VG Meiningen

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Zitieren als:
VG Meiningen, Urteil vom 02.03.2010 - 2 K 20133/08 Me - asyl.net: M17053
https://www.asyl.net/rsdb/M17053
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung einer ethnischen Armenierin aus Aserbaidschan. Es sprechen gewichtige Tatsachen dafür, dass die mittelbare Gruppenverfolgung auch für Armenier aus Mischehen in Aserbaidschan anhält.

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, Aserbaidschan, mittelbare Verfolgung, Gruppenverfolgung, interne Fluchtalternative, Berg-Karabach, Armenier
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

[...]

1. Der Klägerin steht ein Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG und auf Flüchtlingsanerkennung zu. [...]

b) Die Klägerin kann sich mit Erfolg auf ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG berufen. Die Klägerin ist nicht auf Grund individueller Verfolgung ausgereist. Sie unterlag, von ihrer Umgebung als Armenierin eingeordnet, zum Zeitpunkt ihrer Ausreise aus Aserbaidschan im März 2008 zwar keiner unmittelbaren, aber einer mittelbaren staatlichen Gruppenverfolgung, ohne die Möglichkeit einer inländischen Fluchtalternative. Im Falle ihrer Rückkehr nach Aserbaidschan ist die Klägerin wegen ihrer teilweisen armenischen Abstammung dort aber immer noch nicht hinreichend sicher. In dem Gebiet von Berg-Karabach besteht für sie keine inländische Fluchtalternative. Aufgrund der dortigen Lebensbedingungen kann der Klägerin ein Aufenthalt in diesem Landesteil vernünftigerweise nicht angesonnen werden.

aa) Die Klägerin hat nicht auf Grund eines individuellen Verfolgungsschicksals ihre Heimat verlassen müssen. Im Rahmen ihrer Anhörung vor dem Bundesamt hat die Klägerin angegeben, sie hätte seit vielen Jahren darunter leiden müssen, dass sie eine armenische Mutter gehabt habe. Vor allem die Verwandten ihres Ehemannes hätten ihr immer wieder zugesetzt. Bei den Auseinandersetzungen zwischen den Aserbaidschanern und den Armeniern habe sie Schläge erhalten, was dazu geführt habe, dass ihre Gehbehinderung schlimmer geworden sei. In der mündlichen Verhandlung hat sie noch ausgeführt, sie sei vielfach bedroht und zusammengeschlagen worden. Die Attacken seien von aserbaidschanischen Flüchtlingen aus Berg-Karabach und die Verwandten ihres aserbaidschanischen Ehemannes ausgegangen. Einen direkten zeitlichen Zusammenhang zu ihrer Ausreise im März 2008 hat die Klägerin jedoch nicht hergestellt. Das von ihr geschilderte persönliche Verfolgungsschicksal ist nicht geeignet, eine staatlich motivierte Verfolgung zu stützen.

bb) Die Klägerin ist wegen ihrer Abstammung der Gruppe der in Aserbaidschan lebenden ethnischen Armenier zuzurechnen; diese Gruppe unterlag im Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin im März 2008 zwar keiner unmittelbaren, aber einer mittelbaren staatlichen Verfolgung, die objektiv an deren Volkszugehörigkeit anknüpfte.

(1) Die Klägerin entstammt einer Ehe zwischen einer armenischen Mutter und einem aserischen Vater (sog. Mischehe). Die Klägerin wurde in Armenien geboren und hat armenische Wurzeln. Dies steht aufgrund der mündlichen Verhandlung zur Überzeugung des Gerichts fest. Die Klägerin hat glaubhaft angegeben, ihre Mutter sei armenischer Abstammung gewesen und habe ... geheißen. Auch wenn die Klägerin nach ihrer amtlichen Volkszugehörigkeit nicht Armenierin, sondern Aserbaidschanerin ist, als welche sie sich auch bei der Anhörung vor dem Bundesamt bezeichnet hat, da sich die amtliche Volkszugehörigkeit in Aserbaidschan bei Kindern aus amtlich registrierten Ehen vom Vater ableitet, schließt diese amtlich aserbaidschanische Volkszugehörigkeit die Zuschreibung des Betreffenden als "Armenier" in der aserbaidschanischen Lebenswirklichkeit nicht aus (vgl. ThürOVG, Urt. v. 28.02.2008, 2 KO 899/03, juris, Rn. 46, 47). So hat die Klägerin stets geltend gemacht, sie sei aufgrund der Abstammung von einer armenischen Mutter als Armenierin angefeindet worden.

