VG Regensburg

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Zitieren als:
VG Regensburg, Urteil vom 15.04.2010 - RN 9 K 10.30049 - asyl.net: M17090
https://www.asyl.net/rsdb/M17090
Leitsatz:

In Afghanistan herrscht landesweit ein bewaffneter Konflikt im Sinne des humanitären Völkerrechts.

In verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Sätze 1 und 3 AufenthG erscheint es angezeigt, ein Abschiebungsverbot aufgrund der schlechten Versorgungslage dann festzustellen, wenn die Rückkehr einer Person in den Schutz der Familie bzw. eines Stammes oder die Sicherung des Lebensunterhalts aus eigener Kraft ausgeschlossen erscheint sowie wenn diese Person zu einer der von UNHCR in der Stellungnahme vom 10.11.2009 genannten Personengruppen gehört.

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, Afghanistan, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Sperrwirkung, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 2, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 3
Auszüge:

[...]

Nach Bewertung der Beklagten ist die Situation "auch im Norden Afghanistans", d.h. auch in dem bisher als relativ sicher eingestuften Bereich des Landes, als bewaffneter Konflikt im Sinne des humanitären Völkerrechts zu qualifizieren (vgl. Regierungserklärung durch den Bundesminister des Auswärtigen Dr. Westerwelle am 10. Februar 2010, Plenarprotokoll 17/22 des Deutschen Bundestages, S. 1894, 1896). Das Gericht sieht keinen Grund, dieser Einschätzung der Bundesregierung, in ganz Afghanistan sei nunmehr vom Vorliegen eines bewaffneten Konflikts im Sinne des humanitären Völkerrechts auszugehen, nicht zu folgen.

Dies vermag den Klagen jedoch nicht zum Erfolg zu verhelfen, da zwar ausweislich einer Reisewarnung des US-Außenministeriums kein Ort in Afghanistan als sicher eingestuft werden könne (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update vom 11. August 2009, Die aktuelle Sicherheitslage, S. 3), jedoch selbst der UNHCR nicht in der Lage ist, bestimmte Konfliktgebiete in Afghanistan zu benennen, in denen es aufgrund allgemeiner Gewalt oder aufgrund von Ereignissen, welche die öffentliche Ordnung erheblich beeinträchtigen, zu einer schweren und willkürlichen Bedrohung des Lebens, der physischen Integrität oder der Freiheit kommt (UNHCR vom 10. November 2009, S. 9).

5. Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kann von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn für ihn dort eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Das Vorliegen einer Gefahr beurteilt sich nach dem asylrechtlichen Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, wobei das Element der Konkretheit der Gefahr für "diesen" Ausländer das zusätzliche Erfordernis einer einzelfallbezogenen, individuell bestimmten und erheblichen Gefährdungssituation statuiert. Die Gefahr muss nicht vom Staat ausgehen und sie muss diesem auch nicht zugerechnet werden können. Die Gefahr muss landesweit bestehen und der Ausländer darf sich der Gefahr nicht durch Ausweichen in sichere Gebiete seines Herkunftslandes entziehen können (vgl. BVerwG vom 17. Oktober 1995, Az. 9 C 9.95).

Konkrete Gefahren sind im Fall der Kläger weder vorgetragen noch ersichtlich. Die Kläger berufen sich lediglich auf die allgemeine Lage.

