VG Münster

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Zitieren als:
VG Münster, Urteil vom 11.03.2010 - 8 K 1729/08 [= ASYLMAGAZIN 2010, S. 209 ff.] - asyl.net: M16958
https://www.asyl.net/rsdb/M16958
Leitsatz:

Ist die Herstellung der Familieneinheit im Herkunftsland nicht möglich, werden einwanderungspolitische Belange nach der Rechtsprechung des BVerfG regelmäßig zurückgedrängt. Trotz Ausweisungsgrundes ist eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG zu erteilen, da eine Duldung der Schutzgewährleistung des Art. 6 GG widerspricht.

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, Kosovo, Eltern-Kind-Verhältnis, deutsches Kind, Schutz von Ehe und Familie, Verlängerungsantrag, rechtliche Unmöglichkeit, atypischer Ausnahmefall, Ausweisungsgrund, Straftat, Wiederholungsgefahr, Verhältnismäßigkeit, Duldung, Abschiebungshindernis,
Normen: AufenthG § 25 Abs. 5, EMRK Art. 8, AufenthG § 8, AufenthG § 26 Abs. 2, GG Art. 6, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2, GG Art. 11 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage hat Erfolg. Der Bescheid des Beklagten vom 15. Juli 2008 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 VwGO). Der Kläger hat Anspruch auf die Verlängerung der ihm gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG bis zum 17. Oktober 2007 erteilten Aufenthaltserlaubnis.

Die Voraussetzungen der §§ 8, 25 Abs. 5, 26 Abs. 2 AufenthG liegen weiterhin vor. Die Ausreise des Klägers ist weiterhin unmöglich. Er ist weiterhin personensorgeberechtigter Vater eines Kindes deutscher Staatsangehörigkeit, mit dem er (wieder) in familiärer Lebensgemeinschaft lebt. Auf die unten ausgeführten Entscheidungsgründe zu Art. 6 GG, 8 EMRK wird verwiesen.

Die allgemeinen Verlängerungsvoraussetzungen der §§ 8, 5 Abs. 1 AufenthG stehen dem Anspruch nicht entgegen.

Der Kläger erfüllt zwar nicht die Voraussetzung der §§ 8 Abs. 1, 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG. Nach den genannten Vorschriften setzt die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG in der Regel voraus, dass kein Ausweisungsgrund vorliegt. Infolge der vielfältigen strafgerichtlichen Verurteilungen liegen wegen des Klägers Ausweisungsgründe vor.

Gleichzeitig liegt jedoch ein Ausnahmefall vor, so dass der Kläger für die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis die Voraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nicht erfüllen muss. Wie das Bundesverwaltungsgericht entschieden hat, liegt im Verhältnis zur gesetzlichen Regel des § 5 Abs. 1 AufenthG ein Ausnahmefall unter folgenden Voraussetzungen vor: Es müssen

- entweder besondere, atypische Umstände vorliegen, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen,

- oder die Erteilung des Aufenthaltstitels muss aus Gründen höherrangigen Rechts wie etwa Art. 6 GG oder im Hinblick auf Art. 8 EMRK geboten sein, z.B. weil die Herstellung der Familieneinheit im Herkunftsland nicht möglich ist

(zu § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG BVerwG, Urteil vom 30. April 2009, 1 C 3.08, www.bverwg.de = InfAuslR 2009, 330 = ZAR 2009, 389 = FamRZ 2009, 1410; Urteil vom 26. August 2008 1 C 32.07 , www.bverwg.de = BVerwGE 131, 370 = InfAuslR 2009, 8 = ZAR 2009, 107).

