VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 29.03.2007 - M 21 K 04.50084 u.a. - asyl.net: M16891
https://www.asyl.net/rsdb/M16891
Leitsatz:

Es besteht ein Abschiebungsverbot für kleine Kinder, die in die Demokratische Republik Kongo zurückkehren müssten, da sie dort in eine Elendsexistenz gerieten, die zu körperliche und seelischen Schäden führen könnte.

Schlagwörter: Demokratische Republik Kongo, medizinische Versorgung, Gesundheitsgefahren, gesundheitliche Gefährdung, Malaria, Diarrhoe, Infektionskrankheiten, Krankheit, erhebliche individuelle Gefahr, Gefahr für Leib und Leben, erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben, Abschiebungshindernis, Existenzgrundlage, Existenzminimum, schlechte Lebensbedingungen, Rückkehrgefährdung, Kleinkinder, Kinder,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, AufenthG § 60 Abs. 7, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 2,
Auszüge:

[...]

4.3. Angesichts dessen geht das Gericht bei den Klägern zu 2) und 4) und der Klägerin zu 5) davon aus, dass sie im Fall der Rückkehr in die Demokratische Republik Kongo derzeit keine Chancen hätten, dort menschenwürdig überleben zu können. Sie sind als 7 bzw. 3 bzw. 1 1/2 Jahre alte Kinder nicht in der Lage, für ihr Überleben selbst sorgen zu können, sondern abhängig von den Möglichkeiten ihrer Eltern, der Klägerin zu 1) und des Klägers zu 3), im Fall der Rückkehr ihr Überleben garantieren zu können. Dies erscheint dem Gericht angesichts der oben dargestellten sozioökonomischen Lage in der Demokratischen Republik Kongo nicht gesichert. Denn das Gericht sieht keine realistische Chance dafür, dass die Eltern der Kläger zu 2) und 4) und der Klägerin zu 5) durch eigenen Tätigkeit das Überleben ihrer Kinder sichern könnten. Es erscheint dem Gericht auch unrealistisch, dass in der Demokratischen Republik Kongo lebende weitere Familienangehörige in der Lage sein könnten, noch fünf weitere Personen mit durchfüttern zu können, wenn diese zurückkehren müssten.

Angesichts dessen kann das Gericht nicht mit der Wahrscheinlichkeit, die für den Flüchtlingsschutz gefordert werden muss, davon ausgehen, dass das Überleben der Kläger zu 2) und 4) und der Klägerin zu 5) im Fall der Rückkehr in die Demokratische Republik Kongo auch nur notdürftig gesichert ist.

Dies gilt insbesondere im Hinblick auf gesundheitliche Gefährdungen angesichts des desaströsen Zustandes des Gesundheitswesens in der Demokratischen Republik Kongo. Richtig ist, wie das auch das Bundesamt in seinem Bescheid vom 5. Februar 2007 im Hinblick auf die Klägerin zu 5) ausführt, dass die minderjährigen Kläger zu 2) und 4) und die Klägerin zu 5) wahrscheinlich aufgrund der Möglichkeiten in Deutschland einen besseren Allgemeinzustand aufweisen als ihre Altersgenossen in der Demokratischen Republik Kongo. Dieser gute Allgemeinzustand hält aber nur so lange an, wie er aufrecht erhalten werden kann. Im Fall der Rückkehr der Kläger zu 2) und 4) und der Klägerin zu 5) sieht das Gericht gerade nicht, dass die Eltern die Möglichkeiten hätten, die Kläger zu 2) und 4) und die Klägerin zu 5) so weiter zu ernähren und zu betreuen, wie dies in Deutschland möglich ist. Dazu kommt, dass die Kläger zu 2) und 4) und die Klägerin zu 5) im Fall der Rückkehr Krankheiten ausgesetzt sein werden oder zumindest können, die es in Deutschland nicht gibt, sie also auch keine Resistenzen entwickelt haben und angesichts der oben geschilderten desaströsen Lage auf dem medizinischen Versorgungssektor dann nur Hilfe erhältlich wäre, wenn notwendige Gelder zur Verfügung stünden. Dass dies der Fall ist, sieht das Gericht, wie oben ausgeführt, nicht. Es nun einmal eine traurige Wahrheit (vgl. z.B. den oben erwähnten Bericht von "Ärzte ohne Grenzen"), dass in der Demokratischen Republik Kongo Menschen an banalsten Krankheiten sterben, weil die für sie notwendige medizinische Versorgung nicht verfügbar ist, da es sie entweder gar nicht gibt oder weil sich derjenige, der ihrer bedarf, sie sich nicht leisten kann. Lässt sich in Deutschland manche Krankheit mit einem einfachen Gang in die nächste Apotheke bewältigen, kann sie in Ländern wie der Demokratischen Republik Kongo tödlich ausgehen. Man kann eben nicht, wie dies das Bundesamt in seinen Bescheiden tut, davon ausgehen, dass sich schon irgend jemand um die Kläger zu 2) und 4) und die Klägerin zu 5) kümmern würde, wenn sie ernsthaft erkrankten. Dass dies nicht stimmt, ergibt sich auch aus der oben genannten Informationsbroschüre des Bundesamtes, dort 2. "Allgemeine Situation der Kinder", wo es heißt: "Eine landesweite Gesundheitsstudie aus dem Jahr 2004 des International Rescue- Komitee hat ergeben, dass die durchschnittliche Sterblichkeitsrate in der Demokratischen Republik Kongo ein Drittel höher liegt als im Übrigen Sub-Sahara-Gebiet." Die meisten Todesfälle wären vermeidbar und beruhten auf behandelbaren Krankheiten. Hauptursächlich sei Malaria, Diarrhöe, Infektionskrankheiten und Unterernährung. Von diesen Leiden sind vor allem Kinder unter 5 Jahren betroffen. Im Jahre 2003 starben 205 von 1000 lebend geborenen Kindern. Wenn das Bundesamt also selbst zumindest über alle Informationen verfügt, die eine halbwegs realistische Einschätzung der Lage für Kinder in der Demokratischen Republik Kongo ermöglicht, fragt sich das Gericht schon, warum in seinem Bescheiden diesbezüglich vom Gegenteil ausgegangen wird, dass nämlich alles halb so schlimm ist. Hält man sich dann das, was das Bundesamt selbst als Information verbreitet, kann das für das Gericht nur zu einer rechtlichen Konsequenz führen, nämlich den Klägern zu 2) und 4) und der Klägerin zu 5) Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG zu gewähren.

