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VG Regensburg

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Zitieren als:
VG Regensburg, Urteil vom 30.10.2009 - RO 5 K 08.30009 - asyl.net: M16896
https://www.asyl.net/rsdb/M16896
Leitsatz:

Kein Widerruf der Flüchtlingsanerkennungen. Die Taliban würden die Familie als "gottlos" verfolgen, weil die Klägerin eine "westlich geprägte" Frau ist und sich bereits in Afghanistan für die Rechte der Frau eingesetzt hatte, während der Kläger sich während seiner Studienzeit mit dem damals herrschenden kommunistischen Regime arrangiert hatte.

Schlagwörter: Widerruf, Widerrufsverfahren, Afghanistan, Flüchtlingsanerkennung, Taliban, westlicher Lebensstil, nichtstaatliche Verfolgung, Kommunisten, Hezbe-Wahdad,
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Die Kläger wenden sich gegen einen Bescheid, mit dem die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie die Feststellung, dass Abschiebungshindernisse nach den §§ 53 Abs. 4 und 6 Satz 1 des Ausländergesetzes (AusIG) bezüglich Afghanistan bestehen, widerrufen wurden. [...]

Nach den dem Gericht vorliegenden und in das Verfahren eingeführten Auskünften kann nicht mit der erforderlichen hinreichenden Sicherheit ausgeschlossen werden, dass den Klägern im Falle ihrer Rückkehr nach Afghanistan eine Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG durch die Taliban als nichtstaatliche Akteure droht. Weder der afghanische Staat noch anderer Organisationen sind in der Lage, Schutz vor einer Verfolgung durch die wieder zunehmend an Einfluss gewinnenden Taliban zu bieten, weshalb den Klägern weiterhin ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zusteht. [...]

Die Situation in Afghanistan stellt sich derzeit wie folgt dar:

Die afghanische Geschichte der letzten Jahrzehnte ist geprägt von der Besatzung durch die Sowjetunion, dem Bürgerkrieg zwischen den Mudschaheddin-Gruppen und der Gewaltherrschaft der Taliban. Bis zu ihrem Sturz Ende des Jahres 2001 ging von den Taliban, dem Verfolger der Kläger, eine staatsähnliche Gewalt aus (vgl. den Gerichtsbescheid des VG Regensburg vom 12.10.2001 im Asylverfahren der Kläger, Az.: RN 5 K 00.30782).

Auf der Grundlage des sogenannten Petersberger Abkommens von 2001 wurden dann in den folgenden Jahren verschiedene Schritte unternommen. Zunächst wurde eine Sonderratsversammlung unter Einsetzung einer Übergangsregierung einberufen, die am 23.12.2004 ihre Arbeit aufnahm. Ferner wurden Präsidentschaftswahlen durchgeführt, eine Verfassung verabschiedet sowie Parlamentswahlen abgehalten (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 17.3.2007). Im Juni 2002 fand die sogenannten Loja Jirga (große (Stammes-)Versammlung) statt, auf der Präsident Karsai im Amt bestätigt und ein Verfassungsentwurf in Auftrag gegeben wurde. Nach dem relativ ruhigen Verlauf der Stammesversammlung schien zunächst eine positive Entwicklung in Afghanistan absehbar zu sein, was sich jedoch im Verlauf der folgenden Jahre nicht bestätigt hat (vgl. Gutachten von Dr. Danesch vom 23.1.2006 zur Lage der Hindu- und Sikh-Minderheit im heutigen Afghanistan). [...]

Zusammenfassend stellt das Auswärtige Amt im Lagebericht vom 3.2.2009 fest, dass Verwaltung und Justiz in Afghanistan weitgehend nicht funktionieren. Rechtsstaatliche Verfahrensprinzipien würden häufig nicht eingehalten. Nach wie vor beherrschen lokale Machthaber, welche die Regierung Karsai bekämpfen, verschiedene Regionen. Sie wahren ihren Macht- und Einflussbereich vor Ort immer wieder gewaltsam gegenüber rivalisierenden Gruppen.

