VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 15.10.2009 - 19 CS 09.2194 - asyl.net: M16912
https://www.asyl.net/rsdb/M16912
Leitsatz:

Ein wenig mehr als sieben Monate währender Aufenthalt in der Türkei im Anschluss an die Ableistung des Wehrdienstes ist bei einem im Bundesgebiet geborenen und aufgewachsenen, sich im Zeitpunkt der Ausreise im Besitz einer Niederlassungserlaubnis befindenden ARB-Berechtigten nicht geeignet, die Kontinuität des Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland oder gar seine Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse in Frage zu stellen. Das Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 ist daher nicht aufgrund dieses Aufenthalts in der Türkei erloschen.

Schlagwörter: vorläufiger Rechtsschutz, Beschwerde, Sofortvollzug, Assoziationsberechtigte, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Türkischer Arbeitnehmer, Familienangehörige, Erlöschen, Aufenthaltsrecht, eigenständiges Aufenthaltsrecht, Militärdienst, Unionsbürger, Besserstellungsverbot, Sicherung des Lebensunterhalts, faktischer Inländer
Normen: VwGO § 80 Abs. 5, ARB 1/80 Art. 7 S. 1, ARB 1/80 Art. 14, AufenthG § 51 Abs. 1 Nr. 6, AufenthG § 51 Abs. 1 Nr. 7, AufenthG § 51 Abs. 3, ZP Art. 59, RL 2004/38/EG Art. 16 Abs. 3, RL 2004/38/EG Art. 16 Abs. 4, AufenthG § 4 Abs. 1, AufenthG § 4 Abs. 5
Auszüge:

[...]

1. Der als Sohn türkischer Assoziationsberechtigter am 7. November 1984 in der Bundesrepublik Deutschland geborene Antragsteller besaß – zwischen den Verfahrensbeteiligten unstreitig – im Zeitpunkt seiner Ausreise in die Türkei am 24. Februar 2007 zum Zwecke der Ableistung seines Wehrdienstes vom 26. Februar bis 26. Mai 2008 ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80. Dieses ist entgegen der Auffassung des Antragsgegners und des Verwaltungsgerichts nicht dadurch erloschen, dass der Antragsteller erst am 31. Dezember 2008 – also mehr als sieben Monate nach der Entlassung aus dem Wehrdienst – wieder in die Bundesrepublik Deutschland zurückgekehrt ist.

a) Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs erlischt ein Aufenthaltsrecht aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 nur dann, wenn es gemäß Art. 14 ARB 1/80 rechtmäßig aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit beschränkt wurde oder wenn der Rechtsinhaber das Gebiet des aufnehmenden EU-Mitgliedstaats für einen nicht unerheblichen Zeitraum und ohne berechtigte Gründe verlässt (vgl. EuGH, Urteil vom 16.3.2000, Rs C-329/97 – "Ergat" –, InfAuslR 2000, 217 [220]; Urteil vom 11.11.2004, Rs C-467/02 – "Cetinkaya" –, NVwZ 2005, 198 [199]; Urteil vom 7.7.2005 – Rs C-373/03 – "Aydinli" –, DVBl 2005, 1256 [1257]; Urteil vom 16.2.2006 – Rs C-502/04 – "Torun" –, NVwZ 2006, 556 [557]; Urteil vom 18.7.2007 – Rs C-325/05 – "Derin" –, InfAuslR 2007, 326 [328]; Urteil vom 25.9.2008 – Rs C-453/07 – "Er" –, InfAuslR 2008, 423; Urteil vom 18.12.2008 – Rs C-337/07 – "Altun" –, NVwZ 2009, 235 [238]).

Die Regelungen des deutschen Ausländerrechts sind für das eigenständige und Anwendungsvorrang genießende ARB-Aufenthaltsrecht ohne Belang, weswegen ein solches – entgegen den Erwägungen des Antragsgegners und des Verwaltungsgerichts – auch nicht durch (sinngemäße) Anwendung der Regeln zu § 51 Abs. 1 Nr. 6 und 7 bzw. § 51 Abs. 3 AufenthG erloschen sein kann (vgl. VGH BW, Beschluss vom 31.7.2007 – 11 S 723/07 –, InfAuslR 2007, 373). Vielmehr ist das Verständnis der in der Rechtsprechung des EuGH anerkannten Erlöschenstatbestände vom Ziel und Zweck des Art. 7 ARB 1/80 her zu bestimmen (vgl. BVerwG, Urteil vom 30.4.2009 – 1 C 6/08 –, juris RdNr. 27).

