VG Freiburg

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Zitieren als:
VG Freiburg, Urteil vom 28.01.2010 - 4 K 817/08 - asyl.net: M16937
https://www.asyl.net/rsdb/M16937
Leitsatz:

Zur Befristung einer Ausweisung bei deutschem Kind, insbesondere zur Rechtskraftwirkung, zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt, zur örtlichen Zuständigkeit der Ausländerbehörde und zum Kindeswohl.

Schlagwörter: Befristung, Wirkung der Ausweisung, Rechtskraft, Urteil, Sperrwirkung, Änderung der Sach- und Rechtslage, örtliche Zuständigkeit, Ausländerbehörde, Ermessen, Schutz von Ehe und Familie, deutsches Kind, Kindeswohl, gemeinsames Sorgerecht, Ermessensreduzierung auf Null, Russische Föderation, Passbeschaffung
Normen: VwGO § 121, AufenthG § 11 Abs. 1 S. 3, AufenthG § 11 Abs. 1 S. 4, GG Art. 6, BGB § 1626 Abs. 3 S. 1, BGB § 1684 Abs. 1, BGB § 1626, EMRK Art. 8, AufenthG § 25 Abs. 5
Auszüge:

[...]

Der Kläger begehrt die Befristung der Wirkungen einer Ausweisung. [...]

Die Klage ist zulässig, insbesondere ist sie, nachdem die Klagefrist von einem Monat am 01.05.2008, einem Feiertag, ablief, am 02.05.2008 (noch) rechtzeitig erhoben worden. Einer (erneuten) Entscheidung der Beklagten über die Befristung der Wirkungen der Ausweisung des Klägers steht nicht die Rechtskraft des Urteils des Verwaltungsgerichts (VG) Dresden vom 11.04.2002 - 3 K 12/99 - entgegen, mit dem die Klage des Klägers gegen den Bescheid der Beigeladenen vom 24.09.1998, in dem diese Wirkungen (erstmals) auf zehn Jahre befristet wurden, abgewiesen wurde. Denn zum einen war die Beklagte nicht Beteiligte des damaligen Rechtsstreits, so dass das Urteil sie nicht nach § 121 VwGO zu binden vermag. Außerdem bedeutet die Klageabweisung im oben genannten Urteil des VG Dresden nur, dass die damalige Ermessensentscheidung der Beigeladenen rechtlich nicht zu beanstanden war. Sie bedeutet nicht, dass jede andere Entscheidung, insbesondere auch eine kürzere Befristung, rechtswidrig gewesen wäre. Abgesehen davon liegt im vorliegenden Fall gegenüber der ersten Befristungsentscheidung der Beigeladenen ohne Weiteres eine die Rechtskraftbindung überwindende veränderte Sach- und Rechtslage (im Sinne von § 51 Abs. 1 Nr. 1 LVwVfG) vor, weil der Kläger erst viele Jahre später eine neue, diesmal real praktizierte familiäre Lebensgemeinschaft mit seiner aktuellen Lebensgefährtin und ihrem gemeinsamen Kind eingegangen ist und seine Interessen an einem Verbleib im Bundesgebiet deshalb grundlegend neu zu bewerten sind. [...]

Rechtsgrundlage für das Begehren des Klägers ist § 11 Abs. 1 Satz 3 und 4 AufenthG. Danach werden die in § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG bezeichneten Wirkungen (Verbot des Aufenthalts im und der Einreise ins Bundesgebiet; Sperre für die Erteilung eines Aufenthaltstitels) auf Antrag in der Regel befristet. Die Frist beginnt mit der Ausreise.

1. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage in einem Rechtsstreit über die Dauer der Befristung der Wirkungen einer Ausweisung nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG ist, obwohl es sich dabei um eine (reine) Ermessensentscheidung der Behörde handelt, nach Maßgabe der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Verwaltungsgerichthofs Baden-Württemberg der Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. BVerwG, Urteile vom 23.10.2007, NVwZ 2008, 326, vom 04.09.2007, NVwZ 2008, 82, und vom 03.08.2004, NVwZ 2005, 220; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 23.07.2008, InfAuslR 2008, 429). Zwar betreffen die genannten Urteile allesamt freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und somit ausdrücklich nur die Befristungsentscheidung nach § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG, doch sind die maßgeblichen Erwägungen auch auf Entscheidungen nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG über die Befristung der Wirkungen von Ausweisungen gegenüber Drittstaatsangehörigen - wie dem Kläger - übertragbar, wenn durch höherrangiges Recht oder Vorschriften der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützte Belange des Ausländers eine Einzelfallwürdigung unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Falls gebieten (so insbes. die Begründung in VGH Bad.-Württ, Urteil vom 23.07.2008, a.a.O., RdNr. 32 in juris; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 23.10.2007, a.a.O.), wie das in Gestalt der Art. 6 GG und Art. 8 EMRK hier der Fall ist. Letztlich bedarf diese Frage hier jedoch keiner abschließenden Entscheidung. Denn selbst wenn der Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung, hier des Widerspruchsbescheids vom 27.03.2008, maßgeblich wäre für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage, würde das am Ergebnis nichts ändern, da der maßgebliche Grund für die fehlerhafte Ausübung des Befristungsermessens durch die Beklagte (und die Beigeladene) darin begründet ist, dass die Behörden die aktuell gelebte familiäre Lebensgemeinschaft des Klägers und das Recht seines Kindes auf Umgang mit seinem Vater sowie Erziehung und Fürsorge durch diesen nicht hinreichend berücksichtigt haben (siehe unten 3.). Das galt im Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung im Wesentlichen genauso wie heute.

2. Das Verpflichtungsbegehren des Klägers ist nicht etwa deshalb unbegründet, weil die Beklagte für die von ihm beantragte Befristungsentscheidung örtlich nicht zuständig (und damit nicht passivlegitimiert) wäre. Das Aufenthaltsgesetz (des Bundes) selbst enthält keine Regelung zur örtlichen Zuständigkeit der Ausländerbehörden, vielmehr bleibt das landesrechtlichen Regelungen überlassen (Zeitler, in: HTK-AuslR, Stand: 01.01.2010, AufenthG § 71, Stichwort "örtlich Zuständigkeit"; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: Juni 2009, Bd. 2, A 1, § 71 RdNrn. 4 ff. m.w.N.; siehe auch VGH Bad.-Württ., Urteil vom 25.08.2008, VBlBW 2009, 150 ; OVG NW, Beschluss vom 10.07.1997, NVwZ-RR 1998, 201; VG Göttingen, Urteil vom 26.04.2007 - 2 A 436/05 - m.w.N. ). Die Zuständigkeit einer baden-württembergischen Behörde kann sich (bei Fehlen einer bundesrechtlichen Regelung) allein aus einer baden-württembergischen Rechtsnorm ergeben. Auf Regelungen in dem für die Beigeladene geltenden sächsischen Landesrecht kann es insoweit nicht ankommen. Hier ergibt sich die örtliche Zuständigkeit der Beklagten aus § 3 Abs. 1 Satz 1, 1. Alt. der baden-württembergischen Aufenthalts- und Asyl-Zuständigkeitsverordnung - AAZuVO - vom 02.12.2008 ( GBl., S. 465 ) bzw. des gleichlautenden § 4 Abs. 1 Satz 1, 1. Alt. AAZuVO vom 11.01.2005, die gegenüber § 3 LVwVfG, der in Abs. 1 Nr. 3a im Übrigen eine vergleichbare Regelung enthält wie § 3 Abs. 1 Satz 1, 1. Alt. AAZuVO 2008, die speziellere Regelung darstellt. Danach ist örtlich zuständig die (untere) Ausländerbehörde, in deren Dienstbezirk sich der Ausländer gewöhnlich aufhält. Das ist die Beklagte, in deren Gebiet der Kläger zumindest seit Februar 2005 mit festem Wohnsitz lebt. Die spezielle Bestimmung in § 9 Abs. 1 AAZuVO 2008 bzw. § 12 Abs. 1 AAZuVO 2005, wonach über Befristungsanträge nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG die Ausländerbehörde entscheidet, die die Ausweisung verfügt hat, findet im vorliegenden Fall keine Anwendung, weil dies zur Begründung der Zuständigkeit der Beigeladenen und damit einer Ausländerbehörde außerhalb Baden-Württembergs führen würde. Zu einer solchen Regelung ist das baden-württembergische Landesrecht nicht befugt. Damit bleibt es bei der Grundsatzregelung in § 3 Abs. 1 Satz 1, 1. Alt. AAZuVO 2008 bzw. § 4 Abs. 1 Satz 1, 1. Alt. AAZuVO 2005. [...]