Folglich besteht für sie im Fall der Rückkehr eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben, so dass ihnen zur Vermeidung des Eintritts dieser Gefahren Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren ist.

Bei der Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG auf Minderjährige wie die Kläger zu 2) und 4) und der Klägerin zu 5) sind überdies noch folgende rechtliche Gesichtspunkte maßgebend und ausschlaggebend: Im vorliegenden Fall geht es um Abschiebungsschutz für kleine Kinder, die, wenn sie in die Demokratische Republik Kongo zurückkehren müssten, in eine Elendsexistenz hinein gerieten. Nach ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts genießen Kinder und Minderjährige - und dies gilt auch für Flüchtlingskinder - einen besonderen grundgesetzlichen Schutz und hat der auf dem Grundgesetz beruhende Staat ihnen gegenüber Schutzpflichten (vgl. z.B. Beschluss des BVerfG vom 07.02.1982, BVerfGE 60, Seite 79 f., Stichwort: Wächteramt des Staates nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG). Hinzuweisen ist weiterhin auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seit seinem Beschluss vom 31. August 1999 (NVwZ 2000, Seite 59 f.) über das Zurückstehen einwanderungspolitischer Belange hinter den Belangen eines schutzwürdigen Kindes (vgl. zuletzt Beschluss des BVerfG vom 08.12.2005, InfAuslG 2006, Seite 222 f. m.w.N.). Zwar kann man diese Rechtsprechung nicht eins zu eins auf Fälle wie den vorliegenden anwenden. Dennoch werden mit dieser Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Leitlinien aufgestellt für die grundgesetzlich gebotene Berücksichtigung der Belange von Kindern und Minderjährigen, da sie alleine besonders schutzlos sind und deren Menschenwürde wegen ihrer Schutzlosigkeit besondere staatliche Fürsorge erforderlich macht. Diese besonderen Schutzpflichten des Staates müssen auch dann einsetzen, wenn es sich, wie im vorliegenden Fall, um Flüchtlingsschutz für kleine Kinder handelt.

Diese Schutzpflichten würden hintangestellt werden bzw. ihr Gegenteil verkehrt werden, wenn die Kläger zu 2) und 4) und die Klägerin zu 5) ausreisen müssten, da ihr Überleben, wie oben ausgeführt, nicht mit der für den Flüchtlingsschutz erforderlichen Wahrscheinlichkeit in der Demokratischen Republik Kongo gesichert ist und darüber hinaus zu befürchten ist, dass sie in ihrem Heranwachsen zu Erwachsenen irreparable Schäden erleiden müssten, vor deren Eintreten sie zu schützen sind und zu deren Vermeidung es in der Demokratischen Republik Kongo keine Vorkehrungen gibt. Es ist allgemein bekannt und muss daher nicht weiter ausgeführt werden, dass schlechte Lebensbedingungen für kleine Kinder, wie sie in der Demokratischen Republik Kongo herrschen, zu körperlichen und seelisch-geistigen Schäden führen, die später nicht mehr reparabel sind. Nimmt man die oben dargestellten Schutzpflichten Deutschlands für Flüchtlingskinder ernst, darf man die Kläger zu 2) und 4) und die Klägerin zu 5) nicht des Landes verweisen.

