VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 19.03.2010 - 1 K 5692/09.A - asyl.net: M16957
https://www.asyl.net/rsdb/M16957
Leitsatz:

Keine Gruppenverfolgung der Bihari in Bangladesch. Auch kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG, da die Lebensbedingungen für Biharis in Bangladesch, insbesondere in den sog. "Camps" zwar schlecht sind. Darin unterscheiden sie sich aber nicht wesentlich von etwa 40 % der gesamten Bevölkerung Bangladeschs, die in absoluter Armut lebt (§ 60 Abs. 7 S. 3 AufenthG).

Schlagwörter: Asylverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Abschiebungsverbot, Bangladesch, Bihari, Gruppenverfolgung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 3,
Auszüge:

[...]

Ausgehend von diesen Grundsätzen führt das Begehren des Klägers nicht zum Erfolg. Es lässt sich nicht feststellen, dass der Kläger vor seiner Ausreise oder im Falle seiner Rückkehr nach Bangladesch landesweit von politischer Verfolgung betroffen war bzw. bedroht sein würde.

Die Gefahr einer unmittelbaren oder mittelbaren Gruppenverfolgung aufgrund einer Volkszugehörigkeit zu den Biharis ergibt sich nicht. Insoweit nimmt das Gericht auf die frühere Rechtsprechung der Kammer Bezug, wonach schon nach der damaligen Auskunftslage Angehörigen der Biharis keine politisch motivierten Verfolgungsmaßnahmen aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit drohten (vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 7. April 2000 - 1 K 3673/99.A -, m.w.N., bestätigt durch OVG NRW, Beschluss vom 19. Juni 2000 – 10 A 2666/00.A).

Das Gericht hat nach der aktuellen Erkenntnislage keinen Anlass, von der dort getroffenen Beurteilung abzuweichen. Der Teil der Biharis, der sich während der Repatriierungsverhandlungen unmittelbar nach der Unabhängigkeit Bangladeschs nicht im Bereich der sogenannten "Camps" – slumähnliche Viertel im Umfeld der Großstädte – ansiedelte, führt in der bangladeschischen Gesellschaft ein normales Leben ohne erkennbare Diskriminierungen. Der Teil der Biharis, der weiterhin in den "Camps" lebt, befand sich in den letzten Jahren in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht in einer nicht wesentlich von den Verhältnissen der Bewohner anderer Armenviertel in Bangladesch unterschiedlichen Situation. Die Biharis in den Camps können, wenn auch unter erschwerten Bedingungen, Arbeit finden. Ungeachtet ihrer wirtschaftlich schlechten Lebensbedingungen sind sie als Minderheit in der näheren Vergangenheit und auch aktuell keinen spezifischen Übergriffen und Anfeindungen seitens des Staates oder durch die bengalische Mehrheitsbevölkerung ausgesetzt (vgl. Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Volksrepublik Bangladesch vom 1. Juli 2008 (Stand: April 2008), S. 9, 22, 23; Verwaltungsgericht Aachen, Urteil vom 9. Juli 2008 – 5 K 121/07.A-; Note on the nationality status of the Urdu-speaking community in Bangladesh des UNHCR, Dezember 2009, S. 5, www.unhcr.org/refworld/docid/4b2b90c32.html).

Ihre Situation hat sich seit einer Entscheidung des High Court von Bangladesch im Jahr 2008 sogar verbessert, da die noch offene Staatsangehörigkeitsfrage geklärt wurde. Das Gericht stellte am 18. Mai 2008 fest, dass alle Biharis, die im Jahr 1971 minderjährig waren oder erst nach der Unabhängigkeit Bangladeschs geboren wurden, bangladeschische Staatsangehörige sind und einen Anspruch auf Eintragung in die Wählerverzeichnisse und Ausstellung eines Nationalpasses haben. In der Folge ließen sich bis Dezember 2009 nach einer Schätzung des UN-Flüchtlingskommissariats ca. 80 % der in Bangladesch lebenden Biharis als Wähler registrieren bzw. einen Pass ausstellen, was ihre Integration in die Mehrheitsgesellschaft erleichtert und weiter fördert und sie nunmehr den übrigen Staatsangehörigen gleichstellt (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 14. Dezember 2009 – 508-516.80/46287; Note on the nationality status of the Urdu-speaking community in Bangladesh des UNHCR, Dezember 2009, www.unhcr.org/refworld/docid/4b2b90c32.html).

