Anspruch auf längerfristige Duldung wegen Reiseunfähigkeit (PTBS, Suizidalität und drohende Retraumatisierung im Falle einer Rückkehr in die Türkei.
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Der Antrag, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung gem. § 123 VwGO zu verpflichten, den Antragsteller im Bundesland Bremen zu dulden, ist zulässig und begründet.
Entgegen dem Schreiben der Berichterstatterin vom 01.03.2010 ist nunmehr von einem Rechtsschutzinteresse des Antragstellers an dem Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung auszugehen. Der Antragsteller kann nicht mehr darauf verwiesen werden, dass er wegen Passlosigkeit ohnehin langfristig geduldet werde, denn die Antragsgegnerin hat durch die Erteilung einer Duldungsbescheinigung mit einer Gültigkeitsdauer von einmal nur einem Tag und einem weiteren Mal nur einer Woche deutlich gemacht, dass sie ein langfristiges Ausreisehindernis wegen Passlosigkeit nicht mehr annimmt. Das Rechtsschutzinteresse ist auch deshalb zu bejahen, weil die Antragsgegnerin die längerfristige Verlängerung der Duldung offenbar verweigert, um gegen den Antragsteller Druck dahingehend auszuüben, dass er an einer nach Auffassung der Antragsgegnerin behördlicherseits nicht angeordneten Vorsprache vor dem türkischen Generalkonsulat teilnimmt. Die Teilnahme an dieser Vorsprache dient letztlich dazu, das Ausreisehindernis der Passlosigkeit zu beseitigen. Es kann an dieser Stelle auch offen bleiben, ob eine - allenfalls mündliche -Vorführanordnung seitens der Antragsgegnerin erlassen wurde. Der Antragsteller benötigt Rechtsschutz insbesondere im Hinblick darauf, dass eine zwangsweise Durchsetzung der Vorsprache nur unter Einhaltung der Vorschriften §§ 11, 17 Abs. 1, 2 BremVwVG möglich ist. Die Ausnahmen für die Anwendung des unmittelbaren Zwanges ohne vorausgehenden Verwaltungsakt nach § 11 Abs. 2 Satz 1 BremVwVG liegen nicht vor. Darüber hinaus wäre die Antragsgegnerin an die Anwendung der gesetzlich vorgesehenen Zwangsmittel nach § 13 BremVwVG gebunden. Zwang bzw. Druck auszuüben durch Verweigerung einer Duldungsbescheinigung mit unangemessener Laufzeit sieht das Gesetz nicht vor. [...]
Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund hinreichend glaubhaft gemacht.
Der Anordnungsgrund resultiert daraus, dass die Antragsgegnerin sich weigert, dem Antragsteller entsprechende längerfristige Duldungsbescheinigungen auszustellen, sie die Abschiebung des Antragstellers durch den Versuch der Herbeiführung einer Vorsprache beim türkischen Generalkonsulat vorantreibt und sich mit dem Ausreisehindernis der Reiseunfähigkeit als Abschiebungshindernis bislang nicht auseinandergesetzt hat.
Es besteht auch ein Anordnungsanspruch. Gemäß § 60a Abs. 2 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und eine Aufenthaltserlaubnis nicht erteilt wird.
Vorliegend erscheint die Ausreise sowohl aus tatsächlichen als auch aus rechtlichen Gründen unmöglich.
Die Ausreise des Antragstellers ist aus tatsächlichen Gründen unmöglich, denn der Antragsteller ist bislang nicht im Besitz eines Passes oder Passersatzpapiers.
Darüber hinaus hat der Antragsteller auch das Bestehen eines rechtlichen Ausreisehindernisses glaubhaft gemacht. Der Antragsteller macht geltend, krankheitsbedingt nicht reisefähig zu sein. Reiseunfähig ist eine Person, wenn durch den Abschiebevorgang eine konkrete und objektiv feststellbare Leibes- oder Lebensgefährdung zu befürchten ist, so dass die Reise wegen der Schwere der Erkrankung oder einer drohenden bedeutsamen Verschlimmerung unzumutbar ist (VG Bremen, Beschl. v. 21.04.2006 - 4 V 1002/06 -). Das Bestehen einer derartigen, krankheitsbedingten Reiseunfähigkeit, nämlich einer konkreten Suizidgefahr im Falle seiner Rückkehr in die Türkei, hat der Antragsteller durch Vorlage aussagekräftiger Atteste glaubhaft gemacht. [...]
Das damit bestehende Risiko eines Suizids kann auch nicht durch Maßnahmen bei der Rückführung (Begleitung durch einen Arzt und Beamte der Bundespolizei, Inempfangnahme durch einen Arzt in Istanbul, Ermöglichung der Betreuung in einer Klinik unmittelbar nach der Einreise, Kostenübernahme) auf ein Minimum reduziert werden, wenn - wie vorliegend - die Suizidgefahr nicht ausschließlich mit der drohenden Abschiebung begründet wird, sondern Folge einer (dauerhaften) seelischen Erkrankung ist (siehe hierzu auch Beschluss der Kammer vom 07.01.2010 - 4 V 2017/09). Neben den gesundheitlichen Auswirkungen des Abschiebungsvorgangs selbst besteht eine Suizidalität wegen der bestehenden posttraumatischen Belastungsstörung und depressiven Störung. Charakteristisch als Ursache für die aus diesen Störungen herrührende Suizidalität ist gerade die - auch schon unmittelbar nach Rückkehr in die Türkei eintretende - Konfrontation des Antragstellers mit den heimatlichen Gegebenheiten. Aus diesem Grund kann der Antragsteller auch nicht aus ausländerrechtlicher Sicht auf eine Wohnsitznahme in der Westtürkei verwiesen werden. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass nur die Konfrontation mit Sicherheitskräften in seinem früheren Wohnort eine Retraumatisierung beim Antragsteller auslösen könnte, er indes den Sicherheitskräften in der Westtürkei unproblematisch gegenübertreten könnte. Insoweit kann eine Übertragung der Argumentation aus dem Urteil des Verwaltungsgerichts Bremen vom 22.06.2006 (Az.: 2 K 839/05.A) nicht vorgenommen werden. Denn die Asylkammer hatte nur die Frage zu beantworten, ob dem Antragsteller im Falle seiner Rückkehr im Heimatland eine asylrechtlich relevante Verfolgung droht. Vorliegend geht es indes um die Frage der drohenden Verschlechterung des Gesundheitszustandes durch die Rückführung des Antragstellers in sein Heimatland.
Das festgestellte Ausreisehindernis der Reiseunfähigkeit führt dazu, dass der Antragsteller langfristig zu dulden ist, denn nach amtsärztlicher Feststellung ist mit einem Wegfall des Ausreisehindernisses in absehbarer Zeit nicht zu rechnen. Die Erteilung kurzfristiger Duldungsbescheinigungen wird daher dem bestehenden Ausreisehindernis nicht gerecht. Der Antragsgegnerin bleibt es unbenommen, den Fortbestand des Ausreisehindernisses in etwa einem Jahr erneut zu überprüfen und zu diesem Zweck ein aktuelles fachärztliches Attest von dem Antragsteller anzufordern sowie gegebenenfalls erneut eine amtsärztliche Begutachtung des Antragstellers einzuleiten. Sollte das Ausreisehindernis der Reiseunfähigkeit nach dem Ergebnis der Gutachten nicht mehr fortbestehen, bleibt es der Antragsgegnerin unbenommen einen Antrag auf Abänderung des vorliegenden Beschlusses gem. § 80 Abs. 7 VwGO analog zu stellen. [...]