VG Gießen

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Zitieren als:
VG Gießen, Urteil vom 20.01.2010 - 6 K 1762/07.GI.A [= ASYLMAGAZIN 2010, S. 240 f.] - asyl.net: M17047
https://www.asyl.net/rsdb/M17047
Leitsatz:

Kein Widerruf einer krankheitsbedingten Abschiebungsverbots (§ 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG), da sich die Gesundheitsversorgung in Armenien seit der gerichtlichen Verpflichtung 2002 nicht wesentlich verändert hat. Offen gelassen wird die obergerichtlich noch nicht geklärte Frage, ob die Jahresfrist auch im Widerrufsverfahren nach § 73 Abs. 3 AsylVfG gilt.

Schlagwörter: Widerruf, Widerrufsverfahren, Abschiebungsverbot, Abschiebungshindernis, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Armenien, Frist, medizinische Versorgung, Mitgabe von Medikamenten, Änderung der Sachlage
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 3, VwVfG § 49 Abs. 2, VwVfG § 48 Abs. 4
Auszüge:

[...]

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat die in dem Bescheid vom 22.11.2002 getroffene - und auf einem entsprechenden Verpflichtungsurteil des Verwaltungsgerichts Gießen vom 11.09.2002 (Az.: 6 E 31940/97.A) beruhende - Feststellung, dass bezüglich des Klägers ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 AuslG (jetzt § 60 Abs. 7 AufenthG) vorliegt, zu Unrecht widerrufen.

Dabei unterliegt der angefochtene Bescheid vom 30.07.2007 bereits in formeller Hinsicht Bedenken. Denn gemäß § 49 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 48 Abs. 4 VwVfG ist der Widerruf eines Verwaltungsaktes nur innerhalb eines Jahres seit dem Zeitpunkt der Kenntnisnahme der Behörde von den den Widerruf rechtfertigenden Tatsachen zulässig. Dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lagen bereits Ende September 2003 die Auskünfte vor, auf die die Einleitung des Widerrufsverfahrens gestützt wurde. Eingeleitet wurde das Widerrufsverfahren zudem bereits am 26.02.2004. Die letzte Stellungnahme des Klägers lag am 01.03.2005 vor. Gleichwohl ist der angefochtene Bescheid erst über zwei Jahre später ergangen. Ob die Jahresfrist nach den §§ 49 Abs. 2 Satz 2, 48 Abs. 4 VwVfG auch im Widerrufsverfahren nach § 73 Abs. 3 AsylVfG gilt, ist obergerichtlich noch nicht geklärt. Nach einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts findet im Falle des Widerrufs einer Anerkennung als Asylberechtigter oder Flüchtling nach § 73 Abs. 1 AsylVfG die Jahresfrist jedenfalls in den Fällen keine Anwendung, in denen die Anerkennung innerhalb der Dreijahresfrist des § 73 Abs. 2 a AsylVfG widerrufen wird (Urteil vom 12.06.2007, NVwZ 2007, 133). Ob dies auch für den Widerruf der Feststellung von Abschiebungshindernissen gilt, kann jedoch offen bleiben, da der angefochtene Bescheid zu Ziffer 1 jedenfalls materiell rechtswidrig ist.

Die Voraussetzungen des § 73 Abs. 3 AsylVfG für einen Widerruf der in dem Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 22.11.2002 getroffenen - und auf dem Urteil des Verwaltungsgerichts Gießen vom 11.09.2002 beruhenden - Feststellung, dass Abschiebungshindernisse gemäß § 53 Abs. 6 AuslG vorliegen, sind nicht gegeben. Zu den Voraussetzungen, unter denen ein Widerruf nach vorausgegangener Verpflichtung des Bundesamtes durch ein gerichtliches Urteil zulässig ist hat das Gericht im Urteil vom 24.08.2008 (6 E 3671/07.A) ausgeführt:

