VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 24.02.2010 - A 11 S 47/07 - asyl.net: M16993
https://www.asyl.net/rsdb/M16993
Leitsatz:

1. Keine extreme Gefahrenlage für Rückkehrer im Kosovo, da durch das URA 2-Projekt Unterstützung gewährleistet ist.

2. Kein Abschiebungsverbot wegen PTBS und Retraumatisierungsgefahr, da hinreichende Behandlungsmöglichkeiten im Kosovo, insbesondere wenn dies aufgrund der Verschlechterung des aktuell guten Zustandes bzw. der befürchteten Retraumatisierung nötig sein sollte.

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, Kosovo, Posttraumatische Belastungsstörung, medizinische Versorgung, Retraumatisierung, extreme Gefahrenlage, Rückkehrprojekt URA 2
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

2. Auch ein - national begründetes - Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist im Falle des Klägers (jedenfalls) nicht (mehr) erkennbar. Nach dieser Norm soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn diesem dort eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit droht. Dies setzt das Bestehen individueller Gefahren voraus. Beruft sich ein Ausländer hingegen auf allgemeine Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG, die nicht nur ihn persönlich, sondern zugleich die gesamte Bevölkerung oder seine Bevölkerungsgruppe allgemein treffen, wird - abgesehen von Fällen der richtlinienkonformen Auslegung bei Anwendung von Art. 15 lit. c der Qualifikationsrichtlinie für internationale oder innerstaatliche bewaffnete Konflikte - der Abschiebungsschutz grundsätzlich nur durch eine generelle Regelung der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gewährt. Beim Fehlen einer solchen Regelung kommt die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur zur Vermeidung einer verfassungswidrigen Schutzlücke (Art. 1, Art. 2 Abs. 2 GG) in Betracht, d.h. nur zur Vermeidung einer extremen konkreten Gefahrenlage in dem Sinne, dass dem Ausländer sehenden Auges der sichere Tod droht oder er schwerste Gesundheitsbeeinträchtigungen zu erwarten hätte (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.06.2008 - 10 C 43.07-, a.a.O. Rn. 31 f.).

Eine solche extreme konkrete Gefahrenlage besteht für den Kläger, der arbeitsfähig ist sowie die Landessprache beherrscht, bei einer Rückkehr in seine Heimat offenkundig nicht. Insbesondere die hohe Arbeitslosigkeit und das niedrige Sozialhilfeniveau führen jedenfalls nicht zu Todesgefahr oder der Gefahr einer schwersten Gesundheitsbeeinträchtigung. Im Rahmen des URA 2-Projektes wird für Rückkehrer aus den das Projekt finanzierenden Bundesländern Baden-Württemberg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen für vorübergehende Wohnmöglichkeiten gesorgt, Hilfe geleistet bei der Wohnungssuche und für einen Übergangszeitraum die Miete bezahlt, Geld für Lebensmittelhilfen zur Verfügung gestellt, bei der Arbeitsplatzsuche geholfen sowie Unterstützung bei Behördengängen angeboten. Aus diesem Grund ist rechtlich nicht entscheidungserheblich, dass im Kosovo sein langjähriger Freund R. lebt sowie seine Mutter; nach Angaben des Klägers ist unklar, ob Freund oder Mutter ihn aufnehmen würden bzw. ob er bei diesen hinreichende "Zuwendung" finden könnte. Nach Auskunft der Deutschen Botschaft Pristina vom 22.11.2009 ist nach derzeitiger Erkenntnislage jedenfalls von einer Verlängerung des URA II-Projektes "bis mindestens 31.12.2010" auszugehen. Diese Auskunft genügt dem Senat, um im Falle des Klägers eine extreme konkrete Gefahrenlage zu verneinen.

