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LSG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 25.03.2010 - L 29 AS 2128/09 B ER - asyl.net: M16964
https://www.asyl.net/rsdb/M16964
Leitsatz:

1. Kein Verstoß gegen Unionsrecht durch den Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II.

2. Die Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 Abs. 1 FreizügG/EU hat lediglich deklaratorischen Charakter, den Antragstellern steht kein Recht auf Einreise und Aufenthalt nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU zu. Auch ein Aufenthaltsrecht nach § 28 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG ist nicht glaubhaft gemacht.

Schlagwörter: SGB II, Unionsbürger, vorläufiger Rechtsschutz, Unionsbürgerrichtlinie, Leistungsausschluss, deutsches Kind
Normen: SGB II § 7 Abs. 1 S. 2, RL 2004/38/EG Art. 24 Abs. 2, FreizügG/EU § 5, AufenthG § 28
Auszüge:

[...]

Nach der Regelung des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II sind aber bestimmte Ausländer von einem Leistungsanspruch nach dem SGB II ausgeschlossen. Selbst wenn bei diesen Ausländern die allgemeinen Anspruchsvoraussetzungen (insbesondere Erwerbsfähigkeit und Hilfebedürftigkeit) vorliegen, so sollen sie gleichwohl in Umsetzung von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 (im Folgenden: Richtlinie 2004/38/EG) unter bestimmten Voraussetzungen von einem Leistungsbezug nach dem SGB II ausgeschlossen sein (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales vom 15. Februar 2006, BT-Drucksache 16/688, S. 13 und Gesetzesentwurf der Bundesregierung zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 23. April 2007, BT-Drucksache 16/5065, S. 234 zu Nr. 2).

Auch wenn dieser Leistungsausschluss (durchaus in Kenntnis des Ausschusses für Arbeit und Soziales und der Bundesregierung, vgl. insoweit auch die oben genannten BT- Drucksachen 16/688 und 16/5065, a.a.O.) vor allem Unionsbürger betrifft, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen, so sieht der Senat hierin insbesondere keinen Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht. Vielmehr ist der Senat im Einvernehmen mit dem 34. Senats des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg der Ansicht, dass diese Regelung europarechtskonform ist, sofern sie nicht Leistungen betrifft, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen, sondern Leistungen, die den Lebensunterhalt sichern sollen (siehe Beschluss des 34. Senats vom 8. Januar 2010, L 34 AS 2082/09 B ER und L 34 AS 2086/09 B PKH, m.w.N., zit. nach Juris). Denn Art. 24 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie erlaubt es einem Mitgliedstaat ausdrücklich, andere Personen als Arbeitnehmer oder Selbstständige, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihre Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls während des längeren Zeitraums nach Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie von einem Anspruch auf "Sozialhilfe" auszunehmen, wobei Sozialhilfeleistungen im Sinne dieser Vorschrift alle finanziellen Mittel sind, die der Existenzsicherung dienen und nicht den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen und Unionsbürger betroffen sind, die in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats eingereist sind, um Arbeit zu suchen (so schon der 34. Senat, a.a.O., m.w.N.).

Besteht jedoch schon aufgrund der Richtlinie 2004/38/EG die Möglichkeit, bestimmte Bürger der Europäischen Union mit einem Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat von einer Sozialhilfeleistung auszuschließen, so gilt dies erst recht für Bürger, die dieses Recht zum Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat nicht haben. Dies folgt im Wesentlichen aus den Gründen dieser Richtlinie. Insbesondere gestützt auf den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft haben das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union die Richtlinie erlassen, um eine möglichst weitgehende Freizügigkeit der Unionsbürger sicherstellen zu können (vgl. Nr. "28", richtigerweise Nr. 1 der Erwägungen zu der Richtlinie; im Folgenden: "der Erwägungen"). Deshalb sollte Unionsbürgern das Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten ohne jegliche Bedingungen gewährt werden (vgl. Nr. 9 der Erwägungen), wobei es dem Aufnahmemitgliedstaat überlassen bleiben sollte, zu bestimmen, ob anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbstständigen (bzw. Personen, die diesen Status beibehalten und ihren Familienangehörigen) Sozialhilfe während der ersten Monate des Aufenthalts gewährt wird (Nr. 21 der Erwägungen). Erst der Aufenthalt von über drei Monaten sollte an bestimmte Bedingungen geknüpft werden können (vgl. unter anderem Nr. 12 und 13 der Erwägungen), wobei auch hier dem Aufnahmemitgliedstaat ein Sozialhilfeausschluss unter bestimmten Bedingungen möglich sein sollte (vgl. Nr. 21 der Erwägungen) damit Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch genommen werden können (Nr. 10 der Erwägungen). Ferner ist ausgeführt, dass der Aufnahmemitgliedstaat prüfen solle, ob es sich bei dem betreffenden Fall um vorübergehende Schwierigkeiten handelt, und die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen Umstände und den gewährten Sozialhilfebetrag berücksichtigen, um zu beurteilen, ob der Leistungsempfänger die Sozialhilfeleistungen unangemessen in Anspruch genommen hat, und in diesem Fall eine Ausweisung zu veranlassen (vgl. Nr. 16 der Erwägungen).