Insgesamt zeigt sich somit, dass der formal bestehende Machtanspruch des Staates in der Realität nicht existiert. Hinzu kommt, dass in letzter Zeit der Machteinfluss der Taliban ständig wieder zugenommen hat. [...]

Im Dezember 2008 waren die Taliban in rund 72 % des afghanischen Territoriums permanent präsent; ein Jahr zuvor waren es erst 54 % des Landes. Die Taliban diktieren nun die Bedingungen in Afghanistan, und zwar politisch und militärisch. [...]

Nach alledem kann nicht mit hinreichender Sicherheit davon ausgegangen werden, dass die Kläger im Falle ihrer Rückkehr nach Afghanistan von einer politischen Verfolgung durch die Taliban verschont bleiben würden. Das Gericht hält es vielmehr für wahrscheinlich, dass die Kläger wegen ihrer Vorgeschichte und ihres westlich geprägten - aus Sicht der Taliban gottlosen - Lebensstils erheblichen Repressalien ausgesetzt wären, die als politische Verfolgung zu qualifizieren wären.

Der Kläger zu 1) sowie die Klägerin zu 2) haben in der mündlichen Verhandlung glaubhaft und ohne Widerspruch zu ihrem Vorbringen im Asylverfahren angegeben, dass sie Afghanistan im Jahr 1999 aus Furcht vor Verfolgung vor den Taliban verlassen haben. Der Kläger zu 1) hat mehrere Jahre in Russland studiert, was ihn zumindest als Sympathisanten des während seiner Studienzeit herrschenden kommunistischen Regimes ausweist. Er hat glaubhaft und nachvollziehbar angegeben, dass damals alle Personen, die nach Russland reisen durften, auf ihre "Regime-Treue" hin überprüft wurden. Diese Überprüfungen wurden nach den glaubhaften Angaben des Klägers zu 1) auch aktenkundig gemacht. Aufgrund des wachsenden Einflusses der Taliban hält es das Gericht nicht für unwahrscheinlich, dass die Vergangenheit des Klägers im Falle seiner Rückkehr bekannt werden würde und er allein deshalb mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen hätte. So führt auch das Auswärtige Amt im Lagebericht vom 3.2.2009 aus, dass ehemalige Kommunisten sich in Kabul dann gefahrlos aufhalten könnten, wenn sie über schützende Netzwerke und Kontakte, auch zu Regierungsvertretern, verfügen. Über derartige Kontakte verfügt der Kläger zu 1) jedoch nicht, was im Umkehrschluss bedeutet, dass der Aufenthalt in Afghanistan für ihn eine Gefahr darstellen würde.

Auch die Klägerin zu 2) hätte aus Sicht des Gerichts mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit politisch motivierten Verfolgungsmaßnahmen seitens der Taliban zu rechnen. In der mündlichen Verhandlung präsentierte sich die Klägerin zu 2) als gebildete, aufgeschlossene und "westlich geprägte" Frau. Sie spricht gut Deutsch und gab glaubhaft an, sich bereits vor ihrer Ausreise aus Afghanistan in der politischen Organisation "Hezbe-Wahdad" engagiert zu haben. Sie sei für die Bildungsmöglichkeiten von Frauen eingetreten, habe selbst Frauen unterrichtet und habe sich für Frauenrechte stark gemacht. [...]

Hinzu kommt, dass die gesamte Familie einen westlichen Lebensstil pflegt, was bereits rein äußerlich erkennbar ist, und nicht den in Afghanistan vorherrschenden fundamentalistischen islamischen Lebensstil. Im Falle ihrer Rückkehr nach Afghanistan würden sie dort unschwer als längere Zeit im Ausland lebende Afghanen erkannt werden. Die Kläger zu 3) bis 5) sprechen zudem nicht einmal persisch. Von daher könnten die Kläger sich nicht in Afghanistan bewegen, ohne als "verwestlicht" aufzufallen. Auch insoweit ist es daher wahrscheinlich, dass die Kläger von den Taliban als "gottlos" eingestuft und verfolgt werden würden. [...]