Unter dem Gesichtspunkt der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Biharis bestehen daher auch gegenwärtig keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger im Rückkehrfall politische Verfolgungsmaßnahmen zu erwarten hätte. Hiergegen spricht im übrigen, dass der Kläger nach eigenen Angaben regulär die Schule besucht hat und sein Vater nach dem Wegzug der Familie aus dem Geneva Camp in den Stadtteil H im Jahr 2002 ungeachtet der Volkszugehörigkeit in der Lage war, erfolgreich als Geschäftsmann tätig zu sein. [...]

Ungeachtet dessen würde es aber auch bei einer Wahrunterstellung der Vorfälle an einer staatlichen Verantwortlichkeit Bangladeschs für die behaupteten Übergriffe fehlen. Denn eine die Zurechenbarkeit begründende Schutzunfähigkeit oder Schutzunwilligkeit besteht nicht bereits dann, wenn in dem zu beurteilenden Einzelfall – wie angeblich im Fall des Klägers - effektiver staatlicher Schutz nicht geleistet worden ist. Denn kein Staat vermag einen perfekten, lückenlosen Schutz vor Übergriffen zu gewähren und sicherzustellen (vgl. VGH BW, Urteil vom 27. Oktober 2007 – 12 S 603/05 -, www.juris.de).

Vielmehr sind Übergriffe Privater dem Staat als mittelbar staatliche Verfolgung nur dann zuzurechnen, wenn er gegen Verfolgungsmaßnahmen Privater grundsätzlich keinen effektiven Schutz gewährt. Dies ist jedenfalls dann nicht der Fall, wenn die zum Schutz der Bevölkerung bereitgestellten Behörden bei Übergriffen Privater zur Schutzgewährung ohne Ansehen der Person verpflichtet und dazu auch landesweit angehalten sind, vorkommende Einzelfälle von Schutzverweigerung mithin ein von der Regierung nicht gewolltes Fehlverhalten darstellen (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 - 9 C 1.94 -, www.juris.de).

Dass der Staat Bangladesch seinen Bürgern grundsätzlich keinen Schutz gegen Verfolgungsmaßnahmen privater Akteure gewährt, ist nach der aktuellen Erkenntnislage des Gerichts nicht ersichtlich. Vielmehr werden Recht und Ordnung in Bangladesch regelmäßig durch normale Polizeikräfte gewährleistet. Diese werden seit 2004 zusätzlich durch Spezialkräfte der Polizei zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens, das "Rapid Action Battalion (RAB)", unterstützt. Der bis zum 17. Dezember 2008 geltende Ausnahmezustand verbesserte die öffentliche Sicherheit und Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols zusätzlich. Repressionen nicht-staatlicher Akteure sind seither deutlich zurückgegangen (vgl. Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Volksrepublik Bangladesch vom 1. Juli 2008 (Stand: April 2008), S. 8, 18; VG Aachen, Urteil vom 9. Juni 2008 - 5 K 1217.A -, m.w.N.). [...]

Zuletzt muss sich der Kläger darauf verweisen lassen, dass ihm sowohl vor seiner Ausreise als auch im Fall seiner Rückkehr nach Bangladesch eine inländische Fluchtalternative offen stand bzw. stünde, § 60 Abs. 1 S. 4 a.E. AufenthG. Es sind keine Umstände ersichtlich, warum sich der Kläger nicht an einem anderen Ort, notfalls in einem anderen Bihari-Lager niederlassen könnte. Rechtliche Hindernisse für einen Wohnsitzwechsel bestehen nicht, da die Verfassung von Bangladesch Freizügigkeit garantiert (vgl. Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Volksrepublik Bangladesch vom 1. Juli 2008 (Stand: April 2008), S. 18).

Auch die hilfsweise auf Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 5 oder 7 AufenthG gerichtete Klage ist nicht begründet. Solche sind bei dem Kläger nicht ersichtlich. Insbesondere ist nicht feststellbar, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr einer konkreten individuellen Gefahr für Leib und Leben i.S.v. § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG ausgesetzt wäre. Zwar sind die Lebensbedingungen auch für Biharis in Bangladesch, insbesondere in den o.g. "Camps", schlecht. Darin unterscheiden sie sich aber nicht wesentlich von etwa 40 % der gesamten Bevölkerung Bangladeschs, die in absoluter Armut lebt (vgl. Bundesamt, Informationszentrum Asyl und Migration, Glossar Islamische Länder, Band 4 Bangladesch, Dezember 2009, S. 34, Note on the nationality status of the Urdu-speaking community in Bangladesh des UNHCR, Dezember 2009, S. 5, www.unhcr.org/refworld/docid/4b2b90c32.html).

Stellen die schlechten Bedingungen in Bangladesch insofern eine allgemeine Gefahr i.S.v. § 60 Abs. 7 S. 3 AufenthG dar, kommt im Hinblick darauf die Zuerkennung eines Abschiebungsverbots nicht in Betracht. [...]