Für die aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 abgeleiteten Rechte gilt, dass sie sich nach ihrer Entstehung aus der Abhängigkeit von der beschäftigungsbezogenen Rechtsstellung des Stammberechtigten lösen und der allgemeinen Integration der Familienangehörigen in den Mitgliedstaat zu dienen bestimmt sind (vgl. EuGH, Urteil vom 7.7.2005 – Rs C-373/03 – "Aydinli" –, DVBl 2005, 1256; Urteil vom 18.7.2007 – Rs C-325/05 – "Derin" –, InfAuslR 2007, 326; BVerwG, Urteil vom 9.8.2007 – 1 C 47.06 –, BVerwGE 129, 162; Urteil vom 30.4.2009 – 1 C 6/08 –, juris RdNr. 27). Bei der richterrechtlichen Ausformung der assoziationsrechtlichen Stellung und ihrer Verlustgründe wirken die für Unionsbürger geltenden Regelungen als Orientierungsrahmen ein (vgl. BVerwG, Urteil vom 30.4.2009 – 1 C 6/08 –, juris RdNr. 27) und gewinnen damit entscheidungserhebliches Gewicht. Es darf deshalb nicht außer Betracht bleiben, dass bei einem Unionsbürger und seinen Familienangehörigen die Kontinuität des Aufenthalts weder durch vorübergehende Abwesenheiten bis zu insgesamt sechs Monaten im Jahr, noch durch längere Abwesenheitszeiten wegen der Erfüllung militärischer Pflichten, noch durch eine einzige Abwesenheit von höchstens 12 aufeinanderfolgenden Monaten aus wichtigen Gründen wie Schwangerschaft und Niederkunft, schwere Krankheit, Studium oder Berufsausbildung oder berufliche Entsendung in einen anderen Mitgliedstaat oder einen Drittstaat berührt wird (vgl. Art. 11 Abs. 2 und Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG vom 29.4.2004). Haben der Unionsbürger oder seine Familienangehörigen gar ein Recht auf Daueraufenthalt erworben, so führt die Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat nur dann zu einem Verlust, wenn sie – ohne Differenzierung nach den Gründen – zwei aufeinanderfolgende Jahre überschreitet (vgl. Art. 16 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG).

Auf türkische Staatsangehörige, die über den Rechtsstatus des ARB 1/80 verfügen, sind die Rechte von Unionsbürgern "soweit wie möglich" zu übertragen (vgl. EuGH, Urteil vom 10.2.2000 – Rs C-340/97 – "Nazli" –, NVwZ 2000, 1029 [1031] m.w.N.; BVerwG, Urteil vom 3.8.2004 – 1 C 29/02 –, NVwZ 2005, 224 [225]). Als allgemeine Richtschnur hat daher zu gelten, ob die Zeitspanne, die der Betroffene außerhalb des Bundesgebietes verbracht hat, geeignet ist, seine Integration in der Bundesrepublik Deutschland grundlegend in Frage zu stellen (vgl. BVerwG, Urteil vom 30.4.2009 – 1 C 6/08 –, juris RdNr. 28). Die Rechtsstellung der durch den Assoziationsratsbeschluss Begünstigten wird dabei allerdings im Hinblick auf den in Art. 16 Abs 4 der Richtlinie 2004/38/EG festgelegten zeitlichen Rahmen durch das Besserstellungsverbot des Art. 59 ZP nach oben hin begrenzt (vgl. BVerwG, Urteil vom 30.4.2009 – 1 C 6/08 – juris RdNr. 27). Diese Vorschrift bestimmt, dass der Türkei (hier: türkischen Arbeitnehmern und ihren Familienangehörigen) in den durch das Zusatzprotokoll erfassten Bereichen (hier: Freizügigkeit der Arbeitnehmer) keine günstigere Behandlung gewährt werden darf als diejenige, die sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft untereinander einräumen.