Im vorliegenden Einzelfall ist die Verlängerung des Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 6 GG geboten.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die in § 5 Abs. 1 AufenthG angelegte Möglichkeit zu nutzen, von den Regelvoraussetzungen der Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels "abzusehen", um ein mit Art. 6 GG unvereinbares Ergebnis zu vermeiden (BVerfG, Beschluss vom 11. Mai 2007 2 BvR 2483/06 , www.bverfg.de, Rn. 29 = InfAuslR 2007, 336). Die Entscheidung, ob infolge der Gewährleistungen der Art. 6 GG, 8 EMRK eine Ausnahmesituation besteht, ist daher anhand einer (allein) ergebnisbezogenen Prüfung zu treffen, ob im Einzelfall die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen höherrangigen Rechts oder im Hinblick auf Vorschriften der EMRK geboten ist (vgl. Fricke, juris-PR-BVerwG, 18/2009 Anm. 4). Dies gilt für alle in § 5 Abs. 1 AufenthG genannten Erteilungsvoraussetzungen, wobei aber die Gewährleistungen höherrangigen Rechts selbst unterschiedliche Abwägungsmaßstäbe bestimmen können.

Die in Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, verpflichtet die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den weiteren Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, das heißt entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG darauf, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über das Aufenthaltsbegehren seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen. Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalles geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen, auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen sind (BVerfG, z.B. Beschluss vom 9. Januar 2009, 2 BvR 1064/08, www.bverfg.de = InfAuslR 2009, 150 = NVwZ 2009, 387 = FamRZ 2009, 579).

Dem Kläger ist in seinem Herkunftsland die Herstellung der Familieneinheit nicht möglich. Es ist schon fraglich, ob ein dauerhafter Aufenthalt seiner Ehefrau und seines Kindes im Kosovo rechtlich möglich ist. Insoweit ist bei einer nur vergleichenden Betrachtung mit dem deutschen Aufenthaltsrecht insbesondere zweifelhaft, ob die Ehefrau und das Kind eine Aufenthaltserlaubnis für eine längere Zeit als für einen Besuchsaufenthalt im Kosovo erhalten werden, wenn die Familie dort ihren Lebensunterhalt nicht sichern können sollte (vgl. insbesondere Art. 43, 46, 50 ff. Ausländergesetz No. 03/L-126 des Kosovo vom 16. Dezember 2008; in u.a. englischer Fassung veröffentlicht: www.gazetazyrtare.com; zu den Anforderungen an die Klärung von Fragen ausländischen Aufenthaltsrechts vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Mai 2008, 2 BvR 588/08 , www.bverfg.de = InfAuslR 2008, 347). Dies kann jedoch dahinstehen. Dem Kind des Klägers und seiner Ehefrau, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben, kann ein Aufenthalt im Herkunftsland des Klägers, wenn er rechtlich möglich wäre, von Rechts wegen nicht zugemutet werden. Im Rahmen der Bewertung des Schutzgehalts des Art. 6 GG sind die weiteren Gewährleistungen des Grundgesetzes zumindest mit zu berücksichtigen. Das Kind und die Ehefrau des Klägers genießen als deutsche Staatsangehörige das verfassungsrechtlich geschützte Recht auf Freizügigkeit im Bundesgebiet (Art. 11 Abs. 1 GG). Das Freizügigkeitsrecht hat das Recht zum Inhalt, in das Bundesgebiet ggf. einzureisen und an jedem Ort innerhalb des Bundesgebiets Wohnsitz und Aufenthalt zu nehmen (BVerfG, Beschluss vom 25. Januar 1977, 1 BvR 210/74 u. a., BVerfGE 43, 203, 211). Es setzt damit die verfassungsrechtliche Wertung voraus, sich überhaupt im Bundesgebiet aufhalten zu dürfen (Durner in Maunz/Dürig, Kommentar zum GG, Art. 11, Rn. 91; einen solchen Schutzbereich des Art. 11 GG offen lassend BVerfG, Beschluss vom 13. Oktober 1970 1 BvR 226/70 , BVerfGE 29, 183, 194). Dass die Familie des Klägers nicht zu einer Ausreise gezwungen wird, sondern im Falle einer Ausreisepflicht des Klägers kraft eigener Entscheidung bei einer gleichzeitigen Trennung von dem Kläger im Bundesgebiet verbleiben könnte, steht nicht entgegen. Auch faktische oder mittelbare Grundrechtsbeeinträchtigungen sind als Eingriff zu werten, wenn sie aufgrund ihrer Zielsetzungen oder nur ihrer Wirkungen einem Eingriff gleichkommen (BVerfG, Beschluss vom 20. Februar 2008, 1 BvR 2722/06, www.bverfg.de, Rn. 93 = NVwZ 2008, 780). Dies wäre im Falle einer Ausreisepflicht des Klägers der Fall, weil sich seine Familie zwingend für eine Grundrechtsbeeinträchtigung, sei es die des Art. 6 GG oder diejenige des Art. 11 GG, entscheiden müsste. Ungeachtet dessen sind dem Kind und der Ehefrau des Klägers eine Herstellung der Familieneinheit im Kosovo nicht zuzumuten, weil sie tatsächlich keine irgendwie geartete Verbindung zu seinem Herkunftsland haben. Sie haben nie im Kosovo gelebt, keine anderen Verbindungen zum Kosovo und sprechen nicht albanisch (vgl. zu den letzten Kriterien EGMR, Urteil vom 2. August 2001, 54273/00 [Boultif], InfAuslR 2001, 476, Rn. 53; auf diese Kriterien als Abwägungsgesichtspunkt ebenfalls hinweisend BVerfG, Beschluss vom 10. Mai 2008, 2 BvR 588/08, www.bverfg.de, Rn. 16 = InfAuslR 2008, 347).