(2) Die Klägerin unterlag als Angehörige der den armenischen Volkszugehörigen zugerechneten Personen zum Zeitpunkt ihrer Ausreise keiner unmittelbaren Gruppenverfolgung - weder sind hinreichend sichere Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm zu erkennen, noch für eine ausreichend große Verfolgungsdichte - (vgl. ThürOVG, a.a.O., Rn. 66, 67), die Klägerin war jedoch vor ihrer Ausreise im März 2008 einer mittelbaren Gruppenverfolgung ausgesetzt.

Eine mittelbare Gruppenverfolgung von Dritten, die von privater Seite ausgeht, dem Staat jedoch zurechenbar ist, liegt typischerweise vor bei Massenausschreitungen (Pogromen), die das ganze Land oder große Teile erfassen und auch dann, wenn unbedeutende oder kleine Minderheiten mit solcher Härte, Ausdauer und Unnachsichtigkeit verfolgt werden, dass jeder Angehörige dieser Minderheit sich ständig der Gefährdung an Leib, Leben oder persönlicher Freiheit ausgesetzt sieht (ThürOVG, a.a.O., Rn. 70).

Aserbaidschanische Staatsangehörige, die den armenischen Volkszugehörigen zugerechnet wurden, unterlagen bis Ende 1999 ganz eindeutig einer mittelbaren Gruppenverfolgung (ThürOVG, Urt. v. 26.08.2003, 2 KO 155/03, juris, Rn. 51 ff; Urt. v. 28.02.2008, 2 KO 899/03, juris, Rn. 69). Ein definierter Endzeitpunkt Ende 1999 bzw. Anfang 2000, von dem an eine mittelbare Gruppenverfolgung aserbaidschanischer Staatsangehöriger mit armenischer Volkszugehörigkeit auszuschließen ist, lässt sich jedoch nicht bestimmen. Es sprechen vielmehr gewichtige Tatsachen dafür, dass die mittelbare Gruppenverfolgung auch für Armenier aus Mischehen in Aserbaidschan anhält. Eine Reihe von Tatsachen sprechen für ein sich fortsetzendes, diskriminierendes Handeln von wesentlichen Teilen der Bevölkerungsmehrheit, die sich gegen die wenigen noch im Land verbliebenen Personen mit armenischem Hintergrund richten (ThürOVG, Urt. v. 28.02.2008, 2 KO 899/03, juris, Rn. 100, 102, zu der Frage der mittelbaren Gruppenverfolgung wurde keine abschließende Entscheidung getroffen). Das Gericht folgt dabei den Ausführungen des Thüringer Oberverwaltungsgerichts in seinem - bereits mehrfach angeführten - Urteil vom 28.02.2008 (2 KO 899/03, juris, Rn. 105 - 127). [...]

In der Gesamtschau ist deshalb davon auszugehen, dass die Klägerin vor ihrer Ausreise im März 2008 einer mittelbaren Gruppenverfolgung ausgesetzt war. Für sie konnte sich jederzeit die Gefahr eigener Verfolgung verwirklichen und sie konnte, wenn der armenische Hintergrund entdeckt wurde, Opfer von Verfolgungsmaßnahmen werden, ohne dass der aserbaidschanische Staat bereit war, hiergegen Schutz zu bieten.

Diese asylerheblichen Gefahren bestanden auch für die Klägerin als Abkömmling aus einer Mischehe, die selber amtlich aserische Volkszugehörige ist und keinen armenischen Namen trägt (s.o. S. 7). Die Gefahr einer Verfolgung ist auch nicht deshalb zu verneinen, weil der Klägerin - nach ihren Angaben - ca. 2004 in Baku ein Personalausweis ausgestellt worden war, aus dem nicht hervorging, dass sie eine armenische Mutter hatte. Zum einen sagt dies nichts über die Schutzbereitschaft des aserbaidschanischen Staates aus - die Klägerin hat auch angegeben, den Personalausweis mit Hilfe von Bekannten bekommen zu haben -, zum anderen war damit nicht eine Tarnung gewährleistet, die Verfolgung durch dritte Personen ausschloss. Die armenische Herkunft der Klägerin, die zudem auch noch in Armenien geboren worden ist, konnte auch unabhängig von ihren Ausweisdokumenten bekannt werden. Der familiäre armenische Hintergrund birgt selbst in der Haupt- und Millionenstadt Baku ein erhebliches Risikopotential für die davon Betroffenen. Zwar bietet ein nicht-armenischer Name einen gewissen Schutz. Letztlich wird auch in Baku eine armenische Mutter vor Nachbarn oder dem Arbeitgeber nach Ansicht des Transkaukasus-Instituts (Gutachten vom 06.10.2005 an das VG Ansbach) kaum zu verbergen sein, da sich etwa Nachbarn und auch Arbeitgeber eingehend zu erkundigen pflegen (ThürOVG, a.a.O., Rn. 64). So hat die Klägerin denn auch in der mündlichen Verhandlung auf eine Nachbarin sowie Verwandte ihres Ehemannes verwiesen, die die armenische Herkunft der Klägerin bekannt gemacht hätten.

