EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 29.04.2010 - Kommission/Niederlande, C-92/07 - asyl.net: M17030
https://www.asyl.net/rsdb/M17030
Leitsatz:

Einführung von Gebühren für eine Aufenthaltsgenehmigung in den Niederlanden gegenüber türkischen Arbeitnehmern verstößt gegen die Standstill-Klausel aus Art. 13 ARB 1/80, da Unionsbürger wesentlich geringere Gebühren zu zahlen haben (vgl. auch EuGH, Urt. v. 17.9.2009, Sahin, C-242/06, M16080).

Schlagwörter: Vertragsverletzungsverfahren, EU-Kommission, Niederlande, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Assoziierungsabkommen EWG/Türkei, Diskriminierungsverbot, Gebühren, Stillhalteklausel
Normen: ARB 1/80 Art. 10 Abs. 1, ARB 1/80 Art. 13, Zusatzprotokoll Art. 41
Auszüge:

[...]

1 Mit ihrer Klage beantragt die Kommission der Europäischen Gemeinschaften festzustellen, dass das Königreich der Niederlande durch die Einführung und Beibehaltung einer Regelung für die Ausstellung von Aufenthaltserlaubnissen höhere Gebühren als diejenigen vorsieht, die von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten sowie des Königreichs Norwegen, der Republik Island, des Fürstentums Liechtenstein und der Schweizerischen Eidgenossenschaft für die Ausstellung entsprechender Dokumente verlangt werden, und durch die Anwendung dieser Regelung auf türkische Staatsangehörige, die ein Aufenthaltsrecht in den Niederlanden haben gemäß - dem Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei, das am 12. September 1963 in Ankara von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits unterzeichnet und durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 (ABl. 1964, Nr. 217, S. 3685) im Namen der Gemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt wurde (im Folgenden: Assoziierungsabkommen); - dem Zusatzprotokoll, das am 23. November 1970 in Brüssel unterzeichnet und durch die Verordnung (EWG) Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 (ABl. L 293, S. 1) im Namen der Gemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt wurde (im Folgenden: Zusatzprotokoll); - dem Beschluss Nr. 1/80, der am 19. September 1980 vom Assoziationsrat erlassen wurde, der durch das Assoziierungsabkommen eingeführt wurde und aus Mitgliedern der Regierungen der Mitgliedstaaten, des Rates der Europäischen Union und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften einerseits und Mitgliedern der türkischen Regierung andererseits zusammengesetzt ist, gegen seine Verpflichtungen aus dem Assoziierungsabkommen, insbesondere Art. 9, dem Zusatzprotokoll, insbesondere Art. 41, und dem Beschluss Nr. 1/80, insbesondere Art. 10 Abs. 1 und 13, verstoßen hat. [...]

Verfahren vor dem Gerichtshof

17 Durch Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 29. Juni 2007 ist die Bundesrepublik Deutschland in der vorliegenden Rechtssache als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge des Königreichs der Niederlande zugelassen worden.

18 Das Verfahren in der vorliegenden Rechtssache ist mit Entscheidung des Präsidenten der Dritten Kammer vom 14. Oktober 2008 bis zur Verkündung des Urteils vom 17. September 2009, Sahin (C-242/06, Slg. 2009, I-0000), ausgesetzt worden. [...]

41 Die Bundesrepublik Deutschland ist dem Rechtsstreit als Streithelferin zur Unterstützung des Königreichs der Niederlande beigetreten. Sie macht geltend, dass die streitigen Gebühren für Verwaltungsformalitäten anfielen und keine Beschränkungen im Sinne der Stillhalteklauseln darstellten. Jedenfalls ließen sich diese Gebühren durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses rechtfertigen, nämlich der notwendigen Kontrolle der Einreise von Ausländern und der von diesen angestrebten Aufenthaltszwecke im Aufnahmestaat.

42 Außerdem sei das Diskriminierungsverbot in Art. 9 des Assoziierungsabkommens nicht hinreichend klar und eindeutig, um unmittelbar anwendbar zu sein. Es müsse durch andere Maßnahmen wie Art. 10 des Beschlusses Nr. 1/80 konkretisiert werden. Art. 10 sei jedoch im vorliegenden Fall nicht anwendbar, weil die streitigen Gebühren nicht zu den Arbeitsbedingungen im Sinne dieses Artikels gehörten.

