VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 29.07.2009 - 10 B 08.2447 - asyl.net: M16908
https://www.asyl.net/rsdb/M16908
Leitsatz:

Jüdische Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion genießen nicht schon aufgrund der Übereinkunft des Bundeskanzlers und der Ministerpräsidenten vom 9. Januar 1991 die Rechtsstellung von Flüchtlingen entsprechend § 1 Abs. 1 HumHAG (a.A. BayVGH – 19. Senat – vom 7. August 2008 ZAR 2008, 403). Sie können sich daher nicht auf den besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 AufenthG berufen.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Ausweisung, jüdischer Kontingentflüchtling, Flüchtlingseigenschaft, Juden, jüdische Emigranten, Flüchtlingsstatus, Sowjetunion, ehemalige Sowjetunion, UdSSR, Kontingentflüchtlingsgesetz
Normen: HumHAG § 1 Abs. 1, AufenthG § 53 Nr. 1, AufenthG § 56Abs. 1 S. 1 Nr. 5, AufenthG § 23 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Die Berufung, über die der Senat im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 125 Abs. 1, § 101 Abs. 2 VwGO), bleibt im Übrigen ohne Erfolg, weil die Ausweisung des Klägers rechtmäßig ist.

Der Kläger hat den Ausweisungstatbestand des § 53 Nr. 1 Alt. 2 AufenthG erfüllt, da er mit Urteil des Amtsgerichts Augsburg vom 29. November 2004 und mit Urteil des Amtsgerichts Regensburg vom 10. August 2006 und damit innerhalb von fünf Jahren zu einer Freiheitsstrafe von zusammen mehr als drei Jahren verurteilt wurde. Er ist daher zwingend auszuweisen. Besonderer Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 AufenthG, der die Ausweisung zu einer Regelausweisung herabstufen würde, steht ihm nicht zu. Weder hat dem Kläger das allein dafür zuständige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt noch genießt er die Rechtsstellung als ausländischer Flüchtling nach § 1 Abs. 1 des Gesetzes über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge (Kontingentflüchtlingsgesetz - HumHAG). Die den jüdischen Einwanderern aus dem Gebiet der früheren Sowjetunion in entsprechender Anwendung des Kontingentflüchtlingsgesetzes ermöglichte Einwanderung und die ihnen zugebilligten sozialen Vergünstigungen genügen für die Anwendung des § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 AufenthG nicht.

Die Rechtsstellung der sog. Kontingentflüchtlinge regelt nach der Aufhebung des Kontingentflüchtlingsgesetzes durch Art. 15 Abs. 3 Nr. 3 des Zuwanderungsgesetzes (vom 30.7.2004 BGBl I S. 1950) nunmehr § 23 Abs. 2 AufenthG, doch gilt das Kontingentflüchtlingsgesetz nach § 103 AufenthG für die dort genannten Personen weiter. Die Übergangsvorschrift begründet allerdings keinen Flüchtlingsstatus, sondern setzt ihn voraus.

Nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK - vom 28. Juli 1951 BGBl. II 1953, 559) entsteht der Flüchtlingsstatus kraft Gesetzes mit der Einreise ins Bundesgebiet und setzt tatbestandlich die Aufnahme und die Flüchtlingseigenschaft voraus (vgl. BVerwG vom 17.2.1992 NVwZ 1993, 187 und vom 27.2.1996 InfAuslR 1996, 322). Der Kläger hat zwar Aufnahme im Bundesgebiet gefunden, er ist aber nicht als Flüchtling eingereist, so dass er keinen Flüchtlingsstatus im Bundesgebiet genießt.

§ 1 Abs. 1 HumHAG konnte - soweit es um den Status als Flüchtling geht - nach überwiegender Meinung auf jüdische Emigranten aus dem Gebiet der früheren Sowjetunion, die gemäß dem Ergebnis der Besprechung des Bundeskanzlers mit den Ministerpräsidenten vom 9. Januar 1991 ins Bundesgebiet aufgenommen wurden, auch nicht entsprechend angewandt werden (vgl. BayVGH vom 20.12.2004 - iuris; OVG MV vom 15.9.2004 LKV 2005, 510; OVG Berlin vom 5.2.2001 DVBl 2001, 574 und vom 15.11.2002 EzAR 018 Nr. 2; Funke-Kaiser in GK, Stand Juni 2007, RdNr. 7 zu § 23 AufenthG; a.A. BayVGH – 19. Senat - vom 7.8.2008 ZAR 2008, 403; VG Karlsruhe vom 19.12.2005 AuAS 2006, 168). Es fehlte bereits an der für eine entsprechende Anwendung des Gesetzes erforderlichen Regelungslücke, weil § 33 AuslG die Übernahme von Ausländern aus humanitären Gründen oder politischen Interessen erlaubte. Nach dem Kodifikationsprinzip kann daher auf einen Sachverhalt, der die Tatbestandsvoraussetzungen nicht erfüllt, das Gesetz nicht angewandt werden.

