VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 26.11.2009 - 8 A 1862/07.A - asyl.net: M16983
https://www.asyl.net/rsdb/M16983
Leitsatz:

Jungen ledigen Männern aus Afghanistan, die ihr Heimatland im Kindesalter als Vollwaisen ohne Angehörige und ohne abgeschlossene Schulausbildung verlassen haben, droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine Extremgefahr, die ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG begründet, wenn nicht durch ein in Afghanistan funktionierendes soziales Netzwerk sichergestellt ist, dass sie dort eine menschenwürdige Existenzgrundlage finden können.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, Afghanistan, extreme Gefahrenlage, Existenzgrundlage
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Die Berufung ist jedoch nicht begründet, denn der Kläger wäre im Falle einer unfreiwilligen Rückkehr nach Afghanistan dort mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Lebensverhältnissen ausgesetzt, die als Extremgefahr im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. dessen Urteil vom 12. Juli 2001 – 1 C 2.01 –, BVerwGE 114, 349 = juris Rdnr. 9 m.w.N) anzusehen wären, so dass spätestens durch den Erlass des Hessischen Ministeriums des Innern und für Sport vom 27 Juli 2005 (StAnz. S. 3258) eine Regelungslücke im Hinblick auf anderweitigen Schutz nach §§ 60 Abs. 7 S. 3, 60a Abs. 1 S. 1 AufenthG entstanden ist, die durch eine verfassungskonforme Auslegung des § 60 Abs.7 S. 1 AufenthG zu schließen ist. Insoweit kann auf die nach wie vor zutreffenden Ausführungen in dem Urteil des Senats vom 7. Februar 2008 – 8 UE 1913/06.A –, ESVGH 58, 251 = juris Rdnrn.13 ff.) verwiesen werden. Allerdings ist der Senat aufgrund der seinerzeit zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen unter Berücksichtigung der persönlichen Lebensverhältnisse des damaligen Klägers zu dem Ergebnis gekommen, diesem Kläger drohe bei einer Rückkehr nach Afghanistan keine zur Annahme einer verfassungswidrigen Regelungslücke führende Extremgefahr (vgl. juris, Rdnrn. 35 f.):

"Zusammenfassend lässt sich aus den verwerteten Erkenntnisquellen die auch aus den übrigen, hier nicht ausdrücklich zitierten Quellen gespeiste Erwartung ableiten, dass der Kläger als junger, allein stehender Afghane ohne nennenswertes Vermögen, ohne abgeschlossene Berufsausbildung und ohne schwerwiegende gesundheitliche Beeinträchtigungen im Falle einer zwangsweisen Rückführung in sein Heimatland dort zwar keine Eingliederungshilfe durch den afghanischen Staat, ausländische Hilfsorganisationen oder die eigene Familie zu erwarten hätte, aber aufgrund seines Lebensalters und des Fehlens familiärer Bindungen mit daraus resultierenden Unterhaltslasten wahrscheinlich in der Lage wäre, durch Gelegenheitsarbeiten in K[abul] oder auch in seiner Heimatstadt ... wenigstens ein kümmerliches Einkommen zu erzielen, damit ein Leben am Rande des Existenzminimums zu finanzieren und sich allmählich wieder in die afghanische Gesellschaft zu integrieren. Zwar sprechen manche von den Gutachtern mitgeteilte Details auch für die gegenteilige Schlussfolgerung, jedoch lässt sich daraus allein nicht die für eine analoge Anwendung des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG erforderliche hohe Wahrscheinlichkeit ableiten, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan dort verhungern würde oder ähnlich existenzbedrohenden Mangellagen ausgesetzt wäre. Angesichts der zahlreichen Rückkehrer nach Afghanistan und der ständig anwachsenden Bevölkerungszahlen insbesondere in K[abul] ist der Senat davon überzeugt, dass dort trotz zahlreicher Todesfälle durch Mangelernährung und anderweitige Unterversorgung gerade für junge, arbeitsfähige Männer Überlebenschancen bestehen, auch wenn sie nicht durch eine bedarfsgerechte Ausbildung und familiäre oder sonstige Beziehungen begünstigt werden. Unter diesen Umständen kann es nicht als verfassungswidrig bezeichnet werden, dass die obersten Landesbehörden dieser Personengruppe seit 2005 den früher kollektiv eingeräumten Abschiebungsschutz entzogen haben.

Wegen der angespannten Sicherheitslage ist zwar nicht auszuschließen, dass der Kläger, der nicht selbst besondere Gefährdungsmerkmale wie etwa eine in Afghanistan nicht verbreitete Religionszugehörigkeit aufweist, zufällig Opfer auch schwerster Gewalttaten wird, wie sie in beiden eingeholten Gutachten glaubhaft geschildert worden sind. Da diese Ereignisse zwar zahlreich, aber gemessen an der gesamten Einwohnerzahl Afghanistans bzw. der beiden als Rückkehroption in Betracht kommenden Städte doch nicht so häufig sind, dass mit überwiegender Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen wäre, dass der Kläger selbst Opfer von Selbstmordanschlägen, Bombenexplosionen oder vergleichbaren Ereignissen werden bzw. durch Raubüberfälle oder durch andere schwere Straftaten nachhaltig in seiner körperlichen Integrität verletzt werden oder seiner wirtschaftlichen Existenzgrundlage gänzlich verlustig gehen wird, kann nicht als glaubhaft gemacht angesehen werden, dass der Kläger durch eine Abschiebung nach Afghanistan, gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde’ (BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2001 - 1 C 2.01 -, a.a.O.)".

