VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 18.05.2010 - 11 A 2870/09.Z - asyl.net: M17085
https://www.asyl.net/rsdb/M17085
Leitsatz:

Im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 ist der gemeinschaftsrechtliche weite Arbeitnehmerbegriff heranzuziehen. Auf eine Mindestarbeitszeit oder ein Mindesteinkommen kommt es daher nicht an; es ist lediglich zu prüfen, ob die Tätigkeit nicht völlig unwesentlich ist.

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis, Assoziationsberechtigte, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, geringfügige Beschäftigung, Arbeitnehmerbegriff, Türkischer Arbeitnehmer
Normen: AufenthG § 4 Abs. 5 S. 2, ARB 1/80 Art. 6 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Mit dem angegriffenen Urteil verpflichtete das Verwaltungsgericht die Beklagte, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 4 Abs. 5 Satz 2 AufenthG zu erteilen. Zur Begründung führte das Gericht aus, der Kläger habe einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auf der Grundlage von Art. 6 Abs. 1 Spiegelstrich 1 und 2 ARB 1/80, da er aufgrund der nachgewiesenen Beschäftigung Arbeitnehmer im Sinne des Art. 6 ARB 1/80 sei. Der Kläger sei seit dem 9. Mai 2000 ununterbrochen bei der Firma ... GmbH & Co. KG angestellt und habe dort bis Februar 2006 zehn Stunden wöchentlich gearbeitet. Hinsichtlich des Umfangs der wöchentlichen Arbeitszeit nach dem 20. Mai 2006 habe der Arbeitgeber zwar keine Angaben gemacht, aus der Gehaltsabrechnung für den März 2009 ergebe sich jedoch, dass der Kläger in den ersten drei Monaten des Jahres 2009 einen Brutto-Verdienst von monatlich 387,30 € gehabt habe. Zwar habe das Arbeitsentgelt während des Zeitraumes Mai 2004 bis März 2009 zwischen 294,00 € und 387,30 € geschwankt, es sei aber davon auszugehen, dass der Kläger einen Großteil der bescheinigten Arbeitstätigkeit von 10 Stunden in der Woche gearbeitet habe und der Umfang dieser Tätigkeit, gemessen am derzeitigen Arbeitslohn, mit Sicherheit nicht unterschritten worden sei. Der Arbeitsumfang und das Entgelt für die vom Kläger ausgeübte Tätigkeit könnten daher nicht als unwesentlich bezeichnet werden. [...]

Soweit die Beklagte ausführt, das Verwaltungsgericht hätte die Arbeitsplatzbeschreibung des Arbeitgebers des Klägers kritisch würdigen müssen, da sich der angegebene Arbeitsbereich nicht mit dem Status eines geringfügig Beschäftigten und mit einem Verdienst weit unter der sozialversicherungspflichtigen Lohnhöhe von 400,00 € decke, vermag dies die Richtigkeit der Einschätzung des Gerichts erster Instanz, der Kläger sei ein Arbeitnehmer im Sinne des Art. 6 ARB 1/80, nicht in Frage zu stellen.

Denn für die Beurteilung der Arbeitnehmereigenschaft des Klägers kommt es nicht darauf an, ob er - wie in der von dem Gericht erster Instanz in Bezug genommenen Bescheinigung seines Arbeitgebers vom 14. Mai 2009 angegeben - in Abwesenheit des Vorarbeiters als dessen Vertreter eingesetzt worden ist und diesem auch während seiner Anwesenheit als Hilfe diente. Die Erfüllung der Arbeitnehmereigenschaft setzt nämlich nicht voraus, dass es sich um eine entsprechend qualifizierte Tätigkeit handelt. Maßgeblich ist vielmehr, dass der türkische Staatsangehörige eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei - nur - solche Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die wegen ihres geringen Umfangs völlig untergeordnet und unwesentlich sind. Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht darin, dass während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbracht werden, für die als Gegenleistung eine Vergütung gezahlt wird (vgl. EuGH, Urteil vom 4. Februar 2010 - C-14/09 -, NVwZ 2010, 367 unter Hinweis auf seine ständige Rechtsprechung; Hess. VGH, Urteil vom 8. April 2009 - 11 A 2264/08 -, InfAuslR 2009, 325).

Die Beklagte hat in der Antragsbegründung zugestanden, dass der Kläger eine weisungsgebundene Tätigkeit ausübt und mit einer Arbeitstätigkeit von mindestens 10 Stunden wöchentlich auch die zeitlichen Mindestvoraussetzungen erfüllt. Dass sich die von dem Kläger ausgeübte Tätigkeit trotz dieses Umfangs als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellt, so dass seine Arbeitnehmereigenschaft zu verneinen wäre, hat die Beklagte hingegen nicht dargetan. Die von ihr geäußerten Zweifel daran, dass der Kläger tatsächlich den von seinem Arbeitgeber beschriebenen verantwortungsvollen Aufgaben nachkommt, reichen dazu nicht aus. Auch der Verweis der Beklagten darauf, dass der Verdienst des Klägers "weit unter" der sozialversicherungspflichtigen Lohnhöhe von 400,00 € liege, genügt insoweit nicht. Das Verwaltungsgericht ist diesbezüglich unter Bezugnahme auf das Urteil des Senats vom 8. April 2009 (- 11 A 2264/08 -, a.a.O.) zu Recht davon ausgegangen, dass es unerheblich sei, dass es sich nach dem deutschen Sozialversicherungsrecht um eine geringfügige Tätigkeit handele, und es nicht nach innerstaatlichem Sozialversicherungsrecht, sondern nach dem europäischen Recht zu beurteilen sei, ob ein türkischer Staatsangehöriger den Status eines Arbeitnehmers habe. Dem Urteil des EuGH vom 4. Februar 2010 (- C-14/09 -, a.a.O.) ist ebenfalls zu entnehmen, dass auch ein - noch erheblich unter dem Lohn des Klägers liegender - monatlicher Durchschnittslohn von etwa 175,00 € (bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 5,5 Stunden zu einem Stundenlohn von 7,87 €) der Annahme der Arbeitnehmereigenschaft nicht entgegensteht.

Angesichts dessen, dass im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 der gemeinschaftsrechtliche weite Arbeitnehmerbegriff des EG-Freizügigkeitsrechts heranzuziehen ist (vgl. EuGH, Urteil vom 4. Februar 2010 - C-14/09 -, a.a.O.; Hailbronner, Ausländerrecht, Art. 6 ARB 1/80 Rdnr. 24 mit weiteren Nachweisen) und es auch bei EU-Angehörigen für die Bejahung der Eigenschaft als Arbeitnehmer und die daran anknüpfende Freizügigkeitsberechtigung (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU) auf eine Mindestarbeitszeit oder ein Mindesteinkommen nicht ankommt (vgl. Hailbronner, a.a.O. § 2 FreizügG/EU Rdnr. 23), vermag der Senat das - im Übrigen nicht hinreichend substanziierte - Vorbringen der Beklagten, dass die finanzielle Grenze von 400,00 € auch für Unionsbürger aus anderen Unionsländern als Maßstab angewandt werde und es fraglich erscheine, ob ein türkischer Arbeitnehmer gegenüber einem EU-Unionsbürger besser gestellt werden dürfe, nicht nachzuvollziehen. [...]