Aus diesem Grunde ist die Übereinkunft des Bundeskanzlers und der Ministerpräsidenten als politische Entscheidung anzusehen, mit der lediglich eine einheitliche administrative Vorgehensweise für die Einreise jüdischer Emigranten vereinbart wurde (vgl. OVG MV vom 15.9.2004 und insoweit auch BayVGH vom 7.8.2008 jeweils a.a.O.), und hatte nicht zum Inhalt, den jüdischen Emigranten unmittelbar oder mittelbar einen Flüchtlingsstatus zuzugestehen. Die in § 1 Abs. 1 HumHAG vorgesehene Zuerkennung der Rechtsstellung als Flüchtling war im Hinblick auf die Gewährung eines Daueraufenthaltsrechts und die sich aus der Genfer Flüchtlingskonvention ergebenden Rechtsfolgen für die jüdischen Emigranten weder erforderlich noch angemessen (vgl. dazu BT-Drucks. 15/ 420 S. 77f zur Nachfolgeregelung des § 23 Abs. 2 AufenthG). Denn ein Verfolgungsschicksal von jüdischen Emigranten in ihrem Herkunftsland spielte bei der Übereinkunft keine maßgebliche Rolle. Die Aufnahme der betreffenden Personen aufgrund von Einzelfallentscheidungen sollte vielmehr – was auch in der Vereinbarung der Regierungschefs eindeutig zum Ausdruck kam - nach der Absprache des Bundeskanzlers mit dem Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland der Erhaltung der Lebensfähigkeit jüdischer Gemeinden in Deutschland, der Familienzusammenführung und der Vermeidung von Härtefällen dienen und beinhaltete keine Aussage über eine aktuelle Verfolgungssituation der Zuwanderer in ihrem Herkunftsland.

Infolge der Übereinkunft wurde aufgrund des Grundsatzerlasses des Auswärtigen Amtes vom 25. März 1997 den betroffenen Personen eine Aufnahmezusage erteilt. Sie konnten mit einem Sichtvermerk einreisen und nach den Vorschriften des Ausländerrechts von den zuständigen Ausländerbehörden einen Titel für einen Daueraufenthalt erhalten. Ferner waren sie berechtigt, in entsprechender Anwendung des Kontingentflüchtlingsgesetzes in einem vereinfachten Verfahren bestimmte soziale Leistungen in Anspruch zu nehmen. Damit war die Übereinkunft rechtlich umgesetzt (vgl. OVG Berlin vom 15.11.2002 a.a.O.). Weder in Einzelakten noch in der Gesamtheit der Maßnahmen der zuständigen Stellen des Bundes und der Länder wurde den jüdischen Emigranten aus der früheren Sowjetunion ein Flüchtlingsstatus zuerkannt noch konnte ein solcher entstehen. Die jüdischen Emigranten erhielten deshalb nach der im angefochtenen Bescheid zitierten Mitteilung des Bundesministers des Innern vom 10. August 1993 und dem Schreiben des Bayerischen Staatsministeriums des Innern vom 13.3.1997 auch keine Reiseausweise nach der Genfer Flüchtlingskonvention (vgl. VG Augsburg vom 18.9.2001 Au 1 K 01.451 - Juris). Die jüdischen Emigranten aus dem Gebiet der früheren Sowjetunion wurden damit in verschiedener Hinsicht wie Flüchtlinge, aber eben nicht als Flüchtlinge behandelt.

Ein anderes Ergebnis lässt sich auch nicht aus den Übergangsvorschriften der §§ 101, 102 und 103 AufenthG ableiten. Die Übergangsvorschrift des § 101 Abs. 1 Satz 2 AufenthG regelt die Weitergeltung von humanitären Titeln, die nach § 1 Abs. 3 HumHAG oder in entsprechender Anwendung des Kontingentflüchtlingsgesetzes erteilt wurden, sagt aber nichts über einen Flüchtlingsstatus aus. Der übergeleitete Titel war ein humanitärer Titel für jüdische Emigranten ohne Flüchtlingseigenschaft nach § 33 AuslG (nunmehr § 23 Abs. 2 AufenthG), der keine Regelungen zum Flüchtlingsstatus trifft. Für § 102 Abs. 1 Satz 1 AufenthG gilt das Gleiche. § 103 AufenthG ist für den Kläger schon nach seinem Wortlaut nicht einschlägig. Im Gegensatz zu § 101 Abs. 1 Satz 2 AufenthG erwähnt diese Vorschrift Fälle der entsprechenden Anwendung des Kontingentflüchtlingsgesetzes nicht. Diese Vorschrift betrifft daher nur die Fortgeltung des Kontingentflüchtlingsgesetzes für Personen, die den Status in unmittelbarer Anwendung des Kontingentflüchtlingsgesetzes hatten.

Der Kläger hat schließlich auch nicht deshalb den besonderen Ausweisungsschutz des § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 AufenthG, weil die Beklagte ihm am 22. April 2003 eine Bescheinigung mit dem Inhalt erteilt hat, dass er den Status eines Flüchtlings hat. Unrichtig ist die Bescheinigung bereits insoweit, als nicht kenntlich gemacht ist, dass er den Status nur entsprechend dem Kontingentflüchtlingsgesetz haben soll (anders z. B. die Praxis in Mecklenburg-Vorpommern, dargestellt in OVG Berlin vom 15.11.2002 a.a.O.). Der Flüchtlingsstatus konnte dem Kläger nicht bescheinigt werden, weil er ihn – wie dargelegt - nicht hatte. Die Bescheinigung hat nur deklaratorische Wirkung und begründet nicht den Status als Flüchtling (OVG RhPf vom 26.11.1999 InfAuslR 2000, 466; Hochreuter, Zuwanderung als Wiedergutmachung? NVwZ 2000, 1376/1379). Deshalb kann der Kläger aus ihr keinen Vertrauensschutz ableiten.

Die Ausweisung ist im Hinblick auf die erhebliche Gefahr, die vom drogensüchtigen Kläger ausgeht, nicht unverhältnismäßig und verstößt auch nicht gegen Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK. [...]