Gemessen daran ist die im angefochtenen Bescheid der Beklagten vom 17.08.2007 getroffene Befristungsentscheidung ermessensfehlerhaft. Zwar hat die Beklagte das ihr nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG eröffnete Befristungsermessen erkannt und mit der festgesetzten Frist berücksichtigt, dass die mit der Sperrwirkung der Ausweisung verfolgten Zwecke durch eine zeitlich begrenzte Fernhaltung des Klägers vom Bundesgebiet erreicht werden. Jedoch hat die Beklagte - und mit ihr die Beigeladene - die grundrechtlichen Schutzwirkungen für den Kläger und seine Familie aus Art. 6 GG mit dem ihnen zukommenden Gewicht verkannt und ihnen dementsprechend bei der Bemessung der Befristung nicht hinreichend Rechnung getragen. Der Kläger ist - unstreitig - Vater eines viereinhalb Jahre alten Sohnes, der als Kind einer deutschen Mutter (ebenfalls) die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Mit diesem Kind und dessen Mutter lebt der Kläger - auch das ist zwischen den Beteiligten unstreitig - seit dessen Geburt im Juni 2005 in einer familiären Lebensgemeinschaft, ohne dass er mit der Mutter seines Sohnes (förmlich) verheiratet ist. Er übt gemeinsam mit der Mutter des Kindes das Sorgerecht für das Kind aus und er leistet, wie er in der mündlichen Verhandlung noch einmal bekräftigt hat, ohne dass die Beklagte dem auch nur ansatzweise widersprochen hat, bis heute durch Pflege, Erziehung und Betreuung dieses Kindes einen maßgeblichen Beitrag für das Kindeswohl. [...]

Die in Rede stehende Versagung einer Aufenthaltserlaubnis hat die Beendigung des Aufenthalts des Beschwerdeführers im Bundesgebiet zur Folge, was ein familiäres Zusammenleben von Vater und Kind in Deutschland unmöglich macht, die persönlichen Begegnungsmöglichkeiten stark beschränkt und dem Beschwerdeführer die Teilhabe an Pflege und Erziehung seiner Tochter erheblich erschwert.

Zwar hat die angegriffene Entscheidung nicht verkannt, dass diese Belastungen grundsätzlich den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG berühren, jedoch fehlt es an einer angemessenen Berücksichtigung der konkreten Lebensumstände des Beschwerdeführers und seiner Tochter. Die Frage des Bestehens einer familiären (Lebens-)Gemeinschaft im Sinne des § 23 Abs. 1, 2. Halbsatz in Verbindung mit § 17 Abs. 1 AuslG wurde mit verfassungsrechtlich nicht tragfähigen Erwägungen verneint. [...]

Im Rahmen verfassungskonformer Sachverhaltswürdigung wird ferner angemessen zu berücksichtigen sein, dass im Falle einer Rückkehr des Beschwerdeführers in den Kosovo ein Abbruch des persönlichen Kontakts zu seinem Kind droht und auch dessen finanzielle Versorgung in Frage steht. Für die Beurteilung der Schutzwürdigkeit der familiären Gemeinschaft und der Zumutbarkeit einer (vorübergehenden) Trennung sowie der Möglichkeit, über Briefe, Telefonate und Besuche auch aus dem Ausland Kontakt zu halten, spielt schließlich das Alter des Kindes eine wesentliche Rolle (vgl. hierzu auch Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 31.08.1999 - 2 BvR 1523/99 -, InfAuslR 2000, 67 69>)."