6 a. Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind nach § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG bei Anordnungen nach § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Denn hinsichtlich des Schutzes vor allgemeinen Gefahren im Zielstaat soll Raum sein für ausländerpolitische Entscheidungen, was die Anwendbarkeit von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG insoweit grundsätzlich sperrt und zwar selbst dann, wenn diese Gefahren den einzelnen Ausländer zugleich in konkreter und individualisierbarer Weise betreffen (vgl. BVerwG vom 17. Oktober 1995, Az. 9 C 9.95). Die Sperre des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG greift trotz bestehender konkreter erheblicher Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG immer dann, wenn dieselbe Gefahr zugleich einer Vielzahl weiterer Personen im Abschiebestaat droht (vgl. BVerwG vom 27. April 1998, Az. 9 C 13.97). Individuelle Gefährdungen eines Ausländers, die sich aus der allgemeinen Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG ergeben, können auch dann nicht als Abschiebungsverbot unmittelbar nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG berücksichtigt werden, wenn sie auch durch Umstände in der Person oder in den Lebensverhältnissen des Ausländers begründet oder verstärkt werden, aber nur typische Auswirkungen der allgemeinen Gefahrenlage sind (vgl. BVerwG vom 8. Dezember 1998, Az. 9 C 4/98).

Soweit es um den Schutz vor den einer Vielzahl von Personen im Zielstaat drohenden typischen Gefahren solcher Missstände wie etwa Lebensmittelknappheit, Obdachlosigkeit oder gesundheitliche Gefährdungen geht, ist die Notwendigkeit einer politischen Leitentscheidung gegeben. Eine allgemeine Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG liegt vor, wenn ein Missstand im Abschiebezielstaat die Bevölkerung insgesamt oder eine Bevölkerungsgruppe so trifft, dass grundsätzlich jedem, der der Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppe angehört, deshalb mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine erhebliche Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG droht (vgl. BVerwG vom 12. Juli 2001, Az. 1 C 5.01).

b) Steht einem Ausländer nach den einschlägigen Vorschriften kein Abschiebungsschutz zu, kann er aber gleichwohl ohne Verletzung höherrangigen Verfassungsrechts nicht abgeschoben werden, dann ist bei verfassungskonformer Auslegung und Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG im Einzelfall Schutz vor der Durchführung der Abschiebung nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Das ist der Fall, wenn die obersten Landesbehörden trotz einer extremen allgemeinen Gefahrenlage, die jeden einzelnen Ausländer im Falle seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausliefern würde, keinen generellen Abschiebestopp verfügen (vgl. BVerwG vom 17. Oktober 1995, Az. 9 C 9.95).

Die verfassungskonforme Überwindung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG setzt voraus, dass dem Ausländer im Falle seiner Abschiebung mit hoher Wahrscheinlichkeit extreme Gefahren drohen. Die hohe Wahrscheinlichkeit des Eintritts der allgemeinen Gefahr markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Dieser hohe Wahrscheinlichkeitsgrad ist ohne Unterschied in der Sache in der Formulierung mit umschrieben, dass die Abschiebung dann ausgesetzt werden müsse, wenn der Ausländer ansonsten "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde" (vgl. BVerwG vom 14. November 2007, Az. 10 B 47.07; wie auch schon in den Entscheidungen vom 19. November 1996, Az. 1 C 6.95, vom 26. Januar 1999, Az. 9 B 617.98, und vom 12. Juli 2001, Az. 1 C 5.01). Damit sind nicht nur Art und Intensität der drohenden Rechtsgutsverletzungen, sondern auch die Unmittelbarkeit der Gefahr und ihr hoher Wahrscheinlichkeitsgrad angesprochen.

Um dem Erfordernis des unmittelbaren - zeitlichen - Zusammenhangs zwischen Abschiebung und drohender Rechtsgutverletzung zu entsprechen, kann hinsichtlich einer allgemein schlechten Versorgungslage eine extreme Gefahrensituation nur dann angenommen werden, wenn der Ausländer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach seiner Rückkehr in sein Heimatland in eine lebensgefährliche Situation gerät, aus der er sich weder allein noch mit erreichbarer Hilfe anderer befreien kann. Mit dem Begriff "alsbald" ist dabei kein nur in unbestimmter zeitlicher Ferne liegender Termin gemeint (vgl. Bad.-Württ. VGH vom 9. Juni 2009, Az. A 11 S 611/08).