Diesen Erwägungen wurde in der Richtlinie 2004/38/EG insbesondere durch Art. 7 Rechnung getragen. Dort ist in Art. 7 Abs. 1 b) der Richtlinie 2004/38/EG geregelt, dass neben Arbeitnehmern oder Selbstständigen Unionsbürger das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates für einen Zeitraum von über drei Monaten nur haben, wenn sie für sich und ihre Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügen, so dass sie während ihres Aufenthaltes keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen und zudem ein umfassender Krankenversicherungsschutz besteht.

Im Hinblick auf diese Ziele der Richtlinie ist nach Ansicht des Senats zusammenfassend festzustellen, dass einerseits eine möglichst umfassende Freizügigkeit für die Bürger der Europäischen Union sichergestellt werden sollte; für die ersten drei Monate sogar bedingungslos. Andererseits sollte den Aufnahmemitgliedstaaten zur Vermeidung eines so genannten "Sozialtourismus" die Möglichkeit eingeräumt werden, Sozialhilfeleistungen grundsätzlich für die ersten drei Monate und unter bestimmten Bedingungen auch für weitere Zeiträume auszuschließen. Letztlich sollen in den Genuss der Freizügigkeit nur Unionsbürger gelangen, die über ausreichende Existenzmittel und einen Krankenversicherungsschutz für eine Existenz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen. [...]

Die Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 Abs. 1 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/EU) vom 13. Mai 2008 selbst begründet kein Aufenthaltsrecht, sondern hat lediglich deklaratorischen Charakter (ganz h.M., s. u.a. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20. August 2009, Aktenzeichen: 18 A 2263/08, zit. nach Juris). Unionsbürger bedürfen für die Einreise nach Deutschland keines Visums und für den Aufenthalt keines Aufenthaltstitels (§ 2 Abs. 4 S. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU); freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen wird lediglich eine Bescheinigung nach § 5 ausgestellt (§ 5 Abs. 1 Freizügigkeitsgesetz/ EU). [...]

Auch wenn er aufgrund einer wirksamen Vaterschaftsanerkennung vielleicht nicht faktisch, so doch zumindest rechtlich einen deutschen Vater und damit das Recht hat, sich frei im Bundesgebiet bewegen zu dürfen, führt dies nicht bereits zu einem glaubhaft gemachten Anspruch auf Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II.

Bei dem Antragsteller zu 4) wäre nämlich nicht einmal die Voraussetzung des § 7 Abs. 1 Nr. 1 SGB II erfüllt, weil er (geboren am 2007) das 15. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Zudem ist er aufgrund seines Alters nicht erwerbsfähig im Sinne von § 7 Abs. 1 Nr. 2 SGB II.

Darüber hinaus bestehen im Hinblick auf den Vater auch Zweifel an dem Vorliegen einer Bedürftigkeit. Wenn das Kind die Vorteile einer bewusst wahrheitswidrigen, in rechtsmissbräuchlicher Absicht abgegebenen, aber wirksamen Vaterschaftsanerkennung genießt - nämlich den Status als deutscher Staatsangehöriger mit dem damit verbundenen Aufenthaltsrecht in Deutschland -, so muss es auch die Nachteile einer bloß rechtlich bestehenden, tatsächlich aber nicht gelebten Vaterschaft eines deutschen Staatsangehörigen in Kauf nehmen (vgl. Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz, a.a.O.). Es geht daher zu seinen Lasten aus, wenn es zu den wirtschaftlichen Verhältnissen des unterhaltsverpflichteten Vaters keine Angaben macht bzw. wegen des fehlenden Kontaktes nicht machen kann. Denn auch eine bestehende Bedürftigkeit ist grundsätzlich als Voraussetzung für den Anordnungsanspruch glaubhaft zu machen. [...]

Schließlich ist anzumerken, dass bei der Antragstellerin zu 1) zudem das Vorliegen einer Erwerbsfähigkeit i.S. von § 8 Abs. 2 SGB II zweifelhaft ist. Selbst wenn sie eine Beschäftigung aufnehmen wollte, so bedürfte sie hierzu der Erlaubnis, die sie nicht einmal erkennbar beantragt hat. [...]