LSG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 27.01.2010 - L 19 B 312/09 AS - asyl.net: M17010
https://www.asyl.net/rsdb/M17010
Leitsatz:

1. Zulässigkeit einer PKH-Beschwerde unabhängig vom Wert der Beschwer, da § 127 Abs. 2 S. 2 ZPO im sozialgerichtlichen Verfahren nicht entsprechend anwendbar ist.

2. Bei der Überweisung von Unterkunftskosten (nach § 22 SGB II) an den Vermieter dürfte Erfüllung (§ 362 BGB) ausgeschlossen sein, wenn kein ausdrückliches Einverständnis des Leistungsberechtigten vorliegt.

3. Kommt es nach regelmäßiger Übernahme der Heizkostenvorauszahlungen bzw. Abschläge der jeweiligen Monate zu Nachforderungen bzw. Nachzahlungen, gehören solche Zahlungen zum aktuellen Bedarf an Unterkunftsleistungen nach § 22 SGB II im Fälligkeitsmonat.

Schlagwörter: Prozessrecht, Beschwerdeverfahren, Prozesskostenhilfe, Wert der Beschwer, sozialgerichtliches Verfahren, SGB II, Regelleistung, Heizkosten, Nachzahlung, Warmwasser,
Normen: SGG § 172 Abs. 3 Nr. 1, ZPO § 127 Abs. 2 S. 2, SGG § 73a Abs. 1, SGG § 172 Abs. 3, BGB § 362, SGB II § 20, SGB II § 42, SGB II § 22
Auszüge:

[...]

Die entgegen der Annahme der Beklagten Beschwerde ist zulässig. Der Zulässigkeit der Beschwerde steht nicht entgegen, dass der mit 509,80 € (4 x 127,40 €) bezifferte Wert der Beschwer die nach § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG in der ab dem 01.04.2008 geltenden Fassung durch das Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26.03.2008 (BGBl. I, 444) i.V.m. § 144 Abs. 1 Satz Nr. 1 SGG i.d.F. des genannten Gesetzes geltende Zulässigkeitsschwelle von mehr als 750,00 € nicht übersteigt.

Zwar garantiert das Grundgesetz nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich auch im Prozesskostenhilfeverfahren keinen Instanzenzug (vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 25.11.2009 - 1 BvR 2515/09 - m.w.N.).

Insbesondere für den Zivilprozess bestimmt § 127 Abs. 2 S. 2 der Zivilprozessordnung, dass die Beschwerde gegen einen ablehnenden Prozesskostenhilfebeschluss nicht gegeben ist, wenn im Hauptsacheverfahren die Berufung wegen zu geringen Wertes der Beschwer unzulässig ist.

§ 127 Abs. 2 Satz 2 ZPO findet jedoch im sozialgerichtlichen Verfahren keine entsprechende Anwendung über § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG (aus der jüngeren Rechtsprechung ebenso Beschluss des LSG Niedersachsen-Bremen vom 09.06.2008 - L 9 B 117/08 AS -, Beschluss des LSG Rheinland-Pfalz vom 09.01.2009 - L 1 AY 6/09 B -; a.A. Beschlüsse des Hessischen LSG vom 08.07.2009 - L 6 AS 174/09 B -, des Sächsischen LSG vom 18.08.2009 - L 2 AS 321/09 B PKH -; des LSG Mecklenburg-Vorpommern vom 18.08.2009 - L 8 B 258/09 -, des Bayerischen LSG vom 22.10.2009 - L 7 AS 525/09 B -). Zur Nichtanwendung von § 127 Abs. 2 Satz 2 2. Alt. ZPO im sozialgerichtlichen Verfahren hat der Senat - zur damaligen Rechtslage mit einem Wert der erforderlichen Beschwer mit mehr als 500,00 € nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG a.F. -, wie folgt entschieden (Beschluss vom 1.8.04.2007 - L 19 B 42/06 AL - m.w.N., zugänglich unter www.sozialgerichtsbarkeit.de):

"§ 127 Abs. 2 Satz 2. 2. Alt. ZPO in der Fassung des Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses (ZPO-RG) vom 27.07.2001 (BGBl. I, 1887) bestimmt, dass die sofortige Beschwerde gegen die Entscheidung über die Ablehnung der Prozesskostenhilfe nicht statthaft ist, wenn der Streitwert der Hauptsache den in § 511 ZPO genannten Betrag nicht übersteigt, es sei denn, das Gericht hat ausschließlich die persönlichen oder wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Prozesskostenhilfe verneint. § 511 ZPO, der die Statthaftigkeit der Berufung im Zivilprozess regelt, ist jedoch mit der Regelung über die Zulässigkeit der Berufung im sozialgerichtlichen Verfahren in § 144 SGG nicht identisch. Die analoge Anwendung letzterer Vorschrift im sozialgerichtlichen Prozesskostenhilfe-Verfahren scheitert am Fehlen einer planwidrigen gesetzgeberischen Lücke (vgl. Peters/Sautter/Wolf a.a.O.; LSG Baden-Württemberg Beschl. v. 02.01.2007 - L 13 AS 4100/06 PKH-B; a.A. LSG Baden-Württemberg Beschl. v. 06.09.2005 - L 8 AL 1862/05 PKH-B)." [...]