b) Gemessen an diesem Maßstab sind sowohl der Antragsgegner als auch das Verwaltungsgericht zu Unrecht von einem Erlöschen des Aufenthaltsrechts aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 ausgegangen.

aa) Das Verlassen des Bundesgebiets zum Zwecke der Ableistung des Wehrdienstes vom 26. Februar 2007 bis zum 26. Mai 2008 ist "mit berechtigtem Grund" erfolgt (vgl. auch Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG) und kann deshalb von vornherein nicht zu einem Erlöschen des Aufenthaltsrechts nach Art. 7 ARB 1/80 führen (so auch VGH BW, Beschluss vom 31.7.2007 – 11 S 723/07 –, InfAuslR 2007, 373 f.).

bb) Ebenso wenig ist der Umstand, dass der Antragsteller nach Ableistung seines Wehrdienstes noch siebeneinhalb Monate in der Türkei verbracht hat und erst am 31. Dezember 2008 in das Bundesgebiet zurückgekehrt ist, geeignet, die Kontinuität seines Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland in Frage zu stellen. Der Antragsteller ist im Bundesgebiet geboren und aufgewachsen. Sowohl seine Eltern als auch seine beiden Geschwister leben hier. Anders als das Aufenthaltsrecht aus Art. 6 ARB 1/80, ist dasjenige aus Art. 7 ARB 1/80 nicht von einer aktuellen Zugehörigkeit des Rechtsträgers zum inländischen Arbeitsmarkt abhängig (vgl. EuGH, Urteil vom 18.7.2007 – Rs C-325/05 – "Derin" –, InfAuslR 2007, 326 [328]; Urteil vom 25.9.2008 – Rs C-453/07 – "Er" –, InfAuslR 2008, 423 [424]; VGH BW, Beschluss vom 31.7.2007 – 11 S 723/07 –, InfAuslR 2007, 373 [374]). Im Zeitpunkt der Ausreise befand sich der Antragsteller im Besitz einer Niederlassungserlaubnis und hatte damit als im Bundesgebiet geborener und aufgewachsener "faktischer Inländer" die höchstmögliche Verfestigung seines Aufenthaltsstatus erreicht. Bei der Einordnung in die als Orientierungsrahmen heranzuziehende Richtlinie 2004/38/EG ist er deshalb einem Daueraufenthaltsberechtigten im Sinne von Art. 16 Abs. 4 gleichzustellen.

Fragen der Unterhaltssicherung spielen insoweit entgegen der Auffassung der Landesanwaltschaft gerade keine Rolle, da das Aufenthaltsrecht aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 nicht voraussetzt, dass der Familienangehörige eine Beschäftigung im Lohn- und Gehaltsverhältnis ausübt oder auch nur anstrebt (vgl. EuGH, Urteil vom 7.7.2005 – Rs C-373/03 – "Aydinli" –, DVBl 2005, 1256 [1257]), noch bei seinen Eltern lebt und von diesen unterhalten wird (vgl. Urteil vom 18.7.2007 – Rs C-325/05 – "Derin" –, InfAuslR 2007, 326 [328]) oder an staatlichen Berufsförderprogrammen zwar teilgenommen, diese jedoch nicht erfolgreich abgeschlossen hat (vgl. EuGH, Urteil vom 25.9.2008 – Rs C-453/07 – "Er" –, InfAuslR 2008, 423 [424]) und deshalb seinen Lebensunterhalt dauerhaft nur durch die Inanspruchnahme von Sozialleistungen wird sichern können (vgl. zu dieser Rechtsentwicklung instruktiv: Kurzidem, in: Kluth/Hund/Maaßen, Zuwanderungsrecht, 2008, § 7 RdNr. 31 f.).

Für die Gruppe der im Zeitpunkt der Ausreise mit einem Daueraufenthaltsrecht versehenen "faktischen Inländer" führt die Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat in Anwendung der oben entfalteten Grundsätze nur dann zu einem Verlust der Rechtsstellung aus Art. 7 ARB 1/80, wenn sie zwei aufeinanderfolgende Jahre überschreitet. Dies ist beim Antragsteller ersichtlich nicht der Fall. [...]

Der Beschwerde war daher stattzugeben.