"Nach dieser Bestimmung ist u.a. die Entscheidung, ob die Voraussetzungen des dem § 53 Abs. 6 AuslG im Wesentlichen entsprechenden § 60 Abs. 7 AufenthG vorliegen, zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen. Beruht die Feststellung eines solchen Abschiebungshindernisses durch das Bundesamt auf einem rechtskräftigen verwaltungsgerichtlichen Verpflichtungsurteil, ist dessen Rechtskraft nach § 121 VwGO zu beachten. § 73 AsylVfG befreit nicht von der Rechtskraftbindung, sondern setzt vielmehr voraus, dass die Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung dem Widerruf der Feststellung eines Abschiebungshindernisses nicht entgegensteht. Letzteres ist nur dann der Fall, wenn nach dem für das rechtskräftige Urteil maßgeblichen Zeitpunkt neue, für die Streitentscheidung erhebliche Tatsachen eingetreten sind, die sich so wesentlich von den früher maßgeblichen Umständen unterscheiden, dass auch unter Berücksichtigung des Zwecks der Rechtskraft eines Urteils eine erneute Sachentscheidung durch die Verwaltung oder ein Gericht gerechtfertigt ist. Eine solche Änderung liegt vor, wenn es für die geltend gemachte Rechtsfolge um die rechtliche Bewertung eines jedenfalls in wesentlichen Punkten neuen Sachverhaltes geht, zu dem das rechtskräftige Urteil - auch unter Berücksichtigung seiner Rechtsfrieden und Rechtssicherheit stiftenden Funktion - keine verbindlichen Aussagen mehr enthält (vgl. zum Vorgenannten: BVerwG, Urteil vom 18.09.2001, NVwZ 2002, 345). Die dargestellte Rechtskraftwirkung besteht dabei unabhängig davon, ob das rechtskräftig gewordene Urteil die seinerzeit bestehende Sach- und Rechtslage erschöpfend und zutreffend gewürdigt hat oder nicht (BVerwG, Urteile vom 18.09.2001, a.a.O. und 24.11.1998, NVwZ 1999, 302). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Prüfung der Voraussetzungen des Widerrufs der Feststellung eines Abschiebungshindernisses, die in Erfüllung eines rechtskräftigen Verpflichtungsurteils ergangen ist, ist der Zeitpunkt des Ergehens des Urteils (siehe BVerwG, Urteil vom 08.05.2003, NVwZ 2004, 113)."

Dies zu Grunde gelegt, unterscheiden sich die Verhältnisse im Gesundheitswesen in Armenien heute nicht so wesentlich von den im September 2002 gegebenen, dass sie unter Berücksichtigung des Zwecks der Rechtskraft eine erneute Sachentscheidung rechtfertigen würden. Nach den Entscheidungsgründen des Urteils des Verwaltungsgerichts Gießen vom 11.09.2002 (Az.: 6 E 31845/94.A) erfolgte die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungshindernisses im Sinne des § 53 Abs. 6 AuslG, weil die erforderliche Behandlung und Betreuung des Klägers in Armenien nicht gewährleistet war. Dieser Bewertung zugrunde lagen in dem Verfahren eingeholte Auskünfte der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Eriwan vom 17.06.2002 nebst einer beigefügten Auskunft des Gesundheitsministeriums der Republik Armenien vom 11.06.2002 und von der Deutsch-Armenischen Gesellschaft Frankfurt/Main vom Dezember 2001.

Das Gericht hat dazu ausgeführt:

"Zwar soll nach der im vorliegenden Verfahren eingeholten Auskunft der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Eriwan vom 17.06.2002 eine weitere Behandlung des Klägers in Armenien grundsätzlich gewährleistet sein. Das Gesundheitsministerium der Republik Armenien habe mitgeteilt, dass für sozial Schwache und besondere Gruppen der Bevölkerung die Behandlung des Betreffenden unter das Gesetz über die kostenlose medizinische Behandlung im staatlichen Auftrag falle, wobei es jedoch nach Erkenntnissen der Botschaft der persönlichen Vorstellung des Betreffenden und Antragstellung im Gesundheits- und Sozialministerium bedürfe. Nach Auskunft des Gesundheitsministeriums der Republik Armenien könnten die aufgeführten Medikamente bezogen werden. Nach Erkenntnissen der Botschaft stünden nicht alle in Westeuropa verschriebenen Medikamente zur Verfügung, jedoch könnten in der Regel Medikamente mit wirkungsgleichen Inhaltsstoffen bezogen werden.

