VG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
VG Frankfurt a.M., Urteil vom 29.09.2009 - 7 K 269/09.F.A - asyl.net: M16885
https://www.asyl.net/rsdb/M16885
Leitsatz:

1. Die Dublin-Überstellungsfrist beginnt mit der Unanfechtbarkeit des Bescheides, d.h. sie wird durch vorläufigen Rechtsschutz nicht unterbrochen oder gehemmt.

2. Schwerwiegende Verstöße gegen die Verfahrens- und Aufnahmerichtlinie bzw. gegen nationale Grundrechte oder in Menschenrechtskonventionen verbürgte Garantien können zu einer Ermessensreduzierung auf Null bei der Prüfung der Frage des Selbsteintritts führen. Hinsichtlich Griechenlands drohen dem Kläger in Bezug auf seine Verfahrensrechte und Aufnahmebedingungen solche schwerwiegenden Beeinträchtigungen.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, Griechenland, Selbsteintritt, Überstellungsfrist, Petrosian, Rechtsschutzinteresse, Klageart
Normen: AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a Abs. 1, VO 343/2003 Art. 3 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Dem Kläger steht für seine Klage auch das zwingend erforderliche Rechtsschutzinteresse zu. Zwar bestimmt Art. 19 Abs. 4 S. 1 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18.02.2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. L 50 S. 1) – im Folgenden: Dublin II-VO -, dass die Zuständigkeit zur Durchführung eines Asylverfahrens auf den Mitgliedstaat übergeht, in dem der Asylantrag eingereicht wurde, sofern die Überstellung nicht innerhalb von sechs Monaten ab der Stattgabe des Aufnahmegesuchs im Sinne des Art. 18 Abs. 7 Dublin II-VO durchgeführt wird (vgl. auch Art. 20 Abs. 2 Dublin II-VO). Diese Frist ist inzwischen abgelaufen. Eine Verlängerung gemäß Art. 19 Abs. 4 S. 2 und 3 oder Art. 20 Abs. 2 Dublin II-VO wegen Inhaftierung oder Flucht kommt im Falle des Klägers nicht in Betracht. Gleichwohl könnte die Beklagte auch gegenwärtig noch von Griechenland die Rückübernahme des Klägers verlangen. Die Frist für die Durchführung einer Überstellung läuft nämlich nicht bereits ab der vorläufigen gerichtlichen Entscheidung, mit der die Durchführung des Überstellungsverfahrens ausgesetzt wird, wie dies im Falle des Klägers mit Beschluss vom 18.02.2009 in dem Verfahren 7 L 268/08.F.A(V) erfolgt ist. Vielmehr läuft diese Frist erst ab der gerichtlichen Entscheidung, mit der über die Rechtmäßigkeit des Verfahrens entschieden wird und die dieser Durchführung nicht mehr entgegenstehen kann (EuGH, Urteil vom 29.01.2009 – C-19/08, NVwZ 2009, 639 – Petrosian). Der Fristenlauf beginnt somit erst ab Eintritt der Unanfechtbarkeit des Bescheides der Beklagten vom 09.02.2009.

Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 09.02.2009 ist nach dem Sach- und Streitstand, wie er sich zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung darstellt (§ 77 AsylVfG), rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Das Bundesamt hat zu Unrecht den Asylantrag des Klägers als unzulässig abgelehnt und seine Abschiebung nach Griechenland angeordnet. Vielmehr hätte das Bundesamt im Falle des Klägers von seinem Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO Gebrauch machen müssen.

Nach Art. 3 Abs. 2 S. 1 Dublin II-VO kann jeder Mitgliedstaat abweichend von den Zuständigkeitskriterien des Kapitels III der Verordnung einen von einem Drittstaatsangehörigen eingereichten Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Der das Selbsteintrittsrecht wahrnehmende Mitgliedstaat wird dadurch zum zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Verordnung und übernimmt die mit dieser Zuständigkeit einhergehenden Verpflichtungen (Satz 2). Gegebenenfalls unterrichtet er den zuvor zuständigen Mitgliedstaat über den Selbsteintritt (Satz 3). [...]

Zur Überzeugung der erkennenden Gerichts (§ 108 VwGO) liegen im Falle des Klägers die Voraussetzungen für einen Selbsteintritt der Beklagten nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO vor. [...]

Unter Berücksichtigung der genannten Richtlinien des Rates, denen das Ziel gemeinsam ist, das in ihnen vergegenständlichte materielle und formelle Asylrecht in ein gemeinsames europäisches Asylrecht der Mitgliedstaaten zu transformieren, ist das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 mit ihren Bestimmungen, welcher Mitgliedstaat zuständig für ein Asylbegehren ist, im Lichte dieser europäischen Rechtsakte für ein gemeinsames Asylrecht auszulegen ist, und zwar – soweit die Umsetzungsfrist abgelaufen ist - unabhängig von dem Stand ihrer Umsetzung in das nationale Recht der Mitgliedstaaten. [...]

