Überprüfung des Wohnsitzes bei ausländischen EU-Fahrerlaubnissen. Deutsche Fahrerlaubnisbehörden können dem Inhaber eines ausländischen EU-Führerscheins das Recht entziehen, von dieser Fahrerlaubnis im Bundesgebiet Gebrauch zu machen, wenn Ermittlungen bei den Behörden des Ausstellermitgliedstaates ergeben, dass der Fahrerlaubnisinhaber zum Zeitpunkt der Erteilung dieses Führerscheins seinen ordentlichen Wohnsitz nicht im Ausstellermitgliedstaat hatte.
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Der Kläger, ein deutscher Staatsangehöriger, wendet sich gegen die Aberkennung des Rechts, von seiner in Polen erworbenen Fahrerlaubnis im Bundesgebiet Gebrauch zu machen. [...]
Die Revision des Klägers ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Entscheidung des Berufungsgerichts und zur Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz (§ 144 Abs. 3 Nr. 2 VwGO). Die Auffassung des Oberverwaltungsgerichts, der Beklagte habe dem Kläger das Recht zum Gebrauch machen von seiner in Polen erworbenen Fahrerlaubnis aberkennen dürfen, weil sie ihm nach seinen eigenen Angaben unter Verstoß gegen das Wohnsitzerfordernis erteilt worden sei, verletzt den gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der Anerkennung einer ausländischen EU-Fahrerlaubnis in der Auslegung, die er in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes gefunden hat (vgl. zuletzt EuGH, Beschluss vom 9. Juli 2009 - Rs. C-445/08, Wierer - NJW 2010, 217). Die Entscheidung des Berufungsgerichts würde sich jedoch im Ergebnis als richtig darstellen (§ 144 Abs. 4 VwGO), falls Ermittlungen bei den Behörden des Ausstellermitgliedstaates von dort herrührende unbestreitbare Informationen ergeben sollten, dass der Kläger zum Zeitpunkt der Ausstellung des Führerscheins seinen ordentlichen Wohnsitz nicht im Ausstellermitgliedstaat hatte. Die insoweit erforderlichen tatsächlichen Feststellungen hat das Berufungsgericht noch zu treffen. [...]
2. Das Berufungsgericht hat mit Recht angenommen, dass die innerstaatlichen Voraussetzungen für die Aberkennung des Rechts des Klägers, von seiner polnischen Fahrerlaubnis im Bundesgebiet Gebrauch zu machen, gemäß § 3 Abs. 1 StVG sowie § 46 Abs. 1 und 5 i.V.m. § 11 Abs. 8 FeV vorliegen. Auch der Kläger selbst stellt dies nicht in Abrede.
Die bisherigen Feststellungen des Berufungsgerichts rechtfertigen aber nicht seine Annahme, dass die Fahrerlaubnisbeschränkung auch mit dem gemeinschaftsrechtlichen Anerkennungsgrundsatz in Einklang steht.
a) Gemäß Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 91/439/EWG werden die von den Mitgliedstaaten ausgestellten Führerscheine gegenseitig anerkannt. Dabei regelt das europäische Gemeinschaftsrecht selbst zugleich die Mindestvoraussetzungen, die für die Erteilung einer Fahrerlaubnis erfüllt sein müssen. So muss nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 91/439/EWG die Fahreignung durch das Bestehen einer Prüfung nachgewiesen werden; außerdem hängt die Ausstellung des Führerscheins vom Vorhandensein eines ordentlichen Wohnsitzes im Ausstellermitgliedstaat ab (vgl. Art. 7 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie). Als ordentlicher Wohnsitz gilt nach Art. 9 der Richtlinie der Ort, an dem ein Führerscheininhaber wegen persönlicher oder beruflicher Bindungen gewöhnlich, d.h. während mindestens 185 Tagen im Kalenderjahr, wohnt.