Diesem durch Art. 6 GG geschützten Interesse an einer Erhaltung der Familieneinheit stehen keine überwiegenden öffentlichen Interessen gegenüber, die eine Ausreise des Klägers erfordern. Insbesondere begründen die vom Kläger in der Vergangenheit begangenen Straftaten und/oder eine etwa bestehende Wiederholungsgefahr kein überwiegendes öffentliches Interesse.

Allein der Umstand, dass die Herstellung der Familieneinheit im Herkunftsland nicht möglich ist, vermag zwar nicht unterschiedslos alle Ausweisungsgründe ungeachtet ihres jeweiligen Gewichts zu überwinden. Eingriffe in die durch Art. 6 GG geschützte Freiheit sind dann und insoweit zulässig, als sie unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zum Schutz öffentlicher Interessen unerlässlich sind (BVerfG, Beschluss vom 4. Dezember 2007, 2 BvR 2341/06, www.bverfg.de, Rn. 6 = InfAuslR 2008, 239). Im Zusammenhang mit § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG dürften regelmäßig solche öffentlichen Fiskalinteressen nicht betroffen sein. Im Rahmen einer Anwendung der Nr. 2 des § 5 Abs. 1 AufenthG kann daher insoweit nur maßgeblich sein, dass das Gewicht des jeweils konkret verwirklichten usweisungsgrundes mit den verfassungsrechtlichen aus Art. 6 Abs. 1 und 2 GG folgenden Erfordernissen in Beziehung gesetzt und abgewogen werden muss (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 18. November 2009, 13 S 2002/09, www.vghmannheim, Rn. 38 ff.). Ist die Herstellung der Familieneinheit im Herkunftsland wie hier nicht möglich, drängt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aber die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, regelmäßig einwanderungspolitische Belange zurück (BVerfG, Beschluss vom 18. April 1989, 2 BvR 1169/84 -, BVerfGE 80, 81 = NJW 1989, 2195 = FamRZ 1989, 715; Beschluss vom 30. Januar 2002, 2 BvR 231/00, www.bverfg.de, Rn. 22 = InfAuslR 2002, 171 = FamRZ 2002, 601; Beschluss vom 23. Januar 2006 - 2 BvR 1935/05 -, www.bverfg.de = InfAuslR 2006, 320 = FamRZ 2006, 925; Beschluss vom 10. Mai 2008, 2 BvR 588/08, www.bverfg.de = InfAuslR 2008, 347).