Nach diesen Grundsätzen, die im vorliegenden Fall des Klägers, der dadurch geprägt ist, dass er - anders als in dem vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fall - das Sorgerecht für sein Kind ausübt, seit knapp fünf Jahre in einer Haushaltsgemeinschaft mit der Mutter und seinem Kind lebt und durch Erwerbstätigkeit, seit einiger Zeit durch Bezug von Versicherungsleistungen nach dem SGB III, zum Unterhalt der Familie beiträgt, besondere Beachtung beanspruchen, würde eine Trennung sowohl das Recht des Klägers auf Umgang mit seinem Kind als auch - vor allem - das Recht des Kindes auf Umgang mit seinem Vater verletzen. Wenn der Kläger der Ausweisung Folge leisten und aus dem Bundesgebiet ausreisen würde sowie vor Ablauf von fünf Jahren keine rechtmäßige Möglichkeit auf eine Rückkehr hätte, so würde dies, da seinem deutschen Kind und dessen ebenfalls deutscher Mutter eine dauerhafte Umsiedlung in das Heimatland des Klägers nicht zumutbar ist, eine Trennung von seinem Kind (und dessen Mutter) und, daraus folgend, schwerwiegende Folgen für die Vater-Kind-Beziehung und damit für das Wohl des Kindes bedeuten. Diesen Gesichtspunkt, insbesondere das (eigene) in den Schutzbereich von Art. 6 GG fallende Recht des Kindes auf ein Zusammenleben mit seinem Vater, haben die Beklagte und die Beigeladene bei der angefochtenen Befristungsentscheidung vom 17.08.2007 verkannt und insoweit ermessensfehlerhaft gehandelt. Mit diesem Recht des Kindes haben sich die Beklagte und die Beigeladene weder in den Gründen des angefochtenen Bescheids noch im Schreiben der Beigeladenen über die (beschränkte) Erteilung des Einvernehmens noch an anderer Stelle in der gebotenen Weise auseinandergesetzt. Die Ausführungen der Beklagten im angefochtenen Bescheid vom 17.08.2007, wonach der Kläger sich die möglichen Probleme, die sich aus der Trennung von seinem Kind ergeben, als Folge seiner Straftaten selbst zuzuschreiben habe, werden - so sehr diese Sicht angesichts der unvorstellbaren Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen Menschen, wie sie in den (vor allem) im Urteil des Landgerichts Freiburg vom 14.12.1995 abgeurteilten Straftaten zum Ausdruck kommt (siehe dazu mehr unter 4.), verständlich ist - der gebotenen Würdigung der Folgen einer Ausweisung des Klägers aus der Sicht des Wohls seines Kindes nicht gerecht. Es trifft zwar zu, dass der Kläger aufgrund seiner zahlreichen rechtskräftig abgeurteilten Straftaten im Wesentlichen selbst dafür verantwortlich ist, dass seine aufenthaltsrechtliche Rechtsstellung beeinträchtigt ist. Doch kann aus den kriminellen Neigungen, die der Kläger bei Begehung dieser Straftaten an den Tag gelegt hat, nicht geschlossen werden, das Wohl seines Kindes werde durch den Kontakt mit ihm eher beeinträchtigt als gefördert, wie das etwa der Fall sein könnte, wenn ein Vater seinem Kind oder seiner Mutter Gewalt antäte oder sein Vorbild schädliche Neigungen bei dem Kind fördern könnte, oder dass der durch Art. 6 GG vermittelte Schutz u.a. wegen aktuell drohender gravierender Verletzung von Rechtsgütern anderer hinter das Interesse der Allgemeinheit an einer langjährigen Entfernung des Klägers aus dem Bundesgebiet zurücktreten müsste. Vielmehr haben sich seit der Geburt seines viereinhalb Jahre alten Sohnes Straftaten mit dem kriminellen Gewicht und vor allem mit derart großer Gewaltbereitschaft wie früher nicht mehr wiederholt. Die Geburt seines Sohnes im Sommer 2005 und, damit einhergehend, das Eingehen der häuslichen Gemeinschaft mit seiner Lebensgefährtin haben insoweit offenkundig eine gewisse Wende im Leben des Klägers bewirkt mit der Folge, dass er nach allem, was der Kammer und der Beklagten bekannt ist, seine Rolle als verantwortungsbewusster Vater wahrnimmt und seine äußerste Gewaltbereitschaft zu beherrschen gelernt hat. Seine letzte mit Strafbefehl des Amtsgerichts Freiburg vom 24.10.2005 rechtskräftig abgeurteilte Straftat (Diebstahl einer geringwertigen Sache), die sich in der Art und vor allem in ihrem Gewicht deutlich von seinen früheren Straftaten unterscheidet, datiert vom August 2005. Soweit dem Kläger in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Freiburg vom 14.07.2009 die Begehung zahlreicher (44) Betrugsdelikte in neuerer Zeit zur Last gelegt wird, kann dies (noch) nicht zu einer (völlig) anderen Beurteilung führen, weil er diese Taten - zumindest im Hinblick auf den subjektiven Schuldvorwurf - bestreitet und auch im vorliegenden ausländerrechtlichen Verfahren so lange als "unschuldig" zu gelten hat, wie er wegen dieser Taten nicht rechtskräftig verurteilt ist. Da die Beklagte ihre Ermessensentscheidung auf diese neuerlichen Vorwürfe nicht - auch im Wege einer nachträglichen Ergänzung der Ermessensentscheidung in entsprechender Anwendung von § 114 Satz 2 VwGO (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 03.08.2004, a.a.O.) - gestützt hat, kommt es in diesem Verfahren auf eine Beweiserhebung hierzu sowie auf eine eigene Überzeugungsbildung nicht an. [...]