An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest.

Die nachfolgende Rechtsentwicklung insbesondere in Gestalt der Einführung von § 172 Abs. 3 SGG durch das Gesetz vom 26.03.2008 (a.a.O.) zwingt nicht zu einer Abweichung.

Soweit in der Rechtsprechung die Meinung vertreten wird, es sei schwer vorstellbar, dass der Gesetzgeber mit der Gesetzesänderung vom 26.03.2008 durch Einführung von § 172 Abs. 3 SGG die Sozialgerichte habe entlasten und zugleich den Beschwerdeausschluss wegen Unterschreitung des Beschwerdewertes nach § 127 Abs. 2 Satz 2 2. Halbs. ZPO beseitigen wollen (Beschluss des LSG Bayern vom 22.10.2009 - L 7 AS 525/09 B -), überzeugt diese Begründung weder angesichts des eindeutig formulierten Wortlautes von § 172 Abs. 3 SGG noch in Anbetracht der hierzu gegebenen Begründung des Gesetzgebers.

§ 172 Abs. 3 SGG in der ab dem 01.04.2008 geltenden Fassung nennt für Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, Prozesskostenhilfeentscheidungen, Kostengrundentscheidungen und Entscheidungen über Verschuldenskosten nach § 192 Abs. 2 Satz 2 SGG jeweils verschiedene Beschwerdeausschlussgründe.

Dies entspricht dem Entwurf des Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes sowie dem Wortlaut der hierzu gegebenen Begründung (BT Drucks. 16/7716, S. 2), wo nach Betonung des Entlastungsgedankens in exakt der gleichen Weise differenziert wird, wie innerhalb von § 172 Abs. 3 Nrn. 1 bis 3 SGG der später Gesetz gewordenen Fassung.

Es kann hiernach ausgeschlossen werden, dass der alleine für Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes eingeführte Beschwerdeausschluss bei Unzulässigkeit der Berufung auch für die Ablehnung von Prozesskostenhilfe gemeint war, wenn als einziger Grund der Unzulässigkeit einer Beschwerde die Ablehnung wegen Verneinung der persönlichen oder wirtschaftlichen Voraussetzungen genannt wird.

Die Beschwerde ist auch begründet.

Der nicht mutwilligen Rechtsverfolgung des nach seinen Angaben zu den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen bedürftigen Klägers kann hinreichende Erfolgsaussicht im Sinne von §§ 73a SGG, 114 ZPO nicht abgesprochen werden. Mindestens ein Teilerfolg der Klage ist vielmehr wahrscheinlich:

Mit Bescheid vom 19.12.2006 hat die Beklagte dem Kläger für den Zeitraum von August 2006 bis einschließlich Januar 2007 Grundsicherungsleistungen nach § 20 SGB II in Höhe des seinerzeit maßgeblichen Regelsatzes für Alleinstehende in Höhe von 345,00 € monatlich abzüglich der ab September 2006 erzielten anrechenbaren Einkünfte (28,00 € im September, 84,00 € Oktober, 76,00 € im November, 80,00 € Dezember 2006, 80,00 € Januar 2007) bewilligt. Die Summe der bewilligten Grundsicherungsleistungen nach § 20 SGB II von August 2006 bis Januar 2007 beträgt 1.722,00 €. Mit Schriftsatz vom 13.07.2009 hat die Beklagte unter Beifügung einer Aufstellung erbrachter Zahlungen angegeben, dem Antragsteller 1.091,00 € direkt ausgezahlt zu haben. Zudem habe der Kläger von der Stadtkasse Dülmen am 13.12.2006 noch eine Erstattung (Rückzahlung überzahlter Nutzungsentschädigungen von 266,28 €) erhalten.

Die Differenz zu den nominell bewilligten Regelleistungen nach § 20 SGB 11 erklärt die Beklagte im genannten Schriftsatz dadurch, sie habe aus Regelleistungsansprüchen Kosten der Warmwasserbereitung und über den pauschaliert bewilligten monatlichen Heizkosten liegende Kosten der Beheizung seiner Unterkunft einbehalten und an Dritte abgeführt. Dieses Vorgehen begegnet Bedenken.