Dabei ist nach Maßgabe der Grundrechte des Grundgesetzes hinsichtlich der Frage der Verhältnismäßigkeit einer Abschiebung eines in Deutschland aufgewachsenen, straffällig gewordenen Ausländers (sog. Ausländer der zweiten Generation) die Rechtsprechung zu Art. 8 EMRK des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) als Auslegungshilfe heranzuziehen. Ein wesentlicher Umstand für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit ist nach Auffassung des EGMR die Schwere der begangenen Straftaten. Dabei wird deren Schwere in erster Linie durch die Höhe der verhängten Strafen gekennzeichnet, daneben aber auch bestimmt durch die Art der Straftat, wobei beispielsweise Drogendelikten eine besondere Schwere zugemessen wird. Von Bedeutung kann aber auch das Alter des Betroffenen bei Begehung der Straftaten sein. Neben der Schwere der Straftaten untersucht der EGMR die familiäre Situation des Ausgewiesenen. Dabei wird insbesondere berücksichtigt, ob der im Inland aufgewachsene Ausländer inzwischen mit einer Person verheiratet ist, die die Staatsangehörigkeit seines Aufenthaltslandes besitzt, und ob er Kinder hat. Unverheiratete und kinderlose Ausländer genießen dagegen einen schwächeren aufenthaltsrechtlichen Schutz. Daneben werden zwar auch Bindungen zu den im Inland lebenden Eltern und Geschwistern berücksichtigt, diese sind aber von geringerem Gewicht, wenn der erwachsene Ausländer nicht auf Grund besonderer Umstände auf deren Unterstützung und Hilfe angewiesen ist. Die Verpflichtung zur Ausreise eines Ausländers der zweiten Generation, der verheiratet oder Vater eines im Inland lebenden Kindes ist, ist nicht generell und unabhängig von den weiteren Umständen des Falles insbesondere der Schwere der von ihm begangenen Straftaten - unverhältnismäßig. Weiter berücksichtigt der EGMR, inwieweit noch ein Bezug des Ausländers zu dem Staat seiner Staatsangehörigkeit besteht (zusammenfassend BVerfG, Beschluss vom 1. März 2004, 2 BvR 1570/03, www.bverfg.de = InfAuslR 2004, 280 = NVwZ 2004, 852; danach EGMR, Urteil vom 18. Oktober 2006, 46410/99 [Üner], www.coe.int = NVwZ 2007, 1279).

Die Abwägung entzieht sich weitgehend einer Typisierung, Regelfallbildung oder sonst abstrakt generellen Lösung (BVerfG, Beschluss vom 10. Mai 2007, 2 BvR 304/07, www.bverfg.de, Rn. 42 = InfAuslR 2007, 275).

Insbesondere bei der Bestimmung der Schwere der begangenen Straftaten sind nicht nur Vorgaben des Aufenthaltsgesetzes zu berücksichtigen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist eine Betrachtung des Einzelfalles geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind, auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalles (BVerfG, Beschluss vom 9. Januar 2009, 2 BvR 1064/08, a.a.O.). [...]