Aufgrund der Feststellungen der Kammer in dem Verfahren 7 K 4376/07.F.A(3) kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger in der Republik Griechenland Zugang zu einem mit den vorgenannten Richtlinien konformen Verfahren hatte und es steht auch jedenfalls derzeit nicht zu erwarten, dass er diesen Zugang erhält. Ausschlaggebend für diese Einschätzung der Gerichts ist, dass für die Frage des Zugangs und der Durchführung des klägerischen Asylverfahrens in Griechenland nicht lediglich auf die abstrakte Rechtslage abgestellt werden kann, sondern dass vor allem die konkrete Rechtspraxis dieses Mitgliedstaates zu ermitteln und zu bewerten ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 10.12.2004 – 1 B 12.04, NVwZ 2005, S. 1594 m.w.Nachw.; BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 – 10 C 51.07). [...]

Allerdings hatte der Kläger des vorliegenden Verfahrens nach seinem eigenen Bekunden in der mündlichen Verhandlung die Möglichkeit, einen Asylantrag in Griechenland zu stellen. Auch wurde ihm eine seinen Status als Asylsuchender kennzeichnende Registrierungskarte ausgestellt, auf Grund derer es ihm theoretisch möglich gewesen wäre zu arbeiten. Da er auch noch über Barmittel verfügte, gelang es ihm, sich in Athen um eine dürftige Unterkunftsmöglichkeit zu bemühen. Gleichwohl kann der Kläger im Hinblick darauf nicht auf eine Rückkehr nach Griechenland verwiesen werden, da prognostisch betrachtet ihm dort mit größter Wahrscheinlichkeit eine zwingenden menschlichen Bedürfnissen und den Vorgaben der Aufnahmerichtlinie gerecht werdende Sicherung seines Lebensunterhalts einschließlich einer angemessenen Unterkunft nicht gewährleistet wäre.

Unter Berücksichtigung der dem Gericht vorliegenden Erkenntnisse ist daher festzustellen, dass der Kläger ein der Aufnahme- und Verfahrensrichtlinie gerecht werdendes Asylverfahren in Griechenland im Falle seiner Rücküberstellung nach dort nicht erfahren wird. Aufgrund des gegebenen Sachverhalts steht daher zur sicheren Überzeugung des erkennenden Gerichts fest, dass das der Beklagten zustehende Ermessen auf Null reduziert ist. Die Kammer hat in diesem Zusammenhang zum einen die Verbindlichkeit der Verordnung (EG) Nr. 343/2003, der die Notwendigkeit zugrunde liegt, aus Gründen der praktischen Gewährleistung des Asylrechts zu einer angemessenen Aufgabenverteilung zwischen den Mitgliedstaten der Europäischen Union zu kommen, in den Blick zu nehmen. Andererseits setzt die Verordnung, was insbesondere in den angeführten Erwägungsgründen zum Ausdruck kommt, jedoch geradezu voraus, dass ein in allen Mitgliedstaaten verbindliches Asylrecht existiert und auch tatsächlich und zügig zur Anwendung kommt. Diese Abwägungselemente sind zum Ausgleich zu bringen.

Zwar ist bislang lediglich anerkannt, dass beispielsweise (drohende) schwerwiegende Verstöße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention zu einer Ermessensreduzierung auf Null bei der Prüfung der Frage des Selbsteintritts führen können (vgl. z.B. Filzwieser/Liebminger, a.a.O. Art. 3 K 8; Hruschka, Beilage zum Asylmagazin 1-2/2008, S. 9). Es ist in diesem Zusammenhang auch zu berücksichtigen, dass die vorgenannten Richtlinien nur Mindeststandards festlegen, über deren Reichweite und Geltung zwischen den Mitgliedstaaten zumindest teilweise noch kein allgemeiner Konsens besteht. Zusammenfassend dürfte daher die Auffassung Bestand haben, dass nur schwerwiegende Verstöße gegen die Verfahrens- und Aufnahmerichtlinie bzw. gegen nationale Grundrechte oder in Menschenrechtskonventionen verbürgten Garantien von Bedeutung sind.

Zur Überzeugung des erkennenden Gerichts steht fest, dass der Kläger in Bezug auf seine Verfahrensrechte und die Aufnahmebedingungen schwerwiegende Beeinträchtigungen in Griechenland hinnehmen müsste, die gegen den Wesenskern und den Inhalt der betreffenden Richtlinien verstoßen. Diese Beeinträchtigungen sind schwerwiegend, weil sie dem Anspruch des Klägers auf ein faires, ergebnisoffenes und zügiges Verfahren, in dem er seine Rechte zumutbar wahren kann, und auf Sicherung seiner notwendigen Lebensbedürfnisse bis zur Entscheidung über seinen Antrag zuwiderlaufen. Diese schwerwiegenden Beeinträchtigungen führen zu der rechtlichen Schlussfolgerung, dass dem Anspruch des Klägers auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung durch die Beklagte nur dadurch genügt werden kann, vorliegend die Verpflichtung der Beklagten zum Selbsteintritt gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO wegen gegebener Ermessensreduzierung auf Null anzunehmen. [...]