Die vorgenannten Aussagen werden jedoch durch die der Auskunft der Botschaft beigefügte Auskunft des Gesundheitsministeriums der Republik Armenien vom 11.06.2002 nicht in vollem Umfang gedeckt. So nimmt diese Auskunft überhaupt nur zu der Verfügbarkeit von zwei der vier von dem Kläger benötigten Medikamente Stellung. Bezüglich der anderen beiden fehlt jegliche Aussage, insbesondere auch zu der Frage der Verfügbarkeit von Medikamenten mit inhaltsgleichen Stoffen. Ferner ist die Stellungnahme bezüglich der Bezahlung der beiden genannten Medikamente nicht eindeutig. Einerseits wird angegeben, die Abgabe dieser Medikamente sei nicht kostenfrei und man bekomme diese Medikamente nicht im Rahmen der humanitären Hilfe. Andererseits wird angegeben, dass die Polikliniken die sozial Schwachen und besonderen Gruppen der Bevölkerung gemäß Beschluss der Regierung und des Gesundheitsministeriums mit kostenlosen Medikamenten versehen. Darüber hinaus ist es nach dem Bericht der Deutsch-Armenischen Gesellschaft vom Dezember 2001 zur Lage in Armenien dort allgemein üblich, dass auch in den per Gesetz von der Selbstzahlungspflicht ausgenommenen Fällen von den behandelnden Ärzten und Krankenhäusern Zahlungen der Patienten gefordert werden, da die im Staatshaushalt für den Gesundheitsbereich vorgesehenen Mittel oftmals nicht oder nur mit größerer Verzögerung zur Auszahlung gelangen. Der Kläger wäre jedoch nicht in der Lage, die erforderlichen Kosten selbst zu tragen."

Dass sich an dieser Lage Entscheidungserhebliches geändert hätte, lässt sich den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten neuen Erkenntnisquellen nicht entnehmen. Der Gesundheitszustand des Klägers hat sich nicht signifikant zum Besseren verändert. [...]

Eine veränderte Sachlage, die einen Widerruf rechtfertigen könnte, liegt auch nicht im Hinblick auf die Frage der Behandelbarkeit der Krankheit des Klägers vor. Insbesondere die Auskunft vom 27.03.2003, die das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zum Anlass für den Widerruf genommen hat, bleibt - insbesondere hinsichtlich der Finanzierbarkeit der Behandlung und der Verfügbarkeit der notwendigen Medikamente - allgemein. Der Verweis auf die mögliche kostenlose Behandlung sozial Bedürftiger stellt keine Änderung der Sachlage dar, da dieser Umstand auch schon dem Urteil vom 11.09.2002 zugrunde lag. Soweit auf den beigefügten Beschluss Nr. 146 der Regierung Armeniens vom 20.02.2002 Bezug genommen wird, stellt auch dies keinen neuen Umstand dar, da dieser Beschluss ebenfalls bereits vor dem Urteil vom 11.09.2002 vorlag. Ein kostenloser Erhalt von Medikamenten für die Krankheiten des Klägers ist darin zudem nicht aufgeführt, so dass diese Auskunft nicht geeignet ist, die Feststellung des Gerichts im Urteil vom 11.09.2002 in Frage zu stellen. Auch die im gerichtlichen Verfahren eingeholte Auskunft der Botschaft in Eriwan vom 20.07.2009 ergibt nichts anderes. Darin ist ausgeführt, dass nur in wenigen Ausnahmefällen ambulante medizinische Leistungen kostenfrei in Anspruch genommen werden können. Dies gelte insbesondere für dauernd Hilfs- und Pflegebedürftige sowie Personen über 65 Jahre und ehemalige Karabachkämpfer. Zu dieser Gruppe gehört der Kläger ersichtlich nicht. Eine veränderte Sachlage ist aber vor allem nicht im Hinblick auf die hohen Kosten der Medikamente eingetreten, die der Kläger täglich zu sich nehmen muss. Angesichts der chronischen Erkrankung des Klägers und des damit dauernden Angewiesenseins auf die Medikamente kann auch der Hinweis auf die Mitgabe von Medikamenten für "einen gewissen Zeitraum" keine veränderte Sachlage begründen. [...]