VG Wiesbaden

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Zitieren als:
VG Wiesbaden, Urteil vom 10.03.2010 - 7 K 1389/09.WI.A - asyl.net: M17048
https://www.asyl.net/rsdb/M17048
Leitsatz:

Verpflichtung zum Selbsteintritt im Dublin-Verfahren, da in Griechenland wegen der dortigen Aufnahme- und Verfahrensbedingungen schwerwiegende Beeinträchtigungen drohen. Das Ermessen hinsichtlich eines Selbsteintritts ist daher auf Null reduziert. Die richtige Klageart ist in diesen Verfahren die isolierte Verpflichtungsklage.

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Anmerkung der Redaktion: Mit Beschluss vom 24.9.2010 (8 A 1268/10.2.A, M18160) hat der VGH Hessen in diesem Verfahren die Berufung des BAMF zugelassen.

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Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, Griechenland, Selbsteintritt, Konzept der normativen Vergewisserung, Klageart, Verpflichtungsklage, Anhörung, Informationspflicht, konkludenter Selbsteintritt
Normen: VO 343/2003 Art. 3 Abs. 2, VO 343/2003 Art. 18 Abs. 7, GG Art. 16a Abs. 2, AsylVfG § 27a, AsylVfG § 25, VO 343/2003 Art. 3 Abs. 4
Auszüge:

[...]

Da die Entscheidung der Beklagten über die Ausübung des Selbsteintrittsrechts gem. Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO gegenüber dem Asylbewerber Regelungswirkung entfaltet, kann ein entsprechender Anspruch isoliert im Wege der Verpflichtungsklage gegen die Beklagte verfolgt werden (a.M. VG Frankfurt am Main, Urteil vom 08.07.2009 - 7 K 4376/07.F.A(3), das unter Berufung auf Funke/Kaiser, GK AsylVfG, Stand: Oktober 2007, § 27a Rdnr. 18 von einer Anfechtungsklage auch hinsichtlich der in dem Bescheid enthaltenen Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 AsylVfG ausgeht; vgl. zum Streitstand Bender in: Johlen (Hrsg.), Münchner Prozessformularbuch Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 2009, A 114 Anmerkung 8).

Nicht erforderlich ist, dass das Gericht zugleich "durchentscheidet", also auch über die materiellen Rechtspositionen des Klägers befindet, d.h. insbesondere über einen etwaigen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter oder Zuerkennung des Flüchtlingsstatus. Dies würde die berechtigten Rechtsschutzinteressen des Asylbewerbers vernachlässigen, da im Falle eines wirksamen, weil zugestellten Bescheides nach § 27a AsylVfG eine Anfechtungsklage statthaft wäre, um den "Weg für die Durchführung eines Asylverfahrens vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit voller inhaltlicher Sachprüfung des klägerischen Asylbegehrens" zu eröffnen (VG Frankfurt am Main, Urteil vom 08.07.2009 - 7 K 4376/07.F.A(3) - m.w.N. VG Sigmaringen, Urteil vom 26.10.2009 - A 1 K 1757/09 - juris).

Die Klage ist auch begründet.

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge könnte bereits durch die Anhörung des Klägers gemäß § 25 AsylVfG am 29. Juni 2009 zu seinen Verfolgungsgründen hinreichend die Ausübung des Selbsteintrittsrechts zum Ausdruck gebracht haben. Die Dublin II-VO enthält keine Regelung, wie im Einzelnen der Selbsteintritt auszuüben ist, insbesondere sind keine Förmlichkeiten vorgegeben. Entgegen dem Vorschlag in dem Entwurf der Kommission (KOM 2001, 0442 endg. - ABl. 2002 Nr. C 051, 325 ff., wonach dem Asylbewerber der Zeitpunkt, zu dem die Prüfung seines Antrags beginnt, schriftlich mitgeteilt werden sollte, kennt die Verordnung in Art. 3 Abs. 4 nunmehr nur noch eine allgemeine Informationspflicht. Da keine förmliche Informationspflicht somit nicht besteht, ist es nicht ausgeschlossen, dass sich die Ausübung des Selbsteintrittsrechts auch konkludent aus den Umständen ergeben kann (so auch Funke-Kaiser, in: GK - AsylVfG, § 27a Rdnr. 220). Zwar zählen bloße Anhörungen zum Reiseweg und/oder Voraufenthalten in anderen Mitgliedstaaten nicht als Ausübung des Selbsteintrittsrechts, da sie zunächst nur der Klärung der Zuständigkeit dienen können. Auch wenn die Anhörung zu den Fluchtgründen in einem engen Zusammenhang mit der Ermittlung des Fluchtweges erfolgt, kann noch nicht ohne weiteres von einem Selbsteintritt gesprochen werden (vgl. u.a. Bay. VGH, Beschluss vom 03.03.2010 - 15 ZB 10.3005). Die Verfolgungsgründe können somit nach Lage der Dinge auch eine Ermessensentscheidung nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO erst ermöglichen. Allein die Tatsache der Anhörung eines Asylbewerbers reicht somit nicht aus, um die für eine Übernahme notwendige Absicht, über das Asylbegehren auch in der Sache zu entscheiden, anzunehmen (vgl. hierzu unter anderem VG Saarland, Urteil vom 24.09.2008 - 2 K 94/08; VG Trier, Urteil vom 21.05.2008 - 2 K 48/09.TR - juris; VG Karlsruhe, Urteil vom 18.03.2003 - A 5 K 12106/99; VG Bremen, Beschluss vom 07.04.2000 - 4 V 711/00.A; VG Ansbach, Urteil vom 13.01.2009 - 3 K 08.30017; VG Münster, Beschluss vom 04.03.2009 - 9 L 77/09.A). Vorliegend hat die Beklagte den Asylantrag des Klägers aber zweifelsfrei inhaltlich geprüft. Sie hat ihn nicht nur zu seinem Fluchtweg, sondern auch ausführlich zu seinem Verfolgungsschicksal und seinen Asylgründen befragt. Sie wollte auch ausdrücklich von ihm wissen, ob er einen Asylantrag stellen wollte. Dies hätte zur Folge, dass die Bundesrepublik Deutschland zum zuständigen Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylbegehrens des Klägers geworden wäre. Das nach Abschluss der Anhörung an Griechenland gerichtete Wiederaufnahmegesuch hätte somit nicht mehr die Fiktionswirkung der Art. 17 ff. Dublin II-VO entfalten können (so VG Hamburg, Urteil vom 20.08.2008 - AE 356/08 -). Ob diese Voraussetzungen hier eingetreten sind, bedarf indessen keiner abschließenden Entscheidung.

