VG Koblenz

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Zitieren als:
VG Koblenz, Urteil vom 29.07.2009 - 5 K 343/09.KO - asyl.net: M16864
https://www.asyl.net/rsdb/M16864
Leitsatz:

Die für die Schutzgewährung maßgebliche Sachlage hat sich in Algerien gegenüber dem Jahr 2001 eindeutig verändert, so dass der Widerruf der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG nicht zurückzunehmen ist.

Schlagwörter: Widerruf, Algerien, Bouteflika, Drei-Jahres-Frist, Ermessen, Diabetes mellitus, chronische Erkrankung, Krankheit, medizinische Versorgung, Änderung der Sachlage, Wegfall der Umstände,
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 60 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 24. März 2009 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). [...]

Rechtsgrundlage für den Widerruf ist § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG. Nach dieser Vorschrift ist die Anerkennung als asylberechtigt unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Hiernach erweist sich die von der Beklagten ausgesprochene Widerrufsentscheidung als rechtmäßig, weil dem Kläger die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft nicht (mehr) zusteht und in seinem Fall auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht mehr vorliegen. [...]

Zunächst hat sich die für die Schutzgewährung maßgebliche Sachlage gegenüber dem Jahr 2001 eindeutig geändert. So hat bereits das Bundesamt in dem angefochtenen Bescheid ausführlich und zutreffend dargelegt, dass nach der von Präsident Bouteflika seit dem Jahre 1999 eingeleiteten Aussöhnungspolitik die Voraussetzungen für die Zuerkennung eines Abschiebungsverbotes nach § 51 Abs. 1 AuslG bzw. § 60 Abs. 1 AufenthG nicht mehr gegeben seien und sogar der Chef der Auslands-Exekutive der aufgelösten FIS, …, nach Algerien zurückgekehrt sei. Mittlerweile sind auch die meisten Terroristen, zu denen der Kläger unstreitig nicht gehört, aus dem Gefängnis entlassen worden, wenn sie sich nicht des Mordes, der Vergewaltigung und der Beteiligung an Bombenanschlägen auf öffentlichen Plätzen schuldig gemacht haben. Insoweit kann zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen auf die Ausführungen im angefochtenen Bescheid der Beklagten vom 24. März 2009 Bezug genommen werden, denen das Gericht folgt (§ 77 Abs. 2 AsylVfG). Denn für das Bestehen von Abschiebungshindernissen im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG gelten - wie schon bei der Vorgängerregelung des § 51 Abs. 1 AuslG - im Wesentlichen weiterhin die gleichen Maßstäbe wie für das Asylrecht gemäß Art. 16a Abs. 1 GG, weil die Voraussetzungen beider Vorschriften weitestgehend deckungsgleich sind, soweit sie die Verfolgungshandlung, das geschützte Rechtsgut und den politischen Charakter der Verfolgung betreffen (vgl. zu § 51 AuslG: BVerwG, Urteil vom 18. Februar 1992, EZAR 231 Nr. 3). [...]

Der Widerrufsbescheid begegnet auch keinen verfahrensrechtlichen Bedenken. Dagegen kann zunächst nicht eingewandt werden, dass der Bescheid nicht entsprechend § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG unmittelbar nach Wegfall der Voraussetzungen für die Schutzgewährung erging. Denn das Gebot des unverzüglichen Widerrufs dient ausschließlich öffentlichen Interessen, so dass ein Verstoß dagegen keine Rechte des betroffenen Ausländers verletzt (vgl. BVerwG, Urteil vom 1. November 2005 - 1 C 21.04 -, juris).

Der Widerrufsbescheid verstößt auch nicht gegen die in § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG normierte Drei-Jahres-Frist. Zwar liegen im Fall des Klägers zwischen Feststellungsbescheid und Widerruf deutlich mehr als drei Jahre. Der Kläger kann daraus jedoch keinen Nutzen ziehen. Wie die Unverzüglichkeitsklausel in § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG dient auch die Drei-Jahres-Frist in § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG ausschließlich dem öffentlichen Interesse an der alsbaldigen Beseitigung einer dem Ausländer nicht mehr zustehenden Rechtsposition (vgl. Hessischer VGH, Beschluss vom 1. August 2005 - 7 UE 1364/05.A -, juris). Subjektive Rechte können also auch aus dieser Fristenregelung nicht abgeleitet werden. [...]

Im Fall des Klägers war auch keine Ermessensentscheidung im Sinne des § 73 Abs. 2a Satz 3 AsylVfG erforderlich. Diese Vorschrift knüpft, wie sich bereits ihrem Wortlaut ergibt, an die Prüfungs- und Mitteilungspflichten nach § 73 Abs. 2a Satz 1 und 2 AsylVfG an. Nur wenn zuvor eine Prüfung im Sinne der letztgenannten Normen erfolgte und die Voraussetzungen für einen Widerruf verneint wurden, ist in einem neuerlichen Verfahren eine Ermessensentscheidung zu treffen. Vorliegend fehlt es jedoch an der vorherigen Prüfung der Widerrufsvoraussetzungen als auch an deren Verneinung; vielmehr wurden diese gerade bejaht. Ermessenserwägungen bedurfte es daher nicht (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 4. April 2006, - 10 A 10290/06.OVG).