Würdigung durch den Gerichtshof

43 Zunächst ist zu bemerken, dass die Kommission in ihrer Klageschrift beantragt, festzustellen, dass das Königreich der Niederlande dadurch gegen seine Verpflichtungen aus dem Unionsrecht verstoßen hat, dass es für die Ausstellung von Aufenthaltserlaubnissen an türkische Staatsangehörige, die ein Aufenthaltsrecht in den Niederlanden haben, eine Regelung eingeführt und beibehalten hat, die höhere Gebühren als diejenigen vorsieht, die von Staatsangehörigen nicht nur der Mitgliedstaaten, sondern auch des Königreichs Norwegen, der Republik Island, des Fürstentums Liechtenstein und der Schweizerischen Eidgenossenschaft für die Ausstellung entsprechender Dokumente verlangt werden. Die Vorschriften des Unionsrechts, auf die die Kommission ihre Klage stützt, betreffen diese vier Staaten jedoch nicht. Daher ist von einem Vergleich mit diesen Staaten abzusehen.

Zur Geltung der Stillhalteklausel für die erstmalige Aufnahme eines türkischen Staatsangehörigen im Hoheitsgebiet der Niederlande

44 Nach Ansicht der Kommission sind die Stillhalteklauseln auf die streitigen Gebühren anzuwenden, und zwar unabhängig davon, ob sie einen Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltserlaubnis im Zuge der der erstmaligen Aufnahme eines türkischen Staatsangehörigen in den Niederlanden oder einen Antrag auf Verlängerung einer solchen Erlaubnis betreffen. Das Königreich der Niederlande räumt seinerseits ein, dass die Stillhalteklauseln auf die Rechte der türkischen Staatsangehörigen in den Bereichen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs ab ihrer erstmaligen Aufnahme in den Mitgliedstaaten anzuwenden seien, bleibt aber dabei, dass sie nicht auf die erstmalige Aufnahme von türkischen Arbeitnehmern in einem Mitgliedstaat anzuwenden seien.

45 In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof im Urteil Sahin die Tragweite der Stillhalteklausel in Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80, der auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit anzuwenden ist, geprüft. Er hat darauf hingewiesen, dass diese Vorschrift nicht dazu bestimmt ist, die bereits in den Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats integrierten türkischen Staatsangehörigen zu schützen, sondern gerade für die türkischen Staatsangehörigen gelten soll, die noch keine Rechte in Bezug auf Beschäftigung und entsprechend auf Aufenthalt nach Art. 6 Abs. 1 dieses Beschlusses genießen (Urteil Sahin, Randnr. 51).

46 Er hat Art. 13 dieses Beschlusses auch im Licht der Stillhalteklausel in Art. 41 des Zusatzprotokolls geprüft, der die Niederlassungsfreiheit und den freien Dienstleistungsverkehr betrifft.

47 Zu Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls hat der Gerichtshof im Einklang mit den Urteilen Tum und Dari sowie Soysal und Savatli festgestellt, dass diese Bestimmung von dem Zeitpunkt an, zu dem der Rechtsakt, dessen Bestandteil diese Bestimmung ist, in dem Aufnahmemitgliedstaat in Kraft vetreten ist, neuen Beschränkungen der Ausübung der Niederlassungsfreiheit oder der Dienstleistungsfreiheit einschließlich solchen entgegensteht, die die materiell- und/oder verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für die erstmalige Aufnahme türkischer Staatsangehöriger im Hoheitsgebiet des fraglichen Mitgliedstaats betreffen, die dort von diesen wirtschaftlichen Freiheiten Gebrauch machen wollen (Urteil Sahin, Randnr. 64).

48 Der Gerichtshof hat entschieden, dass die Auslegung des Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls ebenso in Bezug auf die Stillhalteverpflichtung gelten muss, die die Grundlage von Art. 13 im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit bildet, da die Stillhalteklausel in Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 und diejenige in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls gleichartig sind und die beiden Klauseln dasselbe Ziel verfolgen (Urteil Sahin, Randnr. 65).

49 Daraus folgt, dass Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 von dem Zeitpunkt an, zu dem dieser Beschluss in den Niederlanden in Kraft getreten ist, der Einführung neuer Beschränkungen der Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit in das niederländische Recht einschließlich solchen entgegensteht, die die materiell- und/oder verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für die erstmalige Aufnahme türkischer Staatsangehöriger im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats betreffen, die dort von dieser Freiheit Gebrauch machen wollen.