4. Die Ermessensbindungen der Beklagten gehen jedoch nicht soweit, dass der Kläger im Wege der Ermessensreduzierung auf Null einen Anspruch gegen die Beklagte auf Befristung seiner Ausweisung mit sofortiger Wirkung und ohne die Verpflichtung zur vorherigen Ausreise hat (vgl. zu einer solchen Möglichkeit in einem Ausnahmefall BVerwG, Urteil vom 04.09.2007, NVwZ 2008, 333 m.w.N.; vgl. auch VAH Nr. 11.1.3.4 ), ohne die nach § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG (zumindest für Drittstaatsangehörige wie den Kläger) die Frist für den Wegfall der Sperrwirkung der Ausweisung grundsätzlich nicht zu laufen beginnt ( VGH Bad.-Württ., Urteil vom 15.11.2004, a.a.O., m.w.N.; Hamb. OVG, Beschluss vom 12.04.2007, NVwZ-RR 2007, 712; VG Karlsruhe, Urteil vom 14.11.2006 - 5 K 2075/05 -; a. A. VG Oldenburg, Urteil vom 22.04.2009, NVwZ-RR 2009, 739).

Die auf Seiten des Klägers bestehenden familiären Bindungen ( siehe oben ), die nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK, der gegenüber Art. 6 GG keinen weitergehenden Schutz vermittelt, soweit sich sein Anwendungsbereich mit dem der grundgesetzlichen Norm deckt, von den Ausländerbehörden zu beachtende Schutzwirkungen erzeugen, verdrängen in ihrem Gewicht nicht von vornherein das öffentliche Interesse an der Entfernung des Ausländers aus dem Bundesgebiet wegen dessen Ausweisung. Zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen mit den ausländerrechtlichen Vorschriften über die Ausweisung in den §§ 53 ff. AufenthG kommt ein Anspruch auf sofortige Befristung der Sperrwirkung der Ausweisung nach Art. 6 GG nur in Betracht, wenn zum maßgeblichen Zeitpunkt der Beurteilung der Sach- und Rechtslage eine (bereits verfügte) Ausweisung unter Berücksichtigung des Familienschutzes keinen Bestand (mehr) haben könnte. Dabei ist berücksichtigen, dass eine zeitweise Trennung von der Familie, etwa zur Durchführung eines ordnungsgemäßen Einreiseverfahrens oder zur Bekämpfung schwerwiegender Ausländerkriminalität, grundsätzlich mit dem Schutzgedanken des Art. 6 GG vereinbar ist. Allein der Umstand, dass der Kläger Vater eines deutschen Kindes und eheähnlicher Partner dessen ebenfalls deutscher Mutter ist, reicht für sich allein nicht aus, um einen Anspruch auf sofortige Befristung zu begründen. Dies hängt vielmehr von den gesamten Umständen des Einzelfalles ab, insbesondere dem Ausmaß der vom Kläger ausgehenden Gefahr, der Vorhersehbarkeit der zukünftigen Entwicklung dieser Gefahr und den schutzwürdigen Belangen des Klägers und seiner Angehörigen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 20.08.2009, NVwZ 2009, 1557; siehe auch Thür. OVG, Beschluss vom 25.05.2005, InfAuslR 2005, 418 m.w.N. aus der Rspr. des BVerfG und des BVerwG). Auch im Licht der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (insbes. BVerfG, Beschlüsse vom 23.01.2006 und vom 08.12.2005, jew. a.a.O.) scheidet eine vorübergehende, zeitlich überschaubare Trennung des viereinhalb Jahre alten Sohns von seinem Vater, dem Kläger, nicht aus. Auch für Kinder deutscher Eltern gibt es keinen absoluten Schutz gegen eine zumindest vorübergehende Trennung von einem Elternteil, selbst dann nicht, wenn diese Trennung ohne oder gar gegen den Willen des betreffenden Elternteils erfolgt, wie das u. a. bei der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe der Fall ist. Das Wohl eines Kindes erleidet im Allgemeinen und insbesondere auch im Alter des Sohnes des Klägers in der Regel keinen