VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Urteil vom 19.01.2010 - 10 K 1693/09.A - asyl.net: M16860
https://www.asyl.net/rsdb/M16860
Leitsatz:

Keine Gefahr geschlechtsspezifischer Verfolgung für alleinstehende Mutter eines nichtehelichen Kindes in Marokko.

Schlagwörter: Asylverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Marokko, geschlechtsspezifische Verfolgung, alleinstehende Frauen, nichteheliches Kind
Normen:
Auszüge:

[...]

Die Klägerin hat zur Begründung ihres Folgeantrags im Wesentlichen vorgetragen, sie geriete im Falle ihrer Rückkehr nach Marokko aufgrund des Umstandes, dass sie in Deutschland eine uneheliche Tochter geboren habe, in eine erhebliche Gefahrenlage. Alleinerziehende Mütter hätten ebenso wie ihre nichtehelich geborenen Kinder in Marokko faktisch keine Überlebenschancen. [...]

Eine geschlechtsspezifische Verfolgung von Frauen ist in Marokko regelmäßig nicht festzustellen. Dort haben Frauen im Vergleich mit Frauen in anderen islamisch geprägten Ländern verhältnismäßig viele Rechte. Auch alleinstehende Mütter, die ein Kind unehelich geboren haben, werden vom marokkanischen Staat nicht verfolgt. Seit der Reform des marokkanischen Standesamtswesens im Jahr 2003 besteht die Möglichkeit, einen beliebigen Namen an die Stelle des Vaters in die Geburtsurkunde eintragen zu lassen, so dass die nichteheliche Herkunft des Kindes für Außenstehende nicht erkennbar ist. Außerhalb einer Ehe geborene Kinder sind auch nicht vom Schulbesuch ausgeschlossen.

Allerdings ist der Klägerin zuzugeben, dass die Situation der unverheirateten Mütter und ihrer nichtehelich gezeugten Kinder in Marokko insbesondere wegen der gesellschaftlichen Anschauungen schwierig ist, wobei es sich dabei um ein Tabuthema handelt und es daher dazu keine nachprüfbaren Angaben oder gar offizielle Statistiken gibt. In weiten Teilen der von den islamischen Traditionen geprägten marokkanischen Gesellschaft stellt die nichteheliche Geburt einen Makel dar, der sowohl dem Kind als auch seiner Mutter anhaftet. Nach Angaben von Nichtregierungsorganisationen kam es vereinzelt insbesondere in ländlichen Gegenden, in denen die Traditionen eine größere Rolle spielen, zu körperlichen Übergriffen auf solche Mütter. Es wird davon berichtet, dass in den bekannt gewordenen Einzelfällen jüngere Frauen wegen des sozialen Drucks dahin tendierten, abzutreiben, ihre unehelichen Kinder in der Nähe von staatlichen Waisenhäusern oder entsprechenden karitativen Einrichtungen auszusetzen, sie zur Adoption freizugeben oder gar zu töten. Die nicht verheirateten Mütter können vom Staat keine Unterstützung, eine solche aber von nichtstaatlichen Organisationen im Zusammenhang mit der Betreuung der Kinder wie auch mit medizinischen und juristischen Problemen erfahren. Diese Institutionen, die sich überwiegend in den Großstädten befinden und die der marokkanische Staat in den letzten Jahren zunehmend finanziell förderte - was für ein islamisches Land nicht selbstverständlich ist -, bieten den Frauen mitunter auch Ausbildungen hauptsächlich als Köchinnen, Näherinnen und Frisörinnen an. Bei der Beurteilung der Gefahrenlage kommt es entscheidend auf den jeweiligen Einzelfall, d.h. auf die soziale Herkunft und das Bildungsniveau der betroffenen Frau, einen etwaigen Rückhalt in ihrer Familie, lokale Besonderheiten und ähnliches, vor allem aber auf das Durchsetzungsvermögen und Engagement der Frau an (vgl. dazu die vom erkennenden Gericht eingeholte Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 18. April 2007 und das ebenfalls in Auftrag gegebene Gutachten des Seminars für Arabistik/Islamwissenschaft der Universität Göttingen vom 28. Juli 2007).

Nach einer Gesamtwürdigung der individuellen Umstände im Falle der Klägerin kann demnach eine relevante Verfolgungsgefahr für sie bei einer Rückkehr in ihr Heimatland nicht angenommen werden.