Auch im Hinblick auf den Gesundheitszustand des Klägers vermag der Senat keine erhebliche konkrete Gefahrenlage für ihn im Kosovo zu erkennen. Nach den vorliegenden ärztlichen und psychologischen Attesten und Stellungnahmen - vor allem der Stellungnahmen der PBV S. vom 23.07.2009, von Diakon Dipl.-Psych. H. vom 17.07.2009, 23.07.2009, 25.07.2009, 12.08.2009, 31.12.2009 und 20.02.2010, von Dr. F. vom 02.09.2009 sowie von Prof. R. vom 03.09.2009 - kann nach Überzeugung des Senats im Falle des Klägers nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von einer wesentlichen Verschlechterung seines Gesundheitszustandes alsbald nach der Rückkehr in die Heimat ausgegangen werden, insbesondere weil eine adäquate Behandlung dort nicht möglich oder nicht erlangbar ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 - BVerwGE 127, 33). Zwar wurde bei dem Kläger eine PTBS sowie das Auftreten von dissoziativen Krampfanfällen diagnostiziert. Nach allen aktuelleren Befundberichten und Stellungnahmen wurde im Falle des Klägers jedoch eine speziell für Flüchtlinge entwickelte mehrjährige traumazentrierte Individualpsychotherapie offenbar "mit sehr gutem Erfolg" (Prof. R.) durchgeführt. Nach der psychiatrisch-gutachterlichen Stellungnahme Prof. R. vom 03.09.2009 waren bei der klinischen und neurologischen Untersuchung keine pathologischen Veränderungen eruierbar. Seit 2006 habe der Kläger zudem keine Anfälle mit Bewusstseinsstörungen mehr gehabt. Der Zustand der PTBS mit chronischem Verlauf habe sich allmählich gebessert. Einige Beschwerden bestünden überhaupt nicht mehr, andere Störungen seinen von reduzierter Intensität. Die medikamentöse Therapie sei im jetzigen Stadium von sekundärer Bedeutung. Die Weiterführung der Psychotherapie jedoch sei vielleicht noch über 1 - 2 Jahre für die Stabilisierung des Genesungsprozesses unerlässlich. Auch Dr. F. geht in seinem Arztbrief vom 02.09.2009 von einer überzeugenden Symptomreduktion aus, hält aber eine Fortsetzung der Psychotherapie weiter für notwendig. Die behandelnde Psychotherapeutin M. hält in ihrer Stellungnahme vom 23.07.2009 bei einer Abschiebung des Klägers in den Kosovo eine drastische Verschlechterung der derzeit deutlich gebesserten Symptomatik für wahrscheinlich und den erneuten Ausbruch des Vollbildes einer PTBS für möglich. In der Therapie seien dagegen kaum noch Belastungszeichen bei der Schilderung der Erlebnisse im Kosovo zu beobachten. Seit Mai 2007 sei der Kläger auch nur noch in größeren zeitlichen Abständen in die PBV gekommen.

Auf der Grundlage der in das Verfahren einbezogenen Erkenntnisquellen geht der Senat davon aus, dass die - nach Einschätzung von Diakon Dipl.-Psych. H. unheilbare - chronische PTBS des Klägers im Kosovo hinreichend behandelt werden kann, insbesondere wenn dies aufgrund einer Verschlechterung des aktuell guten Zustandes bzw. der von Psychotherapeutin M. befürchteten Retraumatisierung nötig sein sollte. Im Gegensatz vor allem zur Einschätzung von Diakon Dipl.-Psych. H. vom 20.02.2010, der dem Kläger in menschlich vorbildlicher Weise im Berufungsverfahren beisteht und weiter helfen möchte, geht der Senat davon aus, dass die fortgesetzt behandlungsbedürftige PTBS des Klägers im Kosovo, wenn vielleicht auch nicht optimal, so doch hinreichend behandelt werden kann. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes - Kosovo - vom 19.10.2009 (S. 19, 24 f.) können aus Deutschland Zurückgeführte bei einer psychischen Erkrankung insbesondere in Form einer PTBS unmittelbar nach ihrer Ankunft kostenlos die Hilfs- und Unterstützungsleistungen des - bis zumindest 31.12.2010 verlängerten (vgl. Dt. Botschaft Pristina, Auskunft vom 22.11.2009) - Kosovo-Rückkehrerprojekts "URA II" in Anspruch nehmen. Psychologen, die in Deutschland zu Trauma-Spezialisten geschult worden sind, bieten eine professionelle Behandlung psychischer Erkrankungen an und/oder sind bei der Vermittlung von qualifizierten Psychologen behilflich. Zudem sehen sich im Kosovo praktizierende Ärzte in der Lage, trotz teilweise fehlender psychotherapeutischer Qualifikationen, psychotherapeutisch orientierte Gespräche mit an PTBS leidenden Patienten zu führen. Die medizinische Grundversorgung der Bevölkerung wird im Kosovo durch das staatlich finanzierte Gesundheitssystem gewährleistet. Sollte der Kläger auf Sozialhilfeleistungen angewiesen sein, wäre er von Zuzahlungen befreit.

Soweit der Kläger die Einholung von Sachverständigengutachten zur Frage der Unheilbarkeit einer PTBS, zur möglichen Retraumatisierung bei Rückführung sowie zur Bestätigung dafür begehrt, dass sich "die gewachsene Vertrauensbeziehung" zur Psychotherapeutin M. "nicht ohne weiteres auf eine neue Therapeutin übertragen lässt", ist dies schon deshalb nicht erforderlich, weil der Senat sowohl die Unheilbarkeit als auch die mögliche Retraumatisierung und Nichtübertragbarkeit der Vertrauensbeziehung zu Gunsten des Klägers unterstellt. Auch vor dem Hintergrund des Grundsatzes der Amtsermittlung (§ 86 Abs. 1 VwGO) besteht mithin kein Anlass, den Sachverhalt weiter aufzuklären. [...]