50 Demnach gelten die Stillhalteklauseln in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls und Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 von dem Zeitpunkt an, zu dem diese Bestimmungen in Kraft getreten sind, für alle Gebühren, die türkischen Staatsangehörigen für die Ausstellung einer Aufenthaltserlaubnis bei der erstmaligen Aufnahme im Hoheitsgebiet der Niederlanden oder für die Verlängerung einer solchen Erlaubnis auferlegt werden.

Zum Vorliegen einer Verletzung der sich aus den Stillhalteklauseln ergebenden Verpflichtungen

51 Die Kommission und das Königreich der Niederlande sind beide der Ansicht, dass das Vorliegen der vorgeworfenen Verletzung unter Berücksichtigung des Urteils Sahin zu beurteilen ist, sie sind sich aber uneinig darüber, welche Konsequenzen aus diesem Urteil zu ziehen sind. Die Kommission meint, die Verletzung beruhe darauf, dass dieser Mitgliedstaat türkischen Staatsangehörigen Gebühren auferlege, die im Vergleich zu den von Unionsbürgern für die Ausstellung entsprechender Dokumente verlangten unverhältnismäßig seien. Der Begriff der unverhältnismäßigen Gebühren sei so zu verstehen, dass er von dem in den Anträgen der Klageschrift genannten Begriff der höheren Gebühren umfasst sei.

52 Nach Auffassung des Königreichs der Niederlande geht aus dem Urteil Sahin hervor, dass Gebühren für türkische Staatsangehörige, die denjenigen für Unionsbürgern nicht völlig entsprächen, den Stillhalteklauseln nicht widersprächen und dass unverhältnismäßige Gebühren verboten seien. Die den türkischen Staatsangehörigen auferlegten Gebühren deckten aber nur einen Teil der Kosten für die Prüfung ihrer Unterlagen ab und verstießen daher nicht gegen diese Klauseln. Außerdem betreffe die Klage nicht unverhältnismäßige Gebühren für türkische Staatsangehörige, sondern Gebühren, die höher seien als die von Unionsbürgern verlangten, so dass die Klage unbegründet sei.

53 In diesem Zusammenhang ist zur Prüfung der vorliegenden Klage in der Tat auf das Urteil Sahin zu verweisen, in dem der Gerichtshof über die Vereinbarkeit von Gebühren, wie sie während des Jahres 2002 von der niederländischen Regelung für die Ausstellung oder Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis verlangt wurden, mit Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 entschieden hat. Die für türkische Staatsangehörige geltenden Gebühren betrugen in diesem Fall 169 Euro für die Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis, verglichen mit einem Betrag von nur 30 Euro, der nach den Angaben des vorlegenden Gerichts in dieser Rechtssache von Unionsbürgern für die Ausstellung von Aufenthaltsdokumenten verlangt wurde.

54 Aus dem Urteil Sahin, insbesondere aus den Randnrn. 72 und 74, geht hervor, dass der Antrag eines türkischen Staatsangehörigen auf Ausstellung einer Aufenthaltserlaubnis oder auf Verlängerung der Gültigkeit einer solchen und der Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltserlaubnis, der in einem anderen Mitgliedstaat von einem Unionsbürger gestellt wurde, gleichartig sind.

55 Der Gerichtshof hat hervorgehoben, dass eine Regelung wie die niederländische nicht darauf hinauslaufen darf, dass in Bezug auf türkische Staatsangehörige eine Beschränkung im Sinne von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 geschaffen wird. Art. 13 dieses Beschlusses in Verbindung mit Art. 59 des Zusatzprotokolls bedeutet, dass ein türkischer Staatsangehöriger, für den diese Bestimmungen gelten, zwar nicht in eine günstigere Lage gebracht werden darf als Unionsbürger, dass ihm aber keine neuen Pflichten auferlegt werden dürfen, die im Vergleich zu denen der Unionsbürger unverhältnismäßig sind (Urteil Sahin, Randnr. 71).

56 Der Gerichtshof hat festgestellt, dass die finanziellen Auswirkungen solcher Gebühren, wie sie im Jahr 2002 eingeführt wurden, für die türkischen Staatsangehörigen erheblich sind, zumal diese gezwungen sind, die Erneuerung ihrer Aufenthaltstitel häufiger zu beantragen als Unionsbürger, und der gezahlte Betrag bei Ablehnung ihres Antrags nicht erstattet wird. Er war der Ansicht, dass die niederländische Regierung keine stichhaltigen Argumente vorgetragen hat, die einen solch erheblichen Unterschied zwischen den von türkischen Staatsangehörigen verlangten Gebühren und den von Unionsbürgern geforderten Gebühren rechtfertigen könnten. Der Gerichtshof ist der Auffassung dieser Regierung nicht gefolgt, dass die Nachforschungen und Kontrollen vor der Ausstellung eines Aufenthaltstitels an einen türkischen Staatsangehörigen komplizierter und aufwendiger seien als die für die Ausstellung eines Aufenthaltstitels an einen Unionsbürger erforderlichen.