Die Klägerin absolvierte eine Ausbildung zur Frisörin und leitete später sogar eine Frisörschule in ... Damit verfügt sie über einen Bildungsstand, der sich von dem vieler Marokkanerinnen abhebt. In diesem Beruf arbeitete sie jahrelang bis zu ihrer Ausreise im Mai 2007 und stellte dadurch ihren Lebensunterhalt sicher. Daher hält das Gericht es für überwiegend wahrscheinlich, dass es ihr nach ihrer Rückkehr in Marokko gelingen wird, wieder eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, zumal sie bereits 39 Jahre alt und damit auch eine lebenserfahrene Frau ist.

Ferner verfügt die Klägerin in Marokko über familiäre Bindungen, denn dort leben ausgehend von ihrer Darstellung in der mündlichen Verhandlung nach dem Tod des Vaters noch ihre Mutter, drei Schwestern und zwei Brüder (vgl. demgegenüber den Schriftsatz der Klägerin vom 21. Januar 2008 in den Verfahren des VG Arnsberg - 7 L 63/08.A - und - 7 K 254/08.A -, wonach in Marokko außer der Mutter zwei verheiratete Schwestern und ein Bruder lebten), zu denen sie nach ihrer Behauptung im Verhandlungstermin seit der Wahrnehmung ihrer Schwangerschaft keinen Kontakt mehr gehabt haben will. Da diese Verwandten nach dem Vortrag der Klägerin demnach noch nichts von der Schwangerschaft geschweige denn von der Geburt der Tochter und den näheren Begleitumständen wissen, kann nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass es nach einer Rückkehr der Klägerin und ihres Kindes zu einem dauerhaften Zerwürfnis sowohl mit den männlichen als auch mit den weiblichen Familienangehörigen kommen wird.

Den Einwand der Klägerin, sie stamme aus einer streng religiösen Familie und sie befürchte in ihrer Heimat Übergriffe von Verwandten mit tödlichem Ausgang, nimmt das Gericht ihr nicht ab. Denn insoweit fehlt es an jeglicher Substanz (so auch das VG Arnsberg, Beschluss vom 30. Januar 2008 - 7 L 63/08.A - und Gerichtsbescheid vom 12. Juni 2008 - 7 K 254/08.A - das Erstverfahren der Klägerin betreffend).

Dass sie eher in einem liberal denkenden Elternhaus aufwuchs, wird durch ihren beruflichen Werdegang, aber auch durch den Umstand deutlich, dass eine ihrer Schwestern verheiratet in Frankreich lebt und dass insbesondere sie selbst nach Deutschland ausreisen durfte, um dort ... und damit einen weitgehend unbekannten, wesentlich älteren und andersgläubigen Ausländer aus wirtschaftlichen Gründen zu heiraten (vgl. zu diesem Aspekt VG Frankfurt am Main, Urteil vom 26. Mai 2009 - 4 K 1108/08.F.A (1) -, mit dem die Klage einer Marokkanerin mit der gleichen Problematik als offensichtlich unbegründet abgewiesen wurde).

Wenn auch sich nach der Schilderung der Klägerin im Termin ihre Onkel und Brüder gegen diese Lebensplanung ausgesprochen haben sollen (vgl. demgegenüber die Angaben der Klägerin während der Anhörung vom 07. November 2007 und in ihren Schriftsatz vom 21. Januar 2008 in den Verfahren des VG Arnsberg - 7 L 63/08.A - und - 7 K 254/08.A, wonach sogar die gesamte Familie gegen die Eheschließung in Deutschland gewesen sein soll), ist doch festzuhalten, dass es zur planmäßigen Ausreise der Klägerin kam und sie demnach in der Lage war, sich über die von ihren männlichen Verwandten geäußerten Bedenken hinwegzusetzen. Zudem belegt das äußere Erscheinungsbild der Klägerin, dass es sich bei ihr um eine moderne und westlich orientierte, keineswegs um eine streng religiös erzogene Frau handelt. Das war ausweislich der in den beigezogenen Akten befindlichen Fotos - in ihrem Reisepass vom 14. Juli 2006 und in ihrem Antrag auf Erteilung eines Visums vom 09. März 2007 - auch schon vor ihrer Ausreise der Fall.

Es ist davon auszugehen, dass die Klägerin eher städtisch geprägt aufwuchs. Denn entgegen ihrer Behauptung in der mündlichen Verhandlung handelt es sich bei dem Ort ..., in dem sie aufwuchs und in dem auch heute noch zumindest ihre Mutter wohnt, nicht um ein Dorf, sondern nach den Recherchen des Gerichts um eine Stadt mit immerhin etwa 35.200 Einwohnern am Stichtag 02. September 2004, so dass angesichts der Bevölkerungsentwicklung in Marokko heute eine deutlich höhere Einwohnerzahl zu unterstellen sein dürfte. [...]