2. Weitere Fragen, etwa im Hinblick auf ein Erlöschen der Niederlassungserlaubnis nach § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG, stellen sich im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gegen die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung nicht mehr. Nach § 4 Abs. 1 AufenthG ist für türkische Staatsangehörige ein Aufenthaltstitel entbehrlich, sofern – wie hier – ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 besteht; ein solcher hat lediglich deklaratorische Funktion und wird nur auf Antrag ausgestellt (§ 4 Abs. 5 AufenthG).

3. Hinsichtlich des Vorliegens der vom Antragsgegner und dem Verwaltungsgericht mit Blick auf das weitere Verfahren problematisierten Voraussetzungen des § 51 Abs. 2 Satz 1 AufenthG wird es entscheidend darauf ankommen, ob der Lebensunterhalt des Antragstellers zukünftig, also während seines weiteren Aufenthalts, gesichert ist. Ob er in der Vergangenheit, also im Zeitpunkt der Ausreise oder im Zeitpunkt des mutmaßlichen Erlöschens nach § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG (so OVG NRW, Beschluss vom 16.1.2002 – 18 B 732/01 –, NVwZ-RR 2002, 538 [539] zu § 44 AuslG 1990; BayVGH, Urteil vom 1.10.2008 – 10 BV 08.256 – juris – in einem obiter dictum), gesichert war, ist hingegen ohne Bedeutung (vgl. hierzu bereits Beschluss des Senats vom 12.11.2008 – 19 ZB 08.1943 u.a. –, InfAuslR 2009, 76 [78]). § 51 Abs. 2 Satz 1 AufenthG will die fiskalischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland schützen und bewertet deshalb die Nichtbelastung öffentlicher Kassen grundsätzlich höher als die nach langem Aufenthalt als Voraussetzung für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis erbrachten Integrationsleistungen (vgl. HK-AuslR/Möller, 2008, RdNr. 19 zu § 51 AufenthG). Dieser Zweck würde verfehlt, wenn entgegen der vom Senat vertretenen Auffassung hinsichtlich der zu treffenden Prognose auf den Zeitpunkt der Ausreise statt richtig auf den der Wiedereinreise abgestellt würde (vgl. hierzu auch HK-AuslR/Möller, 2008, RdNr. 19 zu § 51 AufenthG; Marx, Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht, 3. Aufl., 2007, § 7 RdNr. 54 u. 55). Umgekehrt würde jedoch auch der weitere Regelungszweck des § 51 Abs. 2 AufenthG, die einschneidenden Rechtsfolgen des § 51 Abs. 1 Nr. 6 und 7 AufenthG zu vermeiden, konterkariert, wenn bei Betroffenen, die bereits eine Niederlassungserlaubnis innehatten und deren Lebensunterhalt zukünftig gesichert erscheint, hinsichtlich des Prognosezeitpunkts gleichwohl auf den sich aus § 51 Abs. 1 Nr. 6 oder 7 AufenthG ergebenden Stichtag und nicht auf den Zeitpunkt der Wiedereinreise abgestellt würde. Eine sich zwischen dem Stichtag nach § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG und dem Zeitpunkt der Wiedereinreise ergebende Verbesserung der Lebensverhältnisse der Betroffenen bliebe ohne sachlich rechtfertigenden Grund unberücksichtigt. Gesetzessystematische Erwägungen stehen dem nicht entgegen (so aber offenbar BayVGH, Urteil vom 1.10.2008 – 10 BV 08.256 – juris). Während § 51 Abs. 1 AufenthG für sämtliche Aufenthaltstitel gilt, trifft §51 Abs. 2 AufenthG für Inhaber einer Niederlassungserlaubnis, die die in dieser Vorschrift enthaltenen weiteren Voraussetzungen erfüllen, eine bereichsspezifische Sonderregelung, die die Rechtsfolgen des § 51 Abs. 1 Nr. 6 und 7 AufenthG gerade vermeidet. Fragen eines "Wiederauflebens" oder einer "schwebenden Unwirksamkeit des Erlöschens des Aufenthaltstitels" stellen sich daher nicht. Für die Frage des Erlöschens der Niederlassungserlaubnis wird es deshalb entscheidend darauf ankommen, ob der Antragsteller seinen Lebensbedarf durch die am 16. Februar 2009 aufgenommene Erwerbstätigkeit decken kann. [...]