Diese Einschätzung lässt sich aufgrund einer weiter problematischen Erkenntnislage zur Rückkehrsituation junger Afghanen in Kabul und anderen Regionen Afghanistans und aufgrund der persönlichen Verhältnisse des Klägers nicht auf den vorliegenden Einzelfall übertragen.

Das Auswärtige Amt hat in seinem Lagebericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in Afghanistan vom 3. Februar 2009 mitgeteilt (vgl. dort S. 26 f.), Afghanistan durchlebe derzeit eine Nahrungsmittelkrise und gelte als ärmstes Land Asiens. Seit dem Winter 2007/08 habe sich die Lage mit weltweit steigenden Nahrungsmittelpreisen, verbunden mit Exportbeschränkungen der Nachbarländer für Weizen und einer Dürre in einigen Landesteilen, nochmals erheblich verschärft. In dem jüngsten vorliegenden Lagebericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in Afghanistan vom 28. Oktober 2009 (vgl. dort S. 32) heißt es allerdings, aufgrund günstiger Witterungsbedingungen mit weit überdurchschnittlichen Niederschlägen seien die Ernteaussichten für das Jahr 2009 deutlich besser als im Dürrejahr 2008, woraus in diesem Jahr auch eine deutlich verbesserte Ernährungssituation bzw. Versorgung der Bevölkerung mit Weizen als wichtigstem Grundnahrungsmittel resultieren dürfte. Von diesen verbesserten Rahmenbedingungen profitierten grundsätzlich auch die Rückkehrer. Gleichwohl problematisch bleibe die Lage der Menschen in den ländlichen Gebieten, insbesondere des zentralen Hochlandes. In den Städten sei die Versorgung mit Wohnraum zu angemessenen Preisen nach wie vor schwierig. Staatliche soziale Sicherungssysteme seien praktisch nicht vorhanden, Renten-, Arbeitslosen- und Krankenversicherung gebe es nicht. Familien und Stammesverbände übernähmen die soziale Absicherung. Afghanen, die außerhalb des Familienverbandes oder nach einer längeren Abwesenheit im westlichen Ausland zurückkehrten, stießen auf größere Schwierigkeiten als Rückkehrer, die in Familienverbänden geflüchtet seien oder in einen solchen zurückkehrten, da ihnen das notwendige soziale oder familiäre Netzwerk sowie die notwendigen Kenntnisse der Verhältnisse fehlten.

Der Kläger erfüllt aufgrund seiner persönlichen Lebensgeschichte die Voraussetzungen der vom Auswärtigen Amt geschilderten Rückkehrrisiken in besonders ausgeprägtem Maße. Denn er hat durch den Tod seiner Eltern schon vor der Ausreise aus Afghanistan seine soziale Infrastruktur im Heimatort verloren und nur durch die großzügige Unterstützung des Zimmervermieters und die von diesem organisierte Ausreise nach Deutschland wieder eine sichere Lebensgrundlage erlangen können. Der Kläger hat in Afghanistan weder eine Schule besucht noch irgendwelche Erfahrungen im Arbeitsleben sammeln können, so dass er mit den Lebensverhältnissen in seinem Herkunftsland nicht vertraut ist und sich selbst dann, wenn sich dort die Lebensverhältnisse von Rückkehrern aus dem Ausland allmählich normalisieren sollten, kaum eine Existenzgrundlage schaffen könnte, sondern dort weitgehend schutzlos Hunger, Kälte und damit verbundenen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt wäre. Er ist nach einem behüteten Leben im Haushalt seiner Eltern und später in der Obhut des Zimmervermieters im Kindesalter in eine ihm fremde Umgebung in Westeuropa umgesetzt worden und hat hier seit nunmehr fünf Jahren eine in der mündlichen Verhandlung näher aufgeklärte Sozialisation erfahren, die ihn den ihm weitgehend unbekannten Lebensverhältnissen in seinem Heimatland weiter entfremdet haben dürfte. Der Kläger hat während seiner informatorischen Anhörung den vom Senat schon vorher aus den Akten gewonnenen Eindruck unbedingter Glaubwürdigkeit bestätigt. Er hat seine Lebensverhältnisse in Afghanistan sowie die Ursachen und Umstände seiner Ausreise ohne jede Dramatisierung geschildert, ohne dass dabei der geringste Widerspruch zu seinen früheren Bekundungen aufgetreten wäre. Es ist deutlich geworden, dass er eine tiefe Dankbarkeit gegenüber dem früheren Vermieter aus Herat und dessen Ehefrau empfindet, weil sie ihn nach dem Tod seiner Mutter, der letzten im Afghanistan lebenden Angehörigen, in ihre Obhut genommen, unterrichtet und schließlich nach Europa gebracht haben, um ihm die als damals minderjähriger Vollwaise in Afghanistan drohende Existenzgefährdung zu ersparen. [...]