VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 25.03.2010 - 16 K 159.09 V - asyl.net: M16978
https://www.asyl.net/rsdb/M16978
Leitsatz:

Die Sicherung des Lebensunterhalts beim Nachzug zum deutschen Ehegatten kann entgegen der Regel des § 28 Abs. 1 S. 3 AufenthG nur dann ausnahmsweise verlangt werden, wenn es dem deutschen Ehegatten anhand einer Abwägung aller Umstände des konkreten Falls zuzumuten ist, die eheliche Lebensgemeinschaft im Ausland zu führen.

Bei § 28 Abs. 1 S. 3 AufenthG handelt es sich um eine eng auszulegende Ausnahmeregelung. Bedenken hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der Norm kann zwar mittels einer grundsätzlich vorrangigen verfassungskonformen Auslegung begegnet werden. Eine solche Auslegung verlangt aber, die Anwendung auf wenige, eindeutige Fälle zu beschränken.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Visumsverfahren, Visum, Familienzusammenführung, Ehegattennachzug, Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, Schutz von Ehe und Familie, Sicherung des Lebensunterhalts, Beweislast, atypischer Ausnahmefall, deutscher Ehegatte, freizügigkeitsberechtigt, Inländerdiskriminierung, Zumutbarkeit, Ukraine, medizinische Versorgung, Wohnraumerfordernis, Herzerkrankung, Berufungszulassung,
Normen: AufenthG § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, GG Art. 6 Abs. 1, AufenthG § 5 Abs. 4 S. 2, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1, AufenthG § 5 Abs. 3, AufenthG § 28 Abs. 1 S. 3, AufenthG § 82 Abs. 1 S. 1, GG Art. 3 Abs. 3, GG Art. 11, AufenthG § 2 Abs. 4 S. 1,
Auszüge:

[...]

Die Klage ist auch begründet, denn die Versagung des Visums ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO). Der Kläger hat einen Anspruch darauf, dass seiner Ehefrau ein Visum zum Ehegattennachzug erteilt wird.

Anspruchsgrundlage ist § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AufenthG, der wegen seines besonderen Bezugs zu Art. 6 Abs. 1 GG (vgl. OVG Berlin, Urteil vom 16. Dezember 2003, a.a.O) auch dem in Deutschland lebenden Ehegatten direkt einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis – und damit eines Visums vor Einreise gemäß § 5 Abs. 4 S. 2 AufenthG – vermittelt. Danach ist dem Ehegatten eines Deutschen bei Vorliegen der allgemeinen und der besonderen Erteilungsvoraussetzungen eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Zu den allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen gehört grundsätzlich auch die Sicherung des Lebensunterhalts des Ausländers gemäß §§ 5 Abs. 1 Nr. 1, 2 Abs. 3 AufenthG. Es mag zweifelhaft sein, ob die Ehefrau des Klägers dauerhaft ihren Lebensunterhalt zu bestreiten vermag, ohne dafür öffentliche Mittel in Anspruch nehmen zu müssen, da sie eine ausreichend konkrete Beschäftigungszusage nicht vorweisen kann und ebenfalls nicht absehbar ist, ob der Kläger seine derzeitige Erwerbstätigkeit weiter ausüben kann. Darauf kommt es indes nicht an, weil nach § 28 Abs. 1 S. 3 AufenthG die Aufenthaltserlaubnis beim Ehegattennachzug zu Deutschen in der Regel unter Absehen von der Voraussetzung der Sicherung des Lebensunterhaltes erteilt werden soll. Die Voraussetzungen einer Ausnahme von dieser Rechtsfolge liegen hier nicht vor.