Es ist Aufgabe des Ausstellermitgliedstaates zu prüfen, ob die im Gemeinschaftsrecht aufgestellten Mindestvoraussetzungen, insbesondere diejenigen hinsichtlich des Wohnsitzes und der Fahreignung, erfüllt sind und ob somit die Erteilung - gegebenenfalls die Neuerteilung - einer Fahrerlaubnis gerechtfertigt ist. Wenn die Behörden eines Mitgliedstaates einen Führerschein gemäß Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 91/439/EWG ausgestellt haben, sind die anderen Mitgliedstaaten nicht befugt, die Beachtung der in dieser Richtlinie aufgestellten Ausstellungsvoraussetzungen zu prüfen. Der Besitz eines von einem Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins ist als Nachweis dafür anzusehen, dass der Inhaber des Führerscheins am Tag der Erteilung diese Voraussetzungen erfüllte (EuGH, Beschluss vom 9. Juli 2009 - Rs. C-445/08, Wierer - a.a.O. Rn. 39 f.; Urteile vom 19. Februar 2009 - Rs. C-321/07, Schwarz - Rn. 76 f., vom 26. Juni 2008 - Rs. C-329/06 und C-343/06, Wiedemann u.a. - Slg. 2008, I-4635 = NJW 2008, 2403 Rn. 52 f. und Rs. C-334/06 bis C-336/06, Zerche u.a. - Slg. 2008, I-4691 Rn. 49 f., unter Bezugnahme auf die Beschlüsse vom 6. April 2006 - Rs. C-227/05, Halbritter - Slg. 2006, I-49 Rn. 34 und vom 28. September 2006 - Rs. C-340/05, Kremer - Slg. 2006, I-98 Rn. 27).
Dementsprechend sind die Befugnisse der Mitgliedstaaten nach Art. 8 Abs. 2 und 4 der Richtlinie 91/439/EWG; eingeschränkt (vgl. dazu im Einzelnen Urteil vom 11. Dezember 2008 - BVerwG 3 C 26.07 - BVerwGE 132, 315 = Buchholz 442.10 § 3 StVG Nr. 2 Rn. 30). Ein Zugriffsrecht des Mitgliedstaates besteht jedoch dann, wenn der neue Führerschein unter Missachtung der in der Richtlinie geregelten Wohnsitzvoraussetzung ausgestellt worden ist. Ein Mitgliedstaat darf es ablehnen, in seinem Hoheitsgebiet die Fahrberechtigung anzuerkennen, die sich aus einem zu einem späteren Zeitpunkt von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerschein ergibt, wenn auf der Grundlage von Angaben in diesem Führerschein oder anderen vom Ausstellermitgliedstaat herrührenden unbestreitbaren Informationen feststeht, dass zum Zeitpunkt der Ausstellung dieses Führerscheins sein Inhaber, auf den im Hoheitsgebiet des ersten Mitgliedstaates eine Maßnahme des Entzugs der früheren Fahrerlaubnis angewendet worden ist, seinen ordentlichen Wohnsitz nicht im Hoheitsgebiet des Ausstellermitgliedstaates hatte (EuGH, Urteile vom 26. Juni 2008 - Rs. C-329/06 und C-343/06, Wiedemann u.a. - a.a.O. Rn. 68 ff. sowie Rs. C-334/06 bis C-336/06, Zerche u.a. - a.a.O. Rn. 65 ff.). Diese Aufzählung der Erkenntnisquellen ist abschließend. Insoweit können die Erklärungen und Informationen, die der Inhaber dieses Führerscheins in dem im Aufnahmemitgliedstaat durchgeführten Verwaltungsverfahren oder gerichtlichen Verfahren in Erfüllung einer Mitwirkungspflicht gemacht hat, nicht als vom Ausstellermitgliedstaat herrührende Informationen qualifiziert werden, die beweisen, dass der Inhaber zum Zeitpunkt der Ausstellung seines Führerscheins seinen Wohnsitz nicht in diesem Mitgliedstaat hatte (EuGH, Beschluss vom 9. Juli 2009 - Rs. C-445/08, Wierer - a.a.O. Rn. 53 ff.).