Bereits im Ansatz problematisch ist, ob Ansprüche auf Regelleistungen nach § 20 SGB II anders als durch Direktauszahlung an den Berechtigten erfüllt werden können (vgl. Beschluss des Senats vom 17.12.2007 - L 19 B 31/07 AS - www.sozialgerichtsbarkeit.de). Denn bei dem von der Beklagten zu erfüllenden Anspruch auf Regelleistungen nach § 20 SGB II handelt es sich um ohne Verwendungsbeschränkungen zu befriedigende Ansprüche auf Geldleistungen zur Deckung der in § 20 Abs. 1 SGB II im Einzelnen näher beschriebenen Bedarfe.

Bezüglich dieser Ansprüche kann daher Erfüllung in entsprechender Anwendung von § 362 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) als Ausdruck eines allgemeinen, auch im Sozialrecht anzuwendenden Rechtsgrundsatzes (u.a. Urteil des BSG vom 29.01.1997 - 5 RJ 52/94 -; Urteil des LSG NW vom 24.05.2009 - L 9 RJ 22/01 -) nur dann eingetreten sein, wenn die geschuldete Leistung an den Gläubiger oder durch Zahlung an einen Dritten zum Zwecke der Erfüllung bewirkt worden ist. Insoweit sich die Beklagte auf bereits eingetretene Erfüllung beruft, macht sie eine rechtsvernichtende Einwendung geltend, deren tatsächlichen Grundlagen sie belegen muss (BSG a.a.O. zur Erfüllung eines Beitragserstattungsanspruches).

Die zeitnahe Erfüllung von Leistungsansprüchen nach dem SGB II soll insbesondere § 42 SGB II sicherstellen, wonach Geldleistungen nach dem SGB II auf das im Antrag angegebene inländische Konto bei einem Geldinstitut überwiesen werden. Diese Vorschrift ist zwingendes Recht. Jede andere Art der Zahlung als durch Überweisung ist als Ausnahme anzusehen und nur zulässig, wenn dem Leistungsträger ein Konto nicht bekannt oder eine Überweisung darauf unmöglich ist. Dann allerdings sind dem Berechtigten zustehende Leistungen an dessen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt zu übermitteln (Eicher in Eicher/Spellbrink, 2. Auflage, § 42 Rdn. 8 m.w.N.). Demnach dürfte eine Erfüllung von Leistungsansprüchen aus § 20 SGB II durch Überweisung von Unterkunftsleistungen nach § 22 SGB II an einen Vermieter/Unterkunftsgeber ausgeschlossen sein, wenn kein ausdrückliches Einverständnis des Leistungsberechtigten hierzu vorliegt. Ob ein ausreichend detailliertes, die tatsächlich vorgenommenen Abzüge allesamt umfassendes Einverständnis des Klägers vorlag, kann hier jedoch dahinstehen.

Denn insbesondere soweit die Beklagte sich berechtigt oder verpflichtet gesehen haben sollte, dem Kläger bewilligte Regelleistungen um die monatlichen Differenzen zwischen den pauschal bewilligten und den jenseits der bewilligten Pauschalen tatsächlich angefallenen Heizkosten zu verkürzen, handelte sie nach Maßgabe der Rechtsprechung des BSG zur Bewilligung von Heizkosten (Urteile des BSG vom 02.07.2009 - B 14 AS 36/08 R, vom 20.08.2009 - B 14 AS 41/08 R -) nicht rechtmäßig. Hiernach ist die Angemessenheit der Höhe der Heizkosten im SGB II unabhängig von der Angemessenheit der Kosten der Unterkunft zu beurteilen; der Anspruch auf Heizkosten besteht in Höhe der konkret-individuell geltend gemachten Aufwendungen. Eine Pauschalierung ist unzulässig. Kommt es nach regelmäßiger Übernahme der Heizkostenvorauszahlungen bzw. Abschläge der jeweiligen Monate zu Nachforderungen bzw. Nachzahlungen, gehören solche Zahlungen zum aktuellen Bedarf an Unterkunftsleistungen nach § 22 SGB II im Fälligkeitsmonat (BSG im Urteil vom 02.07.2009, a.a.O. m.w.N.).

Einer Nachprüfung bedürftig ist zudem die Höhe der zur Abdeckung von Kosten der Warmwasserbereitung einbehaltenen und an die Unterkunftsgeber abgeführten Anteile der Regelleistungen des Klägers.

Nach damaliger Üblichkeit - die Beklagte selbst beziffert die Höhe nicht - wurde in Anlehnung an die Bestimmungen der Heizkostenverordnung (§ 9 Abs. 2 Satz 4 Heizkostenverordnung) ein prozentualer Anteil von 18 % an den Gesamtaufwendungen für die Versorgung mit Heizmitteln abgezogen. Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 27.02.2008 - B 14/11 b AS 15/07 R -), sind jedoch die Kosten der Warmwasserbereitung seit dem 01.01.2005 (bei alleinstehenden Erwachsenen) mit einem Anteil von 6,22 € in der Regelleistung von 345,00 € enthalten und daher maximal in dieser Höhe von den Leistungen für Beheizung in Abzug zu bringen. [...]