Soweit vereinzelt in der Rechtsprechung gefordert wird, dass bei sogenannten Altfällen ein Widerruf von mehr als drei Jahre alten Anerkennungsentscheidungen nur im Wege einer Ermessensentscheidung erfolgen darf, so ist dem nicht zu folgen. Ein solches Normverständnis widerspricht dem Wortlaut der gesetzlichen Regelungen, lässt den gesetzgeberischen Willen außer Betracht und verstößt zudem gegen das Gewaltenteilungsprinzip. Eine Anwendung von § 73 Abs. 2a Satz 3 AsylVfG auf die vorgenannten Altfälle ist vom Wortlaut der Regelung nicht umfasst. Nach diesem ist eine Ermessensentscheidung des Bundesamtes nur erforderlich, wenn die Widerrufsvoraussetzungen bereits einmal zuvor geprüft worden waren. Dies ist jedoch bei Altfällen in der Regel nicht der Fall, weil die Prüfungspflicht des § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG - wie dargelegt - erst ab dem 1. Januar 2005 greift. Für andere Fälle hat der Gesetzgeber keine Notwendigkeit für Ermesenserwägungen gesehen. Angesichts dieser bewussten Beschränkung steht es der Judikative nicht zu, die Anwendung der Norm im Wege gerichtlicher Auslegung auszudehnen. Eine weiterreichende Notwendigkeit von Ermessensentscheidungen in Widerrufsverfahren wäre vom Gesetzgeber zu regeln. Schließlich ist zu sehen, dass die drei ersten Sätze von § 73 Abs. 2a AsylVfG insgesamt einen vom 1. Januar 2005 an geltenden und in die Zukunft gerichteten Auftrag an das Bundesamt enthalten (vgl. BVerwG, Urteil vom 1. November 2005, a.a.O.). Die in § 73 AsylVfG neu eingeführten Regelungen sollten bei Entscheidungen des Bundesamtes solange keine Anwendung finden, solange sie noch nicht rechtswirksam zur Verfügung standen. Es wäre treuwidrig, dem Bundesamt nunmehr die Nichtbeachtung dieser Vorschriften vorzuhalten, die es hinsichtlich der vor dem 1. Januar 2002 liegenden Anerkennungsbescheide nicht mehr einhalten und auch nicht heilen kann (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 14. April 2005, a.a.O.). [...]

Dem Kläger ist es nicht möglich, sich darauf zu berufen, dass ihm Abschiebungsschutz nach der Vorschrift des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG hätte gewährt werden müssen. [...]

Der Kläger kann nicht damit gehört werden, er leide weiter an den erlittenen psychischen Schädigungen. Hierfür reicht die Behauptung, erneut eine ärztliche Behandlung wegen seiner psychischen Schwierigkeiten anzustreben und eine entsprechende Überweisung vorzulegen, nicht aus. Wäre es tatsächlich so, wie der Kläger behauptet, wäre zu erwarten gewesen, dass er sich in den vergangenen Jahren einer psychiatrischen Behandlung unterzogen hätte, und er hätte diesbezügliche Bescheinigungen bzw. ärztliche und psychiatrische Gutachten vorlegt. Die hat er jedoch nicht getan, mithin nicht glaubhaft gemacht, dass er immer noch an Folgen der erlittenen Verfolgung leidet. Vielmehr hat er in der mündlichen Verhandlung des erkennenden Gerichts ausgeführt, in der Vergangenheit nicht behandelt worden zu sein. Von daher bestehen massive Zweifel, dass er auch jetzt noch unter den Folgen der damaligen Verfolgungsmaßnahme leidet, zumal seit den maßgebenden Ereignissen über zwölf Jahren vergangen sind.

Soweit der Kläger angibt, an Diabetes und einem zu hohen Cholesterinwert zu leiden, ist anzuführen, dass die medizinische Grundversorgung in Algerien – wenn auch auf niedrigem Niveau - sichergestellt ist. Besser ausgestaltete Krankenanstalten gibt es in allen Universitäten, die medizinische Fakultäten besitzen (Algier, Oran, Annaba, Constantine). Häufig auftretende chronische Krankheiten wie Diabetes etc. können auch in anderen staatlichen medizinischen Einrichtungen behandelt werden. Das bedeutet gleichermaßen, dass der Kläger nicht auf das ihm hier verabreichte Diabetes-Medikament "Metformin Sandoz 500 MG" angewiesen ist. Er kann in Algerien entweder das gleiche Medikament auch erhalten oder aber ein anderes. Ähnliches gilt bezüglich des Cholesterinwertes. Hier hat der Kläger nicht einmal behauptet, Medikamente gegen diesen gemessenen Gesamtcholesterinwert von 282 mg/dl einzunehmen. Dieser Wert liegt zwar über der Norm, ist aber durchaus nicht außergewöhnlich. Der durchschnittliche Gesamtcholesterinspiegel der Altersgruppe zwischen 35 und 65 Jahren in Deutschland liegt bei etwa 236 mg/dl, die Standardabweichung bei ±46 mg/dl. Das bedeutet, dass etwa zwei Drittel der deutschen Bevölkerung in dieser Altersgruppe einen Gesamtcholesterinwert im Bereich zwischen 190 mg/dl und 280 mg/dl aufweisen. [...]