Auch sonst lässt die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Verhältnismäßigkeit im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK keine Einzelfallwertungen erkennen, die im Zusammenhang mit dem Kriterium der Schwere von Straftaten wegen einer Maßstabsbildung einer typisierenden Zusammenfassung zugänglich sind. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs weist stark kasuistische Züge auf (BVerfG, Beschluss vom 1. März 2004, 2 BvR 1570/03, a.a.O.; vgl. auch die im Anschluss an das Urteil vom 2. August 2001, 54273/00 [Boultif], InfAuslR 2001, 476, 479, von den Richtern Baka, Wildhaber und Lorenzen zahlreich angeführten Entscheidungen des EGMR). So hat der Gerichtshof beispielsweise in einem Einzelfall eine Ausreiseverpflichtung als angemessen bewertet, der eine strafgerichtliche Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 4 Monaten zu Grunde lag (EGMR, Urteil vom 28. Juni 2007, 31753/02 [Kaya], www.coe.int = InfAuslR 2007, 325). Der Gerichtshof hatte aber in einem anderen Einzelfall eine Verurteilung wegen einer Drogendelikts zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren als nicht ausreichend für eine Ausreiseverpflichtung bewertet (EGMR, Urteil vom 15. Juli 2003, 52206/99 [Mokrani], InfAuslR 2004, 183). In einem weiteren Fall hatte der Gerichtshof trotz vielfältiger Verurteilungen zu Freiheitsstrafen von insgesamt 12 Jahren und 5 Monaten eine Ausweisung als unverhältnismäßig bewertet, weil der Betroffene und seine Ehefrau seit mehr als 20 Jahre miteinander verheiratet waren, ständig im ausweisenden Staat gelebt und zum Heimatstaat des Betroffenen keine Beziehung hatten (EGMR, Urteil vom 26. März 1992, 55/1990/246/317 [Beldjoudi], InfAuslR 1994, 86 = EuGRZ 1993, 556), demgegenüber aber die Ausweisung eines anderen Betroffenen trotz 34-jährigen rechtmäßigen Aufenthalts im Ausweisungsstaat als angemessen bewertet (EGMR, Urteil vom 8. Januar 2009, 10606/07 [Grant], InfAuslR 2010, 89 = echr.coe.int/echr/en/hudoc [englische Fassung]; dazu Dienelt, www.migrationsrecht.net). Soweit das Bundesverwaltungsgericht im Zusammenhang mit im Gastland geborenen und aufgewachsenen Ausländern der zweiten Generation auf eine in der Vergangenheit bestandene kasuistische Charakteristik der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte abstellt (BVerwG, Urteil vom 22. Oktober 2009, 1 C 26.08, www.bverwg.de, Rn. 28 = InfAuslR 2010, 91), betrifft dies die Entwicklung von Kriterien für den Abwägungsvorgang, nicht aber das Abwägungsergebnis des Gerichtshofs im Einzelfall.

Bei Anwendung dieser Vorgaben auf den hier zu bewertenden Einzelfall ist kein Umstand gegeben, der eine Abweichung von der zu Gunsten des Familienschutzes bestehenden "Regelfallwertung" des Bundesverfassungsgerichts rechtfertigt. Dass der Kläger Ausweisungsgründe gesetzt hat, begründet nicht ein überwiegendes Gewicht. Die Straftaten des Klägers sind nicht derart schwer, dass die öffentlichen Interessen an seiner Ausreise überwiegen. Die bisher begangen Straftaten sind von den Strafgerichten ganz überwiegend nach dem Jugendstrafrecht bewertet worden. Ein Rest der vollstreckten Einheitsjugendstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt und konnte mit Ablauf der Bewährungszeit erlassen werden. Die danach begangene Zuwiderhandlung gegen eine räumliche Aufenthaltsbeschränkung ist im Verhältnis zu dem durch Art. 6 GG geschützten Interesse offensichtlich nachrangig, was die festgesetzte Geldstrafe von 50 Tagessätzen dokumentiert. Die damit verbleibende Verurteilung des Klägers wegen gemeinschaftlich mit seiner Ehefrau begangenen Diebstahls hat kein überragendes Gewicht im Sinne der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung. Dies folgt aus der Höhe der Strafe und der Art der Straftat. Das Amtsgericht verurteilte den Kläger zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten, deren Vollstreckung es wiederum zur Bewährung ausgesetzt hat. Die dieser Entscheidung des Strafgerichts zugrunde liegende Erwartung hat der Kläger bisher erfüllt; es ist bis heute nicht festzustellen, dass der Kläger sich erneut strafbar gemacht hat. Auch die Art der Tatausführung, die zur Entdeckung führen musste, lässt die Straftat nicht als schwer erscheinen. Das Strafgericht ordnete den Wert des Diebesgutes "eher dem unteren Bereich" zu. Schließlich stellte das Strafgericht fest, dass sich der Kläger trotz seiner beschränkten intellektuellen Fähigkeiten "zuletzt in vorbildlicher Weise als Hausmann um den Unterhalt der Familie gekümmert" habe. Diese Einschätzung des Strafgerichts wird bestätigt durch den Umstand, dass der Kläger sich auch nach seiner Versetzung an einen etwa 140 km von seiner Wohnung entfernten Arbeitsort bei zeitlich erheblichem Arbeitseinsatz um die Sicherung des Lebensunterhalts bemüht.