57 Der Gerichtshof hat daraus geschlossen, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren streitige eine nach Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 verbotene Beschränkung darstellt, soweit sie für die Behandlung eines Antrags auf Erteilung oder Verlängerung der Gültigkeit einer Aufenthaltserlaubnis türkische Staatsangehörige, für die Art. 13 dieses Beschlusses gilt, zur Entrichtung von Gebühren verpflichtet, deren Höhe im Vergleich zu den von Unionsbürgern unter gleichartigen Umständen verlangten unverhältnismäßig ist (vgl. Urteil Sahin, Randnrn. 72 bis 74).

58 Diese Ausführungen sind in der vorliegenden Rechtssache zu berücksichtigen, die alle Gebühren erfasst, die nach der niederländischem Regelung von 1994 an von türkischen Staatsangehörigen für die Ausstellung oder Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis verlangt wurden und die, wie in der Tabelle in Randnr. 13 des vorliegenden Urteils dargestellt, insbesondere in den Jahren 2002, 2003 und 2005 geändert wurden.

59 Die Differenz zwischen den Gebühren für türkische Staatsangehörige und den Gebühren für Unionsbürger hat sich im Vergleich zur Differenz im Jahr 2002, die Gegenstand der Rechtssache war, in der das Urteil Sahin ergangen ist, im Laufe der Jahre 2003 und 2005 weiter vergrößert. Außerdem sind die in der vorliegenden Rechtssache betroffenen türkischen Staatsangehörigen nicht nur Arbeitnehmer wie in der genannten Rechtssache, sondern auch Personen, die von der Niederlassungs- oder der Dienstleistungsfreiheit nach dem Assoziierungsabkommen Gebrauch machen wollen.

60 Ob eine Verletzung der Stillhalteklauseln vorliegt, ist daher im Hinblick auf die Klauseln in Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 und Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zu prüfen.

61 Insoweit steht fest, dass die streitigen Gebühren neue Maßnahmen sind, da sie nach dem Inkrafttreten des Beschlusses Nr. 1/80 eingeführt wurden, soweit sie die Situation der türkischen Arbeitnehmer betreffen, und nach dem Inkrafttreten des Zusatzprotokolls, soweit sie die türkischen Staatsangehörigen betreffen, die von der Niederlassungs- oder der Dienstleistungsfreiheit nach dem Assoziierungsabkommen Gebrauch machen wollen.

62 In diesem Zusammenhang ist jedoch nicht jede neue Maßnahme verboten. Denn der Erlass neuer Vorschriften, die in gleicher Weise auf türkische Staatsangehörige und auf Unionsbürger Anwendung finden, steht nicht im Widerspruch zu den Stillhalteklauseln. Wenn solche Vorschriften für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten gälten, ohne auch auf türkische Staatsangehörige anwendbar zu sein, befänden sich Letztere in einer günstigeren Position als Unionsbürger, was offenkundig gegen Art. 59 des Zusatzprotokolls verstieße, wonach der Republik Türkei keine günstigere Behandlung gewährt werden darf als diejenige, die sich die Mitgliedstaaten untereinander aufgrund des EG-Vertrags einräumen (vgl. in diesem Sinne Urteile Soysal und Savatli, Randnr. 61, sowie Sahin, Randnr. 67).

63 Es ist daher zu prüfen, ob türkischen Staatsangehörigen durch die streitigen Gebühren neue Verpflichtungen auferlegt werden, die im Vergleich zu den für Unionsbürger vorgesehenen unverhältnismäßig sind.

64 Das Königreich der Niederlande räumt ein, dass die früher erhobenen Gebühren zu hoch gewesen seien, und macht geltend, dass die Höhe der von türkischen Staatsangehörigen verlangten Gebühren durch die höheren Kosten für die Bearbeitung der Unterlagen zu erklären sei. Dazu ist zu bemerken, dass der Gerichtshof in Randnr. 73 des Urteils Sahin nicht die Ansicht vertreten hat, dass dieser Zusammenhang einen für erheblich erachteten Unterschied zwischen den von türkischen Staatsangehörigen und den von Unionsbürgern für die Ausstellung gleichartiger Dokumente verlangten Gebühren rechtfertigen kann.

