OVG Mecklenburg-Vorpommern

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Zitieren als:
OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 27.11.2009 - 2 M 212/09 - asyl.net: M17073
https://www.asyl.net/rsdb/M17073
Leitsatz:

Ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis in Form der Reiseunfähigkeit kommt trotz der Aussage der Amtsärztin über die bestehende Reise- und Flugfähigkeit mit Blick auf die gegenteilige Aussage des privatärztlichen Gutachtens (Suizidgefahr) in Betracht. Die Ausländerbehörde hat als für die Abschiebung zuständige Behörde ihre Pflicht, eine soweit wie möglich abgesicherte Prognose über eine behauptete Gesundheitsgefahr zu treffen, damit eine Abschiebung verantwortet werden kann, nicht ausreichend erfüllt.

Schlagwörter: inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis, Reisefähigkeit, Sachverständigengutachten, vorläufiger Rechtsschutz, Duldung, Suizidgefahr
Normen: VwGO § 123 Abs. 1, AufenthG § 60a Abs. 2, GG Art. 2 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis in Form der Reiseunfähigkeit ist dann gegeben, wenn der Ausländer aus gesundheitlichen Gründen gar nicht transportfähig ist oder wenn das ernsthafte Risiko besteht, dass sich der Gesundheitszustand des Ausländers unmittelbar durch die Ausreise bzw. Abschiebung oder als unmittelbare Folge davon wesentlich (oder gar lebensbedrohlich) verschlechtern wird. Auch eine konkrete, ernstliche Suizidgefährdung mit Krankheitswert kann zu einem solchen Abschiebungshindernis führen (vgl. OVG NW, Beschl. v. 27.07.2006 - 18 B 586/06 -, NWVBl. 2007, 55). Die mit dem Vollzug der Abschiebung betraute Stelle ist auch von Amts wegen zur Beachtung (tatsächlicher) Abschiebungshindernisse in jedem Stadium der Durchführung der Abschiebung verpflichtet und hat gegebenenfalls durch ein (vorübergehendes) Absehen von der Abschiebung (Duldung) oder durch eine entsprechende tatsächliche Gestaltung der Abschiebung die notwendigen Vorkehrungen zu treffen (BVerfG, Kammerbeschl. v. 26.02.1998 - 2 BvR 185/98 -, InfAuslR 1998, 241). Die Abschiebung eines Ausländers hat einstweilen zu unterbleiben, solange nicht eine amtsärztliche Begutachtung das Fehlen einer Suizidgefahr feststellt (vgl. BVerfG, Kammerbeschl. v. 09.02.1995 - 2 BvQ 7/95 -, AuAS 1995, 54). Krankheitsbedingte Gefahren, die sich vor oder bei der Abschiebung selbst (auch im Hinblick auf die spezifischen Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung) realisieren können, sind als inlandsbezogene Abschiebungshindernisse von der Verwaltungsbehörde zu prüfen und können einer Abschiebung entgegenstehen.

Für die vorliegende Entscheidung kommt es demnach darauf an, ob sich der Gesundheitszustand der Antragstellerin zu 1. allein durch ihre Abschiebung erheblich verschlechtern wird und damit die Voraussetzungen für die Erteilung einer Duldung gemäß § 60a AufenthG i.V.m. Art. 2 Abs. 2 GG gegeben sind. Keine Rolle spielt es hingegen, ob ihre Krankheit in ihrem Heimatland sachgerecht behandelt werden kann. Diese Frage bleibt dem asylrechtlichen Verfahren vorbehalten.

Bei der Beurteilung dieser Frage hat das Verwaltungsgericht die ihr vorliegenden fachlichen Stellungnahmen ausgewertet und ist dabei zu dem Ergebnis gelangt, dass weder der Aussage der Amtsärztin über die vorhandene Reise- und Flugfähigkeit der Antragstellerin zu 1. noch der gegenteiligen Aussage des privatärztlichen Gutachtens ein höheres, die andere Aussage verdrängendes Gewicht beizumessen sei. Dies hat es im Wesentlichen damit begründet, dass die Feststellungen des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie zwar nicht auf einer längerfristigen Beobachtung der Psyche der Antragstellerin zu 1. beruhten, er jedoch seine Diagnose auf ihre in einer Gesprächsführung mit ihm konkret getätigten Äußerungen stütze, wozu sich die amtsärztliche Feststellung dagegen nicht verhalte.

Auf diese Argumentation geht die Beschwerdebegründung nicht in der gebotenen Weise ein. Sie beschränkt sich im wesentlichen auf die Kritik, die Feststellungen im privatärztlichen Gutachten erscheinen äußerst weitreichend, das Verwaltungsgericht sei auf die Identitätsproblematik nicht überzeugend eingegangen und das Privatgutachten treffe keine Aussagen zur Reise- und Flugtauglichkeit der Antragstellerin zu 1.. Mit diesem Begründungsansatz vermag die Beschwerde nicht aufzuzeigen, dass die Begründung des Verwaltungsgerichts im angegriffenen Beschluss fehlerhaft ist, weil die Antragstellerin zu 1. nach der amtsärztlichen Begutachtung zweifelsfrei reisefähig ist. Das Fehlen einer Suizidgefahr beim Vollzug der Abschiebung ist durch die Amtsärztin nicht in für den Senat nachvollziehbarer Weise festgestellt worden. Es trifft nicht zu, dass es bei der Antragstellerin zu 1. keinerlei Hinweise auf eine akute depressive Symptomatik mit möglicher Suizidalität geben würde. Ein solcher Hinweis ergibt sich gerade aus dem fachärztlichen Privatgutachten, das der Amtsärztin vorlag und dem sie durch die Beauftragung eines fachlich hierzu befähigten Arztes durch Begutachtung ihrer Reisefähigkeit ggfs. hätte nachgehen oder selbst nachvollziehbar darlegen müssen, warum die fachliche Einschätzung eines Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie haltlos ist. Damit hat die Antragsgegnerin als die für die Abschiebung zuständige Behörde ihre Pflicht, eine soweit wie möglich abgesicherte Prognose über eine behauptete Gesundheitsgefahr zu gewinnen, damit eine Abschiebung verantwortet werden kann, nicht ausreichend erfüllt. [...]