nachhaltigen Schaden, wenn es für einige Wochen oder gar für einige Monate - nicht jedoch für mehrere Jahre - von seinem Vater getrennt wird. Das gilt erst recht in Bezug auf das Elternrecht des Vaters, dem bewusst ist, dass die Trennung von seinem Kind nur vorübergehender Natur ist (so auch ganz aktuell VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 14.01.2010 - 11 S 2472/09 - und Beschluss der Kammer vom 14.09.2009 - 4 K 1283/09 - jew. im Hinblick auf die Zumutbarkeit der Nachholung eines Visumsverfahrens). Selbst ein mehrmonatiger Aufenthalt des Klägers in Russland würde hiernach nicht ohne Weiteres einen Verstoß gegen Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK zur Folge haben, zumal die Wirkungen der Trennung des Klägers von seiner Familie auch durch Besuche von Mutter und Kind in Russland, die nicht von vornherein unzumutbar sind, aber auch durch briefliche und telefonische Kontakte abgemildert werden können. Abgesehen davon bedeutet die (zeitlich befristete) Aufrechterhaltung der Sperrwirkung der Ausweisung nicht zwingend, dass der Kläger ohne vorherige Ausreise in keinem Fall einen legalen Aufenthalt bekommen könnte; die Ausweisung steht vielmehr vor allem der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen nach den §§ 27 ff. AufenthG, nicht jedoch aus humanitären Gründen nach Maßgabe von § 25 Abs. 5 AufenthG entgegen. Gerade § 25 Abs. 5 AufenthG soll dem Bedürfnis eines Ausländers, der ausgewiesen oder abgeschoben wurde, der aber - u. a. wegen der Schutzwirkungen aus Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK - nicht abgeschoben werden und auch nicht (freiwillig) ausreisen reisen kann, in verfassungskonformer Weise Rechnung tragen. Der Sinn des § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG besteht (vor allem) darin zu verhindern, dass eine bestandskräftige Ausweisungsverfügung im Ergebnis wirkungslos wird, indem der Ausländer schon vor der Ausreise einen neuen Aufenthaltstitel erhält. Daher sieht § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG ausdrücklich vor, dass die Frist erst mit der Ausreise zu laufen beginnt. Dies gilt auch dann, wenn der ausgewiesene Ausländer weder freiwillig ausreisen noch abgeschoben werden kann. Der Wortlaut des Gesetzes unterscheidet nicht nach solchen Kriterien. Es führt deshalb nicht per se zu unerträglichen und vom Gesetzgeber nicht bedachten Folgen, wenn nach geltendem Recht der Lauf der für den Wegfall der Sperrwirkung der Ausweisung nach § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG gesetzten Frist nicht vor der Ausreise des Ausländers beginnen kann, da es § 25 Abs. 5 AufenthG ermöglicht, einem vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer abweichend von § 11 Abs. 1 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unverschuldet unmöglich ist und mit dem Wegfall der Abschiebungs- bzw. Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist (vgl. hierzu VG Karlsruhe, Urteil vom 14.11.2006, a.a.O., m.w.N.). Aus diesen Gründen führen auch die fehlenden Passpapiere des Klägers sowie seine Schwierigkeiten mit den russischen Auslandsvertretungen, die ihm die (offizielle) Bestätigung der russischen Staatsangehörigkeit und die Ausstellung von Identitätspapieren verweigern und möglicherweise auch eine Rückkehr nach Russland verhindern würden, nicht zu einer zwingenden Verpflichtung der Beklagten, die Wirkungen der Befristung ohne Ausreise des Klägers aus dem Bundesgebiet zu beseitigen. [...]