Ein Abweichen von den Regelungen einer Sollvorschrift erfordert einen atypischen Fall, in dem konkrete und überwiegende Gründe für ein Absehen von der regelmäßigen Rechtsfolge Norm sprechen (Kopp/Ramsauer, VwVfG, 10. Auflage 2008, § 40 Rn. 44). Die Beweislast für das Vorliegen eines solchen Ausnahmefalls trägt – nach Ansicht der Kammer auch im Ausländerrecht – die Behörde. Die – nicht näher begründeten – Einwände der Beigeladenen hiergegen schlagen auch in Anbetracht der Regelung in § 82 Abs. 1 S. 1 AufenthG nicht durch. Danach muss der Ausländer seine Belange und für ihn günstige Umstände unter Angabe nachprüfbarer Umstände unverzüglich geltend machen und die erforderlichen Nachweise, die er erbringen kann, unverzüglich beibringen. Da der Kläger deutscher Staatsbürger ist, erscheint schon die Anwendbarkeit der Vorschrift beziehungsweise des sich aus ihr ergebenden Rechtsgedankens zweifelhaft. Nach dem Wortlaut verpflichtet die Norm ferner nur zur Beibringung von Nachweisen hinsichtlich der für den Ausländer günstigen Umstände. Eine Beweislastregelung, wonach der Ausländer auch Tatsachen hinsichtlich des Nichtvorliegens eines für ihn ungünstigen Ausnahmefalles beweisen müsste, lässt sich der Norm nicht entnehmen.

Vorliegend kommt zwar, folgt man der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 16/5065, S. 171), ein solcher Ausnahmefall grundsätzlich in Betracht, weil der Kläger zum einen Doppelstaatler ist und zum anderen auch im Heimatland seiner Ehefrau lange Jahre gelebt und gearbeitet hat. Das bedeutet aber nicht, dass allein deshalb schon ein solcher Ausnahmefall anzunehmen ist. Ausschlaggebend ist, ob es anhand einer Abwägung aller Umstände des konkreten Falls dem deutschen Ehegatten zuzumuten ist, die eheliche Lebensgemeinschaft im Ausland zu führen (vgl. VG Berlin, Beschluss vom 25. März 2009 – VG 34 V 76.08 –, S. 3 des Umdrucks; Hailbronner, AuslR, Stand: August 2009, § 28 Rn. 20; so wohl auch VG Berlin, Urteil vom 10. Dezember 2008 – VG 24 V 49.07 –, S. 5 des Umdrucks; vgl. auch – im Rahmen einer Ermessensprüfung – VG Berlin, Urteil vom 20. März 2009 – VG 21 V 46.08 –, S. 7 des Umdrucks). Die gesetzgeberische Intention ist zwar für die Bestimmung des Regelfalls in den Blick zu nehmen; darin erschöpft sich die Prüfung aber nicht. Bei Vorliegen der genannten Umstände nämlich kommt schon nach dem Wortlaut der Gesetzesbegründung Wortlaut ein Abweichen vom Regelfall lediglich "in Betracht", die Behörde und das Gericht werden vom Erfordernis einer umfassenden Einzelfallprüfung also nicht entbunden. Bei dieser Einzelfallprüfung ist besonders zu berücksichtigen, dass es sich bei § 28 Abs. 1 S. 3 AufenthG um eine von Verfassungs wegen eng auszulegende Ausnahmeregelung handelt. Gegen die Verfassungsmäßigkeit dieser nachträglich eingefügten Vorschrift werden in der Literatur teilweise erhebliche Bedenken geäußert (so Marx, in: GK-AufenthG, Stand: August 2009, § 28 Rn. 194 ff. m.w.N.; offen VG Berlin, Urteil vom 10. Dezember 2008 – VG 24 V 49.07 –, S. 4 des Umdrucks). Zum einen wird eingewandt, die Regelung diskriminiere (Art. 3 Abs. 3 GG) Deutsche trotz ihres Rechts auf Freizügigkeit (Art. 11 GG) allein aufgrund ihrer Herkunft. Zum anderen missachte die Norm die Funktion des Staatsangehörigkeitsrechts "als verlässliche Grundlage gleichberechtigter Zugehörigkeit". Den geäußerten Bedenken, welche die Kammer teilt, kann zwar mittels einer – grundsätzlich vorrangigen – verfassungskonformen Auslegung der Norm begegneten werden (so auch Oberhäuser, in: Hofmann/Hoffmann, AuslR, 2008, § 28 AufenthG Rn. 12; in diese Richtung auch Hailbronner, AuslR, a.a.O., § 28 Rn. 20). Eine solche Auslegung verlangt aber, die Anwendung der Vorschrift auf wenige, eindeutige Fälle zu beschränken. Insbesondere stellt § 28 Abs. 1 S. 3 AufenthG nach Ansicht der Kammer kein taugliches Instrument zur Korrektur einer – möglicherweise als verfehlt empfundenen – großzügigen Staatsangehörigkeitsregelung dar.