Es ist auch "geboten", der Gewährleistung des Art. 6 GG durch die Verlängerung des Aufenthaltstitels nach § 25 Abs. 5 AufenthG zu entsprechen. Typischerweise wird in den Fällen, in denen Art. 6 Abs. 1 GG der Entfernung des Ausländers aus dem Bundesgebiet entgegensteht und daher eine Abschiebung unmöglich ist, diesem Abschiebungshindernis nicht durch Erteilung einer Duldung entsprochen werden können (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 18. November 2009, 13 S 2002/09 , a.a.O., Rn. 42; zur Rechtslage nach dem AuslG BVerwG, Urteil vom 4. Juni 1997, 1 C 9.95, a.a.O.).

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gewährt zwar Art. 6 GG selbst keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt (BVerfG, zuletzt Beschluss vom 9. Januar 2009, 2 BvR 1064/08, a.a.O.; zu Art. 8 EMRK wohl auch EGMR, Entscheidung vom 13. Oktober 2005 40932/02 , juris, Rn. 66 = www.coe.int/T/D/Menschenrechtsgerichtshof). Aber nach den einfachrechtlichen Vorgaben des Aufenthaltsgesetzes selbst kann eine Duldung dem Abschiebungshindernis nicht entsprechen.

Für den Familiennachzug eines mit einer Deutschen verheirateten Ausländers hat das Bundesverwaltungsgericht bereits zur früheren Gesetzeslage nach dem Ausländergesetz entschieden, dass die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis regelmäßig nicht an dem damaligen Regelversagungsgrund des § 7 Abs. 2 AuslG scheiterte (BVerwG, Beschluss vom 26. März 1999, 1 B 18.99, InfAuslR 1999, 332; Urteil vom 4. Juni 1997, 1 C 9.95, BVerwGE 105, 35 = InfAuslR 1997, 355). Gleiches gilt wie hier für das Zusammenleben eines sorgeberechtigten Vaters mit seinem deutschen Kind.

Der Schutzgewährleistung des Art. 6 GG durch die Erteilung nur einer Duldung zu entsprechen, widerspricht bereits dem Ansatz der bundesverwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung zur Regel-Ausnahmebestimmung im Rahmen des § 5 Abs. 1 AufenthG. Wenn Art. 6 GG selbst keinen Anspruch auf einen Aufenthaltstitel begründet und der Gewährleistung des Art. 6 GG durch eine Duldung entsprochen werden könnte, könnte Art. 6 GG wie es nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung aber möglich ist keine Ausnahme gebieten.