(3) Die Klägerin verfügte zum Zeitpunkt ihrer Ausreise auch über keine inländische Fluchtalternative im Gebiet von Berg-Karabach.

Wer nicht von landesweiter, sondern von nur regionaler politischer Verfolgung betroffen ist, kann die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nur dann für sich beanspruchen, wenn er landesweit in eine ausweglose Lage gerät. Das setzt voraus, dass er in anderen Teilen seines Heimatstaates eine zumutbare Zuflucht nicht finden kann (ThürOVG, a.a.O., Rn. 83).

Auch für den Fall, dass der Klägerin Berg-Karabach erreichbar gewesen wäre, drohten ihr dort Gefahren bzw. Nachteile, die zum Ausschluss dieses Gebietes als inländische Fluchtalternative führten. Jedenfalls konnte die Klägerin dort wirtschaftlich nicht existieren. [...]

cc) Im Falle der Rückkehr nach Aserbaidschan ist die Klägerin derzeit und für die überschaubare Zukunft jedenfalls nicht hinreichend sicher vor einer mittelbaren (nichtstaatlichen) Verfolgung, weil sie in Aserbaidschan der Ethnie der Armenier zugerechnet wird.

Hat ein Ausländer seine Heimat wegen erlittener oder unmittelbar drohender Verfolgung verlassen, wird ihm der Schutz des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG bereits dann zuteil, wenn an seiner Sicherheit vor abermals einsetzender Verfolgung bei einer Rückkehr in den Heimatstaat ernst zu nehmende Zweifel bestehen. In einem solchen Fall genügt es, wenn Tatsachen vorliegen, die die Möglichkeit abermals einsetzender Verfolgung als nicht ganz entfernt erscheinen lassen, er also vor politischer Verfolgung nicht hinreichend sicher ist (ThürOVG, a.a.O., Rn. 99). Dies ist hier der Fall. Noch der neueste Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 28.09.2009 spricht davon, dass armenische Namen in Baku nicht verwendet würden. Aserbaidschanische Behörden weigerten sich systematisch, die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit von in Deutschland lebenden Personen mit armenischen Namen anzuerkennen. Auch sonst seien Armenier öfter Behördenwillkür ausgesetzt als ethnische Aserbaidschaner. Es sei jedoch schwierig festzustellen, ob Armenier dabei tatsächlich in besonderer Weise diskriminiert würden, da sich die berichteten Fälle auf Probleme bezögen, die auch ethnische Aserbaidschaner beträfen. Hiernach lässt sich nicht sagen, dass die Klägerin heute vor Verfolgung hinreichend sicher wäre. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sie noch immer mit einer nicht unrealistischen Gefahr der Aufdeckung ihrer teilarmenischen Abstammung etwa durch Flüchtlinge rechnen müsste und dann entsprechenden Reaktionen der Bevölkerung ausgesetzt wäre (vgl. ThürOVG, a.a.O., Rn. 131 zur Situation Anfang 2008).

dd) Auch eine inländische Fluchtalternative in der Region von Berg-Karabach besteht für die Klägerin im Falle ihrer Rückkehr nach Aserbaidschan nach wie vor nicht.

Auch wenn sich nach dem Gutachten von Prof. Dr. Luchterhandt an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof vom 20.08.2009 die ökonomischen Verhältnisse in der Republik Berg-Karabach eher verbessert als verschlechtert haben dürften - in dem Gutachten wurde eine Existenzmöglichkeit in Berg-Karabach für einen 43-jährigen armenischen Volkszugehörigen mit langjähriger Erfahrung als KFZ-Mechaniker bejaht -, sind doch grundlegende Änderungen gegenüber der Situation Anfang 2008 nicht zu verzeichnen. Vielmehr führt Dr. Tessa Savvidis in ihrer Stellungnahme gegenüber dem Hessischen Verwaltungsgerichtshof vom 10.08.2009 (ebenfalls im Fall des genannten 43-jährigen armenischen Volkszugehörgenen) aus, die sozio-ökonomische Lage Berg-Karabachs sei noch immer durch Kriegszerstörungen und eine vorangegangene jahrzehntelange Vernachlässigung und Unterentwicklung der Region gekennzeichnet. Sollte der Kläger nicht zur Subsistenzwirtschaft bereit oder fähig sein, drohe ihm Arbeitslosigkeit und damit ein Leben unterhalb des Existenzminimums. Im vorliegenden Fall sind zudem auch zum jetzigen Zeitpunkt der schlechte Gesundheitszustand der 54-jährigen Klägerin und die fehlende Berufsausbildung ihrer Tochter zu berücksichtigen. [...]