OVG Bremen

Merkliste
Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 12.05.2010 - 1 B 42/10 - asyl.net: M17067
https://www.asyl.net/rsdb/M17067
Leitsatz:

Ein nicht sorgeberechtigter Vater, dessen Umgang mit seinem minderjährigen Kind aufgrund einer familiengerichtlichen Vereinbarung befristet ausgeschlossen ist, hat auch im Hinblick auf ein ihm in der Vereinbarung in Aussicht gestelltes späteres Umgangsrecht keinen Anspruch auf Duldung seines Aufenthalts.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: vorläufiger Rechtsschutz, Duldung, Aufenthaltserlaubnis, Schutz von Ehe und Familie, deutsches Kind, Eltern-Kind-Verhältnis, Vaterschaft, Umgangsrecht, Kindeswohl, Sicherung des Lebensunterhalts, Erziehungsberatung
Normen: GG Art. 6, AufenthG § 60a Abs. 2, AufenthG § 28 Abs. 1 S. 4, AufenthG § 28 Abs. 4, AufenthG § 36 Abs. 2, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1
Auszüge:

[...]

Das Verwaltungsgericht hat es zu Recht abgelehnt, dem Antragsteller einstweiligen Rechtsschutz gegen die drohende Aufenthaltsbeendigung zu gewähren. Der Antragsteller hat nicht glaubhaft gemacht, dass die Voraussetzungen für eine weitere Duldung seines Aufenthalts nach § 60a Abs. 2 AufenthG gegeben sind.

1. Gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist. Rechtlich unmöglich kann eine Abschiebung auch sein, wenn sie unzumutbar in eine durch Art. 6 GG geschützte familiäre Beziehung eingreift. Allerdings entfaltet Art. 6 GG – nicht nur im Hinblick auf den Abschiebungsschutz, sondern generell im Aufenthaltsrecht – Schutzwirkungen nicht schon aufgrund formalrechtlicher familiärer Bindungen. Entscheidend ist vielmehr die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienangehörigen, wobei grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalls geboten ist.

Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt hervorgehoben, dass zu den aufenthaltsrechtlich geschützten Beziehungen auch die des nicht sorgeberechtigten ausländischen Elternteils zu seinem hier lebenden minderjährigen Kind zählt. Der regelmäßige Umgang zwischen Elternteil und Kind stellt in diesem Fall eine familiäre Gemeinschaft im Sinne von Art. 6 Abs. 1 GG dar. Das Grundgesetz geht davon aus, dass solche Umgangskontakte in aller Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dienen und das Kind beide Elternteile, auch wenn diese getrennt leben, braucht (vgl. BVerfG, B. v. 08.12.2005 – 2 BvR 1001/04 – InfAuslR 2006, 122). Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist deshalb maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Das bedeutet, dass konkret zu würdigen ist, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte (BVerfG, B. v. 01.12.2008 – 2 BvR 1830/08 – juris). Dabei ist zu berücksichtigen, dass gerade Kleinkinder eine möglicherweise auch nur vorübergehende Trennung rasch als endgültigen Verlust erfahren können (BVerfG, B. v. 09.01.2009 – 2 BvR 1064/08 – InfAuslR 2009, 150).

Nach diesem Maßstab steht dem Antragsteller kein Duldungsanspruch zu. Der Antragsteller hat seinen Sohn seit seiner Wiedereinreise nach Deutschland im November 2008 nicht mehr gesehen. Die von der Antragsgegnerin beabsichtigte Aufenthaltsbeendigung greift deshalb nicht in eine gelebte Vater-Kind-Beziehung ein.

Der Abbruch der – bis August 2008 durchaus bestehenden – Umgangskontakte ist dem Antragsteller zuzurechnen. Der 3 1/2-monatige Aufenthalt des Kindes in Tunesien und die Behandlung, die ihm dort widerfahren ist, haben das Kind nach den vom Familiengericht eingeholten Berichten erheblich seelisch verletzt. Die Kindesentziehung und seine Folgen haben darüber hinaus nachhaltig die psychische Stabilität der Kindesmutter berührt. Die am 14.01.2010 vom Familiengericht getroffene Vereinbarung, wonach der Umgang des Kindesvaters mit dem Sohn für weitere 12 Monate ausgeschlossen wird, ist vor diesem Hintergrund zu sehen.

Danach werden die Umgangskontakte zwischen dem Antragsteller und seinem Sohn frühestens im Januar 2011 wieder aufgenommen. Ein Duldungsanspruch, der dazu diente, eine gelebte Vater-Kind-Beziehung aufrecht zu erhalten, ist deshalb im derzeitigen Zeitpunkt nicht gegeben. [...]