Dass nach den Wertungen des Aufenthaltsgesetzes eine Duldung dem Abschiebungshindernis nicht entsprechen kann, ergibt sich daher aus dem ausschließlich vollstreckungsrechtlichen Zweck der Duldung (vgl. zum vollstreckungsrechtlichen Charakter nach § 56 Abs. 3 AuslG a.F. die bisherige Rechtsprechung des OVG NRW, Beschluss vom 8. August 2003, 18 B 2511/02, www.nrwe.de, Rn. 11 = AuAS 2003, 272; vgl. auch die sich insoweit nicht durchgesetzte, aber allein auf Verwaltungspraxis hinweisende Begründung der Bundesregierung zum Regierungsentwurf des Zuwanderungsgesetzes vom 7. Februar 2003, BT-Drucksache 15/420, Seite 64; zu einer Funktionsverschiebung der Duldung nach dem Zuwanderungsgesetz im Verhältnis zur Duldung nach dem AuslG Hailbronner, Ausländerrecht, § 60 a AufenthG, Rn. 1). Auch wenn § 60 a Abs. 2 AufenthG ein subjektives Recht begründet (zum AuslG a. F. BVerwG, Urteil vom 25. September 1997, 1 C 3.97, BVerwGE 105, 232 = InfAuslR 1998, 12), begründet die Duldung keine "kleine Aufenthaltsberechtigung". Eine Duldung gewährt kein Aufenthaltsrecht (BVerwG, Urteil vom 25. September 1997, 1 C 3.97, a.a.O.). Anders als in der Verwaltungspraxis nach dem Ausländergesetz 1965 (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 25. September 1997, 1 C 3.97, a.a.O.) erfüllt die Duldung nicht die Funktion (der Vorstufe) eines Aufenthaltstitels für Fälle faktischer Aufenthaltsgewährung. Der Duldung kommt nicht die Funktion eines vorbereitenden oder ersatzweise gewährten Aufenthaltsrechts zu (BVerwG, Urteil vom 4. Juni 1997, 1 C 9.95, a.a.O.). Mit Hilfe einer Duldung kann die Abschiebung ausschließlich zeitweise ausgesetzt werden (§ 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG; BVerwG, Beschluss vom 24. Januar 2000, 1 C 28.99, Buchholz 360 § 13 GKG Nr. 108; Urteil vom 25. September 1997, 1 C 3.97, a.a.O.); mit ihr wird lediglich zeitweise auf die Abschiebung verzichtet (BVerwG, Urteil vom 25. September 1997, 1 C 3.97, a.a.O.; OVG NRW, Beschluss vom 30. März 2007, 19 B 2309/06, www.nrwe.de = InfAuslR 2007, 279).

Die hier maßgeblichen Umstände begründen bei Anwendung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, von der abzuweichen kein Anlass besteht, nicht ein nur zeitweise bestehendes Ausreisehindernis. Das aus Art. 6 GG folgende Abschiebungshindernis besteht in der Regel dauerhaft (BVerwG, Urteil vom 4. Juni 1997, 1 C 9.95, a.a.O.). Dem Regelfall gegenüberstehende Ausnahmegesichtspunkte sind wegen der Familienverhältnisse des Klägers nicht festzustellen.

Der Duldung kommt von Gesetzes wegen auch nicht die Funktion einer sog. "Bewährungsduldung" zu. Dem steht der bereits oben umschriebene gesetzliche Zweck der Duldung entgegen, soweit der Duldungszweck nicht im Rahmen einer vergleichsweisen Einigung von Beteiligten erweitert wird (vgl. zu einem solchen Fall z. B. BayVGH, Beschluss vom 26. Februar 2007, 24 CE 06.2842 juris). § 56 a StGB steht nicht entgegen. Die Vorschrift ist nicht auf die Regelung eines ausländerrechtlichen Sachverhalts ausgerichtet. Es besteht keine rechtliche Bindung der Ausländerbehörden an strafgerichtliche Entscheidungen über die Strafaussetzung zur Bewährung (BVerwG, Urteil vom 28. Januar 1997 1 C 17.94 , InfAuslR 1997, 296; Urteil vom 16. November 2000, 9 C 6.00, BVerwGE 112, 185 = InfAuslR 2001, 194). Die tatsächliche Bedeutung, die eine solche Entscheidung eines Strafgerichts auf eine Prognoseentscheidung der Ausländerbehörde haben kann, kann nicht die Auslegung aufenthaltsrechtlicher Gesetzesvorschriften berühren. In dem vorliegenden Einzelfall besteht auch keine sachliche Notwendigkeit zu einer "Bewährungsduldung", weil die Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG lediglich befristet verlängert wird (§ 26 Abs. 1 AufenthG) und nach Fristablauf weiterhin die Erteilungsvoraussetzungen vorliegen müssen (§ 8 AufenthG). Sollte ein Ausländer, dem bei Mitberücksichtigung der Art. 6 GG und Art. 8 EMRK ein Aufenthaltstitel erteilt wurde, während des Geltungszeitraums des Aufenthaltstitels derart straffällig werden, dass bei Abwägung aller Umstände eine Ausnahme von den Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthG nicht (mehr) gemacht werden kann, kann (und muss) die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis versagt werden, wenn kein sonstiger Abweichensgrund besteht. [...]