65 Somit kann das Argument des Königreichs der Niederlande, die streitigen Gebühren machten 70 % der Kosten der Bearbeitung der Unterlagen aus, die Erhebung dieser Gebühren nicht rechtfertigen, und sein Vorbringen, diese Gebühren seien nicht unverhältnismäßig, ist zu verwerfen.

66 Das Königreich der Niederlande trägt auch vor, die streitigen Gebühren seien nicht diskriminierend, weil es zwischen der Lage der türkischen Staatsangehörigen und derjenigen der Unionsbürger Unterschiede gebe, die es als grundlegend einstuft. Das grundlegende Ziel der Europäischen Union, einen Binnenmarkt einzurichten, die Unionsbürgerschaft einzuführen und die Freizügigkeit der Bürger innerhalb der Union zu gewährleisten, könne nicht "unbegrenzt" auf türkische Staatsangehörige angewandt werden.

67 Das Assoziierungsabkommen hat jedoch, wie sich aus seinem Art. 2 Abs. 1 ergibt, das Ziel, die Lage der türkischen Staatsangehörigen durch die schrittweise Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer und die Aufhebung der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs an die Lage der Unionsbürger anzunähern.

68 Das allgemeine Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit nach Art. 9 des Assoziierungsabkommens und die Anwendung dieses Verbots im Sonderbereich der Arbeitnehmer nach Art. 10 des Beschlusses Nr. 1/80 tragen zur schrittweisen Integration der türkischen Wanderarbeitnehmer und der türkischen Staatsangehörigen bei, die einen Ortswechsel vornehmen, um sich in einem Mitgliedstaat niederzulassen oder dort Dienstleistungen anzubieten (vgl. in diesem Sinne in Bezug auf Arbeitnehmer Urteil Wählergruppe Gemeinsam, Randnr. 78).

69 Das Königreich der Niederlande kann daher den Unterschied, der zwischen den streitigen Gebühren und den von Unionsbürgern geforderten Gebühren besteht, nicht damit rechtfertigen, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Niederlassungs- oder die Dienstleistungsfreiheit in der Union den türkischen Staatsangehörigen nicht ebenso umfassend zugute kämen wie den Unionsbürgern. Die Kommission hat sich bei der Prüfung, ob die streitigen Gebühren die Lage dieser Staatsangehörigen im Vergleich zur Lage der Unionsbürger auf eine gegen die Stillhalteklauseln verstoßende Weise verschlechtern, zu Recht auf das Diskriminierungsverbot und Art. 59 des Zusatzprotokolls gestützt.

70 Das Königreich der Niederlande trägt außerdem vor, dass ein Unterschied zwischen dem Begriff der höheren Gebühren in der Klageschrift der Kommission und dem Begriff der unverhältnismäßigen Gebühren in dem Urteil Sahin bestehe.

71 Dazu ist festzustellen, dass der erste Begriff den zweiten einschließt und dass nicht jede höhere Gebühr notwendigerweise unverhältnismäßig ist.

72 Das Königreich der Niederlande hat in der mündlichen Verhandlung auf eine Frage zu den Auswirkungen dieses Unterschieds im vorliegenden Fall erklärt, dass die Gebühren für türkische Staatsangehörige etwas höher als die für Unionsbürger geltenden Gebühren sein könnten, wenn die tatsächlichen Kosten der Bearbeitung der Unterlagen der türkischen Staatsangehörigen höher seien als diejenigen für die Bearbeitung der Unterlagen der Unionsbürger. Außerdem erfüllten die von türkischen Staatsangehörigen vom 17. September 2009 an verlangten Gebühren vollauf die Voraussetzung der Verhältnismäßigkeit.

73 Was die ab diesem Zeitpunkt verlangten Gebühren betrifft, ist festzustellen, dass sie nach Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist eingeführt wurden. Nach ständiger Rechtsprechung ist aber das Vorliegen einer Vertragsverletzung anhand der Situation zu beurteilen, in der sich der betreffende Mitgliedstaat bei Ablauf der Frist, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt wurde, befand; später eingetretene Veränderungen können vom Gerichtshof nicht berücksichtigt werden (vgl. u. a. Urteile vom 14. September 2004, Kommission/Spanien, C-168/03, Slg. 2004, I-8227, Randnr. 24, und vom 3. Juni 2008, Kommission/Frankreich, C-507/07, Randnr. 7). Folglich können diese Gebühren bei der Prüfung der vorliegenden Vertragsverletzungsklage vom Gerichtshof nicht berücksichtigt werden.