5. Bei der hiernach gebotenen erneuten Bescheidung des Klägers wird die Beklagte die oben ( unter 3. und 4. ) dargelegten Anforderungen, insbesondere aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK, zu beachten haben. Bei der Prüfung der Frage, welche Dauer einer Trennung des Klägers von seinem Sohn und seiner Lebensgefährtin unter Berücksichtigung der tatsächlich gelebten Eltern-Kind-Beziehung und vor allem des Kindeswohls im konkreten Fall (noch) vertretbar ist, wäre es sachgerecht, wenn die Beklagte insoweit sachverständige Hilfe durch Bedienstete des Jugendamts oder andere Personen mit kinder- und/oder sozialpsychiatrischem Sachverstand zu Rate zieht. Im Rahmen ihrer Ermessensentscheidung wird die Beklagte auch zu prüfen haben, ob und inwieweit die Straftaten, die Gegenstand der (erneuten) Anklage der Staatsanwaltschaft Freiburg vom 14.07.2009 (Az: 430 Js 20099/07) sind, sich darauf auswirken, dass die spezial- und generalpräventiven Ausweisungszwecke beim Kläger erreicht sind bzw. wann dies voraussichtlich der Fall sein wird. Des Weiteren wird die Beklagte auch zu erwägen haben, ob und in welchen Staat es dem Kläger überhaupt möglich ist auszureisen; immerhin sprechen zahlreiche Stellungnahmen russischer Auslandsvertretungen in den Akten dafür, dass es dem Kläger so ohne Weiteres nicht möglich sein wird, legal in die Russische Föderation einzureisen und sich dort aufzuhalten. Ob eine Einreise und ein Aufenthalt des Klägers in einem anderen Staat als Russland (z. B. Ukraine, zu deren Gemeinde oder Bezirk Poltava der Kläger irgendeine Beziehung gehabt haben muss, wie eine Bescheinigung in den Akten - deren Echtheit unterstellt - nahelegt) in Betracht kommt, ist zur Zeit völlig unklar. Schließlich wird die Beklagte zu berücksichtigen haben, dass die Anforderungen an eine Verkürzung der Frist für die Geltung der Ausweisungsfolgen umso geringer ausfallen je stärker die Beklagte in Betracht zieht, dem Kläger einen (humanitären) Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 5 AufenthG zu erteilen. [...]