Auch wenn es nicht zu den Rechtsausführungen im engeren Sinne gehört, möchte das Gericht noch folgendes hinweisen: Es erscheint dem Gericht schizophren und letztendlich auch nicht hinnehmbar, wenn zwar einerseits jedes Jahr in deutschen Landen von zahlreichen Organisationen Sammlungen für Kinder in Bürgerkriegsländern oder in armen Ländern der Dritten Welt veranstaltet werden, um deren Not dort zu lindern, andererseits die gleiche Gesellschaft, die sich stets ihrer auf dem Grundgesetz beruhenden Rechts- und Werteordnung rühmt, anscheinend nichts dabei findet, dass Kinder aus solchen Ländern, die sich schon im Inland befinden, in ihre Heimat abschieben zu lassen und dort einem ungewissen Schicksal auszuliefern.

Obwohl die Kläger zu 2) und 4) und die Klägerin zu 5) als kleine Kinder im Fall der Rückkehr in die Demokratische Republik Kongo ein ähnliches Schicksal haben würden wie viele Kinder dort, kommt eine Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nicht in Betracht, diesbezüglich verweist das Gericht auf seine Ausführungen im seinem Urteil vom 21. März 2006 im Verfahren M 21 K 03.50198; diese Rechtsauffassung wird aufrechterhalten.

Im Hinblick auf die Rückkehrgefährdung der Kläger zu 2) und 4) und der Klägerin zu 5) ist, unter Bezugnahme auf die Ausführungen des Bundesamtes in seinem Bescheid vom 5. Februar 2007 (Klägerin zu 5)) noch folgendes anzumerken: Das Bundesamt verwertet die gleichen Quellen (siehe seine oben genannte Informationsbroschüre) wie das Gericht, kommt aber zum entgegengesetzten Ergebnis, dass eine Schutzgewährung nach § 60 Abs. 7 AufenthG nicht greift, weil hinreichende Unterstützung möglich erscheint. Dies ist jedoch nach Auffassung des Gerichts der falsche Ansatz, weil es das Risiko, ob die Kläger zu 2) und 4) und die Klägerin zu 5) die für sie lebenswichtige Unterstützung in allen Lebenslagen erhalten können, auf sie abwälzt unter dem Motto: "es wird schon nichts passieren". Angesichts der desolaten Lage in der Demokratischen Republik Kongo kann weder das Gericht noch das Bundesamt mit Sicherheit voraussagen, ob die Kläger zu 2) und 4) und die Klägerin zu 5) im Fall der Rückkehr menschenwürdig überleben können oder, ob genau das Gegenteil eintrifft und sie unter Umständen bereits an banalen Krankheiten sterben, weil niemand für sie die notwendigen finanziellen Mittel für die medizinische Versorgung bereitstellen kann. Weder die eine noch die andere Schlussfolgerung lässt sich zu 100 % feststellen. Sei dieser Ausgangslage stellt sich dann die Frage, wer das "Restrisiko" der Unaufklärbarkeit zu tragen hat. Das Gericht vertritt in jahrelanger ständiger Rechtsprechung die Auffassung (vgl. zuletzt sein Urteil vom 30.03.2007 in den Verfahren M 21 K 06.50797 und M 21 K 06.50903), dass bei der Prüfung der Gewährung von Flüchtlingsschutz im weitesten Sinne Zweifel und Unaufklärbares bei der Frage der Beurteilung der Verhältnisse im Herkunftsland bzw. der Unaufklärbarkeit, was mit einem rückkehrenden Flüchtling geschehen könnte, letztendlich zu Lasten der Beklagten zu gehen hat, weil nur diese Lösung der auf dem Grundgesetz beruhenden Rechts- und Werteordnung entspricht und jede andere Risikoverteilung einen Verstoß gegen die in Art. 1 Abs. 1 GG normierte Menschenwürde ist, weil sie einen Flüchtling dann nämlich zum Objekt staatlichen Handelns machen würde.

Daher ist die Beklagte, unter Aufhebung der jeweiligen Ziffer 3 der gegenüber den Klägern zu 2) und 4) und der Klägerin zu 5) ergangenen Bescheide zu verpflichten, für diese das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG festzustellen. [...]