMAGAZIN 2010, S. 192 f.] - asyl.net: M16852
https://www.asyl.net/rsdb/M16852
Leitsatz:

Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG für ein 13 Monate altes Kind wegen Extremgefahr aufgrund schlechter allgemeiner Versorgungslage und unzureichender medizinischer Infrastruktur in Angola.

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, Angola, extreme Gefahrenlage, allgemeine Gefahr, allgemeine Versorgungslage, medizinische Versorgung, Kleinkind, Existenzminimum
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind in der Person der Klägerin erfüllt. Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gefahren in diesem Staat, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind gemäß § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG bei Anordnungen nach § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Im Falle allgemeiner Gefahren ist der Ausländer bei der Gewährung nationalen Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG grundsätzlich auf eine Regelung durch die oberste Landesbehörde nach § 60 a AufenthG zu verweisen; bei Fehlen einer solchen Regelung kann ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur festgestellt werden, wenn dies zur Vermeidung einer verfassungswidrigen Lücke erforderlich ist. Abschiebungsschutz ist danach nur ausnahmsweise dann zuzusprechen, wenn der Ausländer im Falle seiner Abschiebung "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert" wäre (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Juni 2008 - 10 C 43.07 -, Juris = BVerwGE 131, 198 ff. und Urteil vom 12. Juli 2001 - 1 C 2.01 - Juris = BVerwGE 114, 379 ff. sowie Urteil vom 12. Juli 2001 - 1 C 5.01 -, Juris = BVerwGE 115, 1 ff.). [...]

Bei Anwendung dieser Grundsätze ist im vorliegenden Fall durch die schlechte allgemeine Versorgungslage und die unzureichende medizinische Infrastruktur eine konkrete extreme Gefährdung an Leib und Leben im Falle einer Abschiebung der Klägerin nach Angola zu erwarten.

Zusammenfassend stellt sich die allgemeine humanitäre Lage in Angola (seit April 2002) wie folgt dar:

Abzustellen ist für den vorliegenden Fall auf die derzeitigen und für die nähere Zukunft prognostizierbaren Lebensverhältnisse in Luanda, der Hauptstadt Angolas, wohin allein eine Abschiebung in Betracht käme (vgl. Auswärtiges Amt (AA), Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Angola (Lagebericht) vom 26. Juni 2007).

Die Lebensverhältnisse und insbesondere die Versorgungslage mit Nahrungsmitteln sind im Großraum Luanda (wo ca. ein Drittel der Angolaner lebt), dem erweiterten Küstenstreifen sowie den meisten Provinzhauptstädten und im Südwesten des Landes weitestgehend gewährleistet, auch wenn die Mehrheit der angolanischen Bevölkerung nach wie vor am Rande des Existenzminimums mit Subsistenzwirtschaft, Kleinsthandel oder Gelegenheitsarbeiten überlebt. Die Versorgungslage in Luanda, wo ca. 5 Millionen Menschen leben, hat sich seit 2002 spürbar verbessert. Durch den Ausbau der Überlandstraßen seit 2002 besteht auch wieder reger Güterverkehr zwischen Namibia und Luanda, wovon neben Luanda auch der Süden und Südwesten Angolas profitieren. Rückkehrer haben die Möglichkeit, in Luanda in Stadtviertel zu ziehen, in denen Menschen aus ihrer Heimatregion leben. Die meisten der zahlreichen angolanischen Binnenvertriebenen sind in ihre Heimatregionen zurückgekehrt. Andere leben im teilweise von der Unterstützung Familienangehöriger oder finden Arbeit im informellen Sektor. Seit dem Bürgerkriegsende kehren vermehrt Angolaner, die während des Krieges ins Ausland emigrierten, freiwillig nach Angola zurück. Die Lebenshaltungskosten in Angola und insbesondere in Luanda sind extrem hoch. Wenn keine familiären Rückhalte bestehen, die zumindest für den Beginn Unterstützung gewähren, ist ein "Fuß fassen" zum Teil äußerst schwierig, wenn nicht gar ausgeschlossen. Rückkehrhilfen des angolanischen Staates fehlen bzw. sind ineffizient (vgl. Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 18. April 2006 und vom 26. Juni 2007 und Auskunft vom 22. September 2009 an das VG Wiesbaden).