b) Gegen diese Vorgaben hat das Berufungsgericht verstoßen, indem es allein aufgrund eines Eingeständnisses des Fahrerlaubnisinhabers und aufgrund ihm als eigener Verlautbarung zurechenbarer Angaben auf einen Verstoß gegen das Wohnsitzerfordernis des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 91/439/EWG geschlossen hat. Damit greift das Berufungsgericht auf andere als die in den Urteilen vom 26. Juni 2008 abschließend genannten Beweismittel zurück. Zudem ebnet das Oberverwaltungsgericht die Unterscheidung zwischen aus dem Aufnahme- und dem Ausstellermitgliedstaat herrührenden Informationen ein, wenn es sich zur Begründung einer Eignungsprüfungs- und Aberkennungsbefugnis der deutschen Fahrerlaubnisbehörden auf die Angaben des Klägers gegenüber den deutschen Meldebehörden, das Fehlen substanziierter Angaben zu seinem polnischen Wohnsitz sowie darauf gestützt hat, dass der Kläger 2005 in Deutschland als Verkehrsteilnehmer aufgefallen sei. Die Notwendigkeit einer Differenzierung nach der Herkunft der Informationen hat der Europäische Gerichtshof im Beschluss vom 9. Juli 2009 jedoch gerade noch einmal hervorgehoben. Schließlich müssen nach seinen Entscheidungen vom 9. Juli 2009 und vom 26. Juni 2008 die Informationen über den Verstoß gegen das Wohnsitzerfordernis sowohl "unbestreitbar" sein als auch "aus dem Ausstellermitgliedstaat herrühren". Es reicht somit nicht aus, dass es sich - ungeachtet ihres Ursprungs - um unbestreitbare oder unbestrittene Informationen handelt, wie das Berufungsgericht angenommen hat.
c) Dem Beschluss des Europäischen Gerichtshofes vom 9. Juli 2009 ist außerdem zu entnehmen, dass auch die Begründung, die der Klageabweisung in der ersten Instanz zugrunde lag, nicht tragfähig ist. Der Europäische Gerichtshof hat - ungeachtet der 3. EU-Führerscheinrichtlinie - erneut bekräftigt, dass nur unter den engen und von ihm abschließend bestimmten Voraussetzungen Ausnahmen vom gemeinschaftsrechtlichen Anerkennungsgrundsatz gemacht werden dürfen. Danach führen nicht bereits die Absicht des Fahrerlaubnisinhabers, die strengeren Erteilungsvoraussetzungen seines Heimatstaates zu umgehen, und der daran geknüpfte Einwand des Rechtsmissbrauchs dazu, dass der Aufnahmemitgliedstaat ohne Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht die Anerkennung der im Ausland erteilten EU-Fahrerlaubnis verweigern kann. [...]
Es kann hier zunächst offenbleiben, welche Konsequenzen sich ergeben, wenn ein in diesem Sinne berechtigtes Auskunftsersuchen trotz der gemeinschaftsrechtlichen Kooperationspflicht unbeantwortet bleibt. Es liegt nicht fern, dass in einem solchen Fall die Handlungsmacht der deutschen Behörde im Angesicht ernstlicher Zweifel an der Fahreignung auch aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht nicht auf Dauer beschränkt sein kann. Gemeinschaftsrechtlich unbedenklich dürfte jedenfalls eine vorläufige Aberkennung des Rechts sein, von der Fahrerlaubnis im Inland Gebrauch zu machen, bis die Wohnsitzfrage geklärt ist. Eine solche vorläufige Maßnahme kennt das deutsche Recht jedoch bisher nur bei dem dringenden Verdacht einer Verkehrsstraftat (§ 111 a StPO). Es ist daher Sache des deutschen Gesetzgebers zu regeln, ob und unter welchen Voraussetzungen die Fahrerlaubnisbehörden zu derartigen vorläufigen Maßnahmen befugt sein sollen.