3. Es kann weiter nicht angenommen werden, dass durch die Ausreise im jetzigen Zeitpunkt zukünftige Umgangskontakte des Antragstellers zu seinem Sohn vereitelt oder unzumutbar erschwert werden würden und ihm unter diesem Gesichtspunkt ein Duldungsanspruch zustehen könnte. Der Antragsteller ist vielmehr gehalten, das weitere umgangs- und aufenthaltsrechtliche Verfahren von Tunesien aus zu betreiben.

Dass ein umgangsrechtliches Verfahren von einem Ausländer vom Ausland aus geführt werden muss, ist für sich genommen nicht unzumutbar. Das Bundesverfassungsgericht hat etwa anerkannt, dass solch ein Verfahren gerade geführt werden kann, um die aufenthaltsrechtlichen Voraussetzungen für eine Einreise in das Bundesgebiet zu schaffen (vgl. B. v. 21.05.2003 – 1 BvR 90/03 – InfAuslR 2003, 322). Soweit es im umgangsrechtlichen Verfahren erforderlich ist, dass der Betreffende persönlich vor Gerichten oder Behörden angehört wird, kann er verlangen, dass ihm zur Wahrnehmung solcher Termine die Einreise ermöglicht wird (vgl. OVG Bremen, B. v. 18.03.2010 – 1 B 45/10 – juris).

Es ist auch nicht unzumutbar, im Anschluss hieran das weitere aufenthaltsrechtliche Verfahren vom Ausland aus zu führen. Soweit die getroffene Umgangsregelung nur umgesetzt werden kann, wenn dem ausländischen Elternteil ein Daueraufenthaltsrecht eingeräumt wird, kommt hierfür § 28 Abs. 4 AufenthG i. V. m. § 36 Abs. 2 AufenthG als Rechtsgrundlage in Betracht. Es ist anerkannt, dass diese Vorschriften auch Grundlage für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an ein nichtsorgeberechtigtes Elternteil zur Wahrnehmung einer nach Art. 6 GG geschützten Eltern-Kind-Beziehung bilden können (GK-AufenthG/Marx, § 28 AufenthG Rn. 264; HK-AuslR/Oberhäuser, § 36 AufenthG Rn. 21; vgl. auch BMI, Allgemeine Verwaltungsvorschriften zum AufenthG vom 26.10.2009, GMBl 2009, 878, Nr. 28.4.1 und 36.2.2.6). [...]

Bei Vorliegen einer entsprechenden Umgangsregelung würde es sich weiter aufdrängen, dass bezüglich der in § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG geforderten Sicherung des Lebensunterhalts jedenfalls vorerst mit Rücksicht auf Art. 6 GG eine Ausnahme anzunehmen wäre (vgl. BVerwG, U. v. 26.08.2008 – 1 C 32/07 – InfAuslR 2009, 8). Eine andere Frage ist, dass ein nachfolgender dauerhafter Bezug öffentlicher Leistungen unter Umständen ein eingeräumtes Aufenthaltsrecht wieder gefährden könnte. Das kann hier auf sich beruhen. Festzuhalten ist, dass die Vorschriften des AufenthG auch insoweit die Grundlage für eine die verfassungsrechtlichen Vorgaben berücksichtigende Regelung des aufenthaltsrechtlichen Status bieten.

Schließlich steht dem Antragsteller ein Duldungsanspruch auch nicht deshalb zu, weil er nach der am 14.01.2010 vom Familiengericht getroffenen Vereinbarung Erziehungsberatung in Anspruch nehmen wird. Dazu hat der Antragsteller eine am 26.03.2010 vom Sozialzentrum Süd/Erziehungsberatungsstelle ausgestellte Bescheinigung vorgelegt, wonach er am selben Tag dort erklärt habe, solche Beratung in Anspruch nehmen zu wollen. In der Absicht, an einer solchen Beratung teilnehmen zu wollen, kann aber ein Abschiebungshindernis im Sinne von § 60a Abs. 2 AufenthG erblickt nicht werden. Sollte dem Antragsteller auf der Grundlage einer entsprechenden Umgangsregelung ein Daueraufenthaltsrecht eingeräumt werden, kann er in diesem Rahmen eine solche Beratung in Anspruch nehmen. Im Übrigen ist es dem Antragsteller, der an der Universität mehrere Semester ein Lehramtsstudium absolviert hat, unbenommen, bereits jetzt durch Eigenanstrengungen – etwa durch das Studium von Literatur, die Anlass zur Selbstreflektion bietet – sich auf eine solche Beratung vorzubereiten. [...]