Auch nach Einschätzung des Instituts für Afrika-Kunde (IAK) und der Schweizerischen Flüchtlingshilfe liegt bezogen auf den Großraum Luanda nicht generell eine extreme Gefahrenlage vor (vgl. IAK, Auskunft vom 15. August 2002 an OVG Sachsen-Anhalt; ähnlich UNHCR, Gutachten vom 28. November 2002 an OVG Sachsen-Anhalt, wonach eine unfreiwillige Rückkehr abzulehnen sei und es bezüglich der Möglichkeiten für eine Existenzsicherung auf Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand und die familiäre Situation ankomme); vgl. auch SFH, Angola, update Juli 2006, 6.1 zur Rückkehrsituation: Es gebe nur sehr wenige Arbeitsplätze. Auch Wohnraum sei, insbesondere in Luanda, sehr knapp. Personen, die nicht auf soziale Netze zurückgreifen können, hätten ernsthafte Probleme, ihr Überleben zu sichern).

Angola gehört nach wie vor zu den ärmsten Entwicklungsländern und verfügt nur über unzureichende medizinische Infrastruktur. In den meisten Häusern der Slums (Musseques), in denen der Großteil der Bevölkerung von Luanda lebt, gibt es kein fließendes Wasser und erst recht kein Abwassersystem. Die sanitären und hygienischen Verhältnisse sind zum Teil schlichtweg katastrophal und begünstigen Krankheiten, die von kontaminiertem Trinkwasser übertragen werden, z.B. Cholera. In den letzten Jahren kam es u.a. auch im Großraum Luandas mehrfach zu Epidemien, wobei ca. ein Drittel der Erkrankten Kinder unter fünf Jahren waren (vgl. u.a. AA, Auskunft vom 22. September 2009 an VG Wiesbaden, Reisewarnungen; BBC Monitoring vom 26. Januar 2007 mit einem Bericht über Cholera nach schweren Regenfällen: mehr als 80 Tote und ca. 2000 Menschen in Luanda nach Wohnungsverlust in aussichtsloser Lage; fehlende Stromversorgung in weiten Bereichen Luandas; Ausfall der Wasserversorgung sowie von Bus- und Taxiverbindungen; Bericht von UNICEF vom 6. März 2007 über Cholera-Ausbruch (Zeitraum Oktober 2006 bis Februar 2007) mit 3.436 Fällen in Luanda).

Angola weist für Kinder unterhalb von fünf Jahren eine der höchsten Kindersterblichkeitsraten der Erde auf. Die Überlebensmöglichkeiten für Babys, kleine Kinder und schwer kranke Personen in Angola sind daher generell als bedenklich einzustufen (vgl. AA, Auskunft vom 22. September 2009 an VG Wiesbaden, OVG NRW, Beschlüsse vom 13. Februar 2007 - 1 A 4709/06.A -, vom 22. Juni 2006 - 1 A 2417/06.A -, vom 22. Dezember 2005 - 1 A 4425/05.A - und vom 24. Januar 2005 - 1 A 259/05.A -).

In Übereinstimmung mit der obergerichtlichen Rechtsprechung lässt sich eine extreme Gefahrenlage für Angola aber nicht generell bejahen, sondern es bedarf einer vertieften Prüfung der jeweiligen besonderen Einzelfallumstände. In diesem Zusammenhang können u.a. das Alter des Ausländers, dessen Konstitution und Gesundheitszustand, seine Beziehungen zu in Angola lebenden Personen, seine Kenntnisse örtlicher Gegebenheiten sowie erworbene Qualifikationen von Bedeutung sein (vgl. OVG NRW, Urteil vom 21. September 2000 - 1 A 5615/96 -; vom 16. August 2000 - 1 A 2793/98.A - und vom 28. Juni 2000 - 1 A 1462/96.A -; Hess. VGH, Beschluss vom 26. März 2001 - 3 UE 3555/00.A -, AuAS 2001, 211 ff.; OVG Niedersachsen, Urteil vom 1. März 2001 - 1 L 593/00 -; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 20. Juni 2001 - 8 A 10425/01.OVG -, Asylmagazin 10/01, S. 9; OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 13. Februar 2003 - 2 L 376/95 -). [...]

Das Gericht teilt nicht die Einschätzung des Auswärtigen Amtes in seinen Lageberichten, wonach Rückkehrer in Luanda ausreichend Hilfe durch Angolaner aus der eigenen Herkunftsregion erlangen könnten. Selbst wenn die Klägerin und ihre Mutter Angehörige aus deren Herkunftsregion anträfen, dürfte eine konkrete Überlebenshilfe seitens bloßer Angehöriger der Herkunftsregion jedenfalls nach mehrjähriger Ortsabwesenheit von Asylbewerbern und vor dem Hintergrund nach wie vor erheblicher Armuts- und Infrastrukturprobleme - auch in Luanda - kaum realistisch sein (vgl. so auch: VG München, Gerichtsbescheid vom 16. Juli 2007 - M 21 K 06.51266; zu erheblicher Armut und Infrastrukturproblemen: Reisewarnungen des AA vom 20. November 2006 und SFH update Juli 2006). [...]