Der Kläger hat jedenfalls gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts. [...]

Die Einschätzung, dass nach den vorliegenden Informationen die griechische Verwaltungspraxis eine effektive Schutzgewährung häufig dadurch verhindert, dass sie den Zugang zu einem effektiven Asylverfahren erschwert bzw. nicht ermöglicht (z.B. Registrierung, Rechtsbeistand, Dolmetscher, Information und Inhaftierung) und den Asylsuchenden nur extrem beschränkte Aufnahmemöglichkeiten bietet, die viele in menschenunwürdige Umstände treibt (überfüllte Unterkünfte, Obdachlosigkeit, mangelnde medizinische und soziale Versorgung), wird mittlerweile auch von vielen anderen Verwaltungsgerichten geteilt (vgl. u.a. VG Düsseldorf, Beschluss vom 22. Dezember 2008 - 13 L 1993/08.A -; VG Ansbach, Beschluss vom 23.09.2008 - AN 14 E 08.30321 m.w.N.; VG Düsseldorf, Beschluss vom 22.12.2008 - 13 L 1993/08.A -; VG Hamburg, Beschluss vom 04.02.2009 - 8 AE 26/09 -; VG Magdeburg, Beschluss vom 05.02.2009 - 5 B 23/09 MD -; VG Berlin, Beschluss vom 27.02.2009 - VG 34 L 57/09.A -; VG Würzburg, Urteil vom 10.03.2009 - W 4 K 08.30122 -; VG Sigmaringen, Urteil vom 26.10.2009 - A 1 K 1757/09 -; VG Frankfurt am Main, Urteil vom 08.07.2009 - 7 K 4376/07.F.A(3) -; OVG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 07.10.2009 - 8 B 1433/09.A -). Im Übrigen werden zur Zeit in Griechenland europäische Asylrechtsstandards nach der Richtlinie 2005/85/EG offensichtlich überwiegend nicht beachtet (u.a. Zugang zum Verfahren (Art. 6), individuelle Begründung der Entscheidung (Art. 9 Abs. 2), Durchführung einer Anhörung unter Bedingungen der Vertraulichkeit (Art. 13 Abs. 2), Anhörung unter Beteiligung eines Dolmetschers und unter Berücksichtigung der persönlichen Umstände des Betroffenen (Art. 13 Abs. 3), Protokollierung der Anhörung (Art. 14 Abs. 1), Zugang zu einem Rechtsanwalt (Art. 15 Abs. 1)). [...]

Insgesamt ist unter Berücksichtigung der der Kammer vorliegenden Erkenntnisse somit festzustellen, dass der Kläger ein der Aufnahme- und Verfahrensrichtlinie gerecht werdendes Asylverfahren in Griechenland im Falle seiner Rückkehr nach dort nicht erfahren wird. Da der Kläger im Bezug auf seine Verfahrensrechte und die Aufnahmebedingungen schwerwiegende Beeinträchtigungen in Griechenland hinnehmen müsste, und ein faires, ergebnisoffenes und zügiges rechtsstaatliches Verfahren, eine menschenwürdige Unterbringung sowie eine Sicherung seiner notwendigen Lebensbedürfnisse bis zu einer Entscheidung über seinen Asylantrag nicht gewährleistet wäre, steht auch fest, dass sich das der Beklagten grundsätzlich zustehende Ermessen hinsichtlich des Selbsteintrittsrechts auf Null reduziert. [...]