Unter Zugrundelegung dieser Erwägungen konnte die Kammer vorliegend nicht die Überzeugung gewinnen, dass es dem Kläger zumutbar ist, die eheliche Lebensgemeinschaft auch in der Ukraine zu führen. Somit kann im Übrigen dahinstehen, ob sich die Unzumutbarkeit bereits aus einem sonst entstehenden Konflikt mit vertriebenenrechtlichen Grundsatzentscheidungen ergibt, wie das Rundschreiben des Bundesinnenministeriums vom 27. März 2008 (Gz. PGZU – 125 000/9) andeutet.

Der Kläger hat mit mittlerweile fast 67 Jahren ein fortgeschrittenes Alter erreicht. Die Gewöhnung an eine neue Umgebung und die Reintegration in der Ukraine nach 13 Jahren Aufenthalt in Deutschland würde ihm voraussichtlich erheblich schwerer als einem jüngeren Menschen fallen. Dass die Aussicht besteht, in seinem Alter in der Ukraine noch einmal Arbeit zu finden, ist weder belegt, noch entspricht es der Lebenserfahrung. Der Kläger hält sich seit 1997 in der Bundesrepublik Deutschland auf, hat hier gearbeitet und Rentenansprüche, wenn auch nur in bescheidener Höhe, erworben. Zwar mag ihm diese Rente in der Ukraine ebenfalls ausgezahlt werden. Ob sie aber ausreicht, ihm dort einen halbwegs akzeptablen Lebensstandard und ausreichenden Krankenversicherungsschutz zu sichern, erscheint trotz bestehender Kaufkraftunterschiede zweifelhaft. Ihn als derzeit Vollbeschäftigten mit Sozialversicherungsschutz lediglich auf die Erwerbstätigkeit seiner Ehefrau zu verweisen, erscheint insoweit wenig sachgerecht – zumal völlig unklar ist, ob diese in der Ukraine ihren eigenen Lebensunterhalt und zusätzlich den ihres Mannes überhaupt dauerhaft zu tragen vermag. Einer weiteren Sachaufklärung bedurfte es insoweit nicht. Zum einen hat die Beigeladene diesbezüglich nichts Konkretes vorgetragen. Zum anderen handelt es sich dabei nur um einen von vielen Aspekten, aufgrund derer die Kammer letztlich von der Unzumutbarkeit ausgeht. Selbst wenn man unterstellt, die Rente wäre insoweit ausreichend, würde dies an der Einschätzung der Kammer im Ergebnis nichts ändern.

Dass der Kläger in der Ukraine eine zureichende medizinische Behandlung wegen der bevorstehenden Herzoperation erhalten und auch bezahlen könnte, ist darüber hinaus eher zweifelhaft, geschweige denn belegt. Nach glaubhaftem Vortrag in der mündlichen Verhandlung und nach Vorlage entsprechender Atteste hat die Kammer keine Zweifel am Vorliegen einer behandlungs- und operationsbedürftigen Herzerkrankung des Klägers. Der Umstand, dass der Kläger trotz der eigentlich erforderlichen Herzoperation noch zu seiner Frau in die Ukraine reiste und – offenbar entgegen ärztlichem Rat – Nachtschichten annimmt, lässt den Schluss nicht zu, die Operation sei medizinisch gar nicht notwendig. Dies spricht vielmehr für den Kläger, zeigt er dadurch doch, dass er auch unter Inkaufnahme einer Gefährdung seiner eigenen Gesundheit die Abhängigkeit von Sozialleistungen zu vermeiden sucht.

Der Kläger hat weiter seine Bemühungen, für seine Ehefrau in dem Betrieb, in dem er selbst arbeitet, eine Beschäftigungsmöglichkeit als Reinigungskraft zu erhalten, glaubhaft vorgetragen. [...]

Seine Söhne – ebenfalls deutsche Staatsangehörige –, Schwiegertöchter und Enkelkinder leben, wie der Kläger selbst, in Göttingen. [...]

Der Kläger war darüber hinaus seit seiner Einreise in das Bundesgebiet fast durchgängig erwerbstätig. [...]

Weiterhin ist die Zumutbarkeit der Wohnverhältnisse, welche der Kläger in der Ukraine vorfinden würde, nicht belegt. Nach dem mit Nachweisen belegten Vortrag des Klägers ist vielmehr schon jetzt von sehr beengten Wohnverhältnissen bei seiner Ehefrau auszugehen. [...]