74 In Bezug auf die streitigen Gebühren lässt sich nicht ausschließen, dass die für türkische Staatsangehörige geltenden Gebühren, die etwas höher sind als die von Unionsbürgern für die Ausstellung entsprechender Dokumente verlangten, in bestimmten Sonderfällen als verhältnismäßig angesehen werden können. Es ist jedoch festzustellen, dass sich die streitigen Gebühren innerhalb einer Spanne bewegen, deren niedrigster Wert um mehr als zwei Drittel höher ist als die von Unionsbürgern für die Ausstellung entsprechender Dokumente verlangten Gebühren. Ein solcher Unterschied kann nicht als gering betrachtet werden, so dass die streitigen Gebühren in ihrer Gesamtheit als unverhältnismäßig anzusehen sind.

75 Die Kommission ist auch der Ansicht, dass die streitigen Gebühren gegen das Diskriminierungsverbot in Art. 9 des Assoziierungsabkommens und Art. 10 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 verstießen. Dazu ist festzustellen, dass das Königreich der Niederlande eben dadurch, dass es von türkischen Staatsangehörigen für die Ausstellung oder die Verlängerung von Aufenthaltserlaubnissen Gebühren verlangt, die im Vergleich zu den von Unionsbürgern für entsprechende Dokumente verlangten Gebühren unverhältnismäßig sind, diskriminierende Gebühren vorgeschrieben hat. Soweit diese Gebühren für türkische Arbeitnehmer oder ihre Familienangehörigen gelten, wird durch diese Gebühren eine gegen Art. 10 des Beschlusses Nr. 1/80 verstoßende diskriminierende Arbeitsbedingung eingeführt. Soweit diese Gebühren für türkische Staatsangehörige, die von der Niederlassungs- oder der Dienstleistungsfreiheit nach Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls Gebrauch machen wollen, oder für ihre Familienangehörigen gelten, verstoßen sie gegen das allgemeine Diskriminierungsverbot in Art. 9 des Assoziierungsabkommens.

76 Nach alledem ist festzustellen, dass das Königreich der Niederlande durch die Einführung und Beibehaltung einer Regelung für die Ausstellung von Aufenthaltserlaubnissen, die Gebühren vorsieht, die im Vergleich zu den von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten für die Ausstellung entsprechender Dokumente verlangten Gebühren unverhältnismäßig sind, und durch die Anwendung dieser Regelung auf türkische Staatsangehörige, die nach dem Assoziierungsabkommen, dem Zusatzprotokoll oder dem Beschluss Nr. 1/80 ein Aufenthaltsrecht in den Niederlanden haben, gegen seine Verpflichtungen aus Art. 9 des Assoziierungsabkommens, Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls und aus den Art. 10 Abs. 1 und 13 des Beschlusses Nr. 1/80 verstoßen hat. [...]

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

1. Das Königreich der Niederlande hat durch die Einführung und Beibehaltung einer Regelung für die Ausstellung von Aufenthaltserlaubnissen, die Gebühren vorsieht, die im Vergleich zu den von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten für die Ausstellung entsprechender Dokumente verlangten Gebühren unverhältnismäßig sind, und durch die Anwendung dieser Regelung auf türkische Staatsangehörige, die ein Aufenthaltsrecht in den Niederlanden haben gemäß

- dem Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei, das am 12. September 1963 in Ankara von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits unterzeichnet und durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 im Namen der Gemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt wurde;

- dem Zusatzprotokoll, das am 23. November 1970 in Brüssel unterzeichnet und durch die Verordnung (EWG) Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 im Namen der Gemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt wurde;

- dem Beschluss Nr. 1/80, der am 19. September 1980 vom Assoziationsrat erlassen wurde, der durch das Assoziierungsabkommen eingeführt wurde und aus Mitgliedern der Regierungen der Mitgliedstaaten, des Rates der Europäischen Union und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften einerseits und Mitgliedern der türkischen Regierung andererseits zusammengesetzt ist,

gegen seine Verpflichtungen aus Art. 9 des Assoziierungsabkommens, Art. 41 des Zusatzprotokolls und aus den Art. 10 Abs. 1 und 13 des Beschlusses Nr. 1/80 verstoßen. [...]