Die Unmittelbarkeit setzt nicht voraus, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Ankunft im Abschiebezielstaat, eintreten. Eine extreme Gefahrenlage besteht auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem alsbaldigen sicheren Hungertod ausgeliefert sein würde (vgl. BVerwG vom 26. Januar 1999, Az. 9 B 617.98). [...]

d) Zur Lage der Bevölkerung in Afghanistan liegen Erkenntnisse vor, welche im Einzelfall unter Umständen durchaus auf eine lebensbedrohliche Gefährdung der Existenz aufgrund der allgemeinen Versorgungslage schließen lassen.

Der Zustand der medizinischen Infrastruktur sei mangelhaft und diese schlecht in Stand gehalten. Es fehle an geschultem und ausgebildetem Personal und an medizinischen Beständen. Die medizinische Versorgung reiche nicht, um die medizinischen Grundbedürfnisse der Mehrheit der Bevölkerung zu befriedigen (UNHCR vom 10. November 2009, S. 14).

In weiten Landesteilen bestehe keine medizinische Versorgung. Sie sei, insbesondere die stationäre Behandlungsmöglichkeit, völlig unzureichend und in etlichen Landesteilen, vor allem auf dem Lande, und nachts nahezu nicht existent bzw. nicht nutzbar. Lediglich in den großen Städten seien Apotheken vorhanden, die ein nutzbares Angebot an Medikamenten bevorraten. Eine gekühlte Lagerung von Medikamenten sei nicht gewährleistet. Medizinische Hilfe sei kaum erreichbar, allenfalls ambulant über Tag und bei Fehlen von Straßen- und Ausgangssperren. Notfälle könnten nachts vielfach keinerlei medizinische Hilfe erwarten (Auswärtiges Amt, Reisewarnung für Afghanistan vom 23.10.2009; sachlich unverändert auch Reisewarnung vom 8. April 2010).

Das Auswärtige Amt prognostiziert für das Jahr 2009 eine Verbesserung der Versorgung der Bevölkerung mit Weizen als wichtigstem Grundnahrungsmittel. Gleichwohl sei die Versorgung in den ländlichen Gebieten sehr schwierig. In den Städten sei die Versorgung mit Wohnraum zu angemessenen Preisen nach wie vor schwierig. Staatliche soziale Sicherungssysteme seien praktisch nicht existent. Die soziale Absicherung erfolge traditionell bei den Familien und Stammesverbänden. Afghanen, die außerhalb des Familienverbandes oder nach längerer Abwesenheit im westlich geprägten Ausland zurückkehrten, stießen auf größere Schwierigkeiten als Rückkehrer, die in Familienverbänden geflüchtet oder in einen solchen zurückkehren, da ihnen das notwendige soziale oder familiäre Netzwerk sowie die notwendigen Kenntnisse der örtlichen Verhältnisse fehlten. Die medizinische Versorgung sei immer noch unzureichend. Für Rückkehrer sei die Verwirklichung grundlegender sozialer und wirtschaftlicher Bedürfnisse, wie etwa der Zugang zu Arbeit, Wasser, Gesundheitsversorgung etc., häufig nur eingeschränkt möglich. Dies gelte insbesondere für Rückkehrer ohne Startkapital (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 28. Oktober 2009).

Mehr als 50 Prozent der Bevölkerung würden unter der Armutsgrenze leben. Ein Großteil der Bevölkerung habe keine Arbeit oder sei stark unterbeschäftigt, so dass viele Familien ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigen könnten. Nur wenige Afghanen würden 400 US-Dollar verdienen, die für die monatlichen Auslagen notwendig seien. Rund 30 Prozent der Bevölkerung würden über keine eigene Wohngelegenheit verfügen. Rund 77 Prozent der Afghanen hätten keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Geschätzt acht Millionen Afghanen seien auf Lebensmittelhilfe angewiesen. Die medizinische Versorgung sei völlig unzureichend und teilweise nahezu nicht existent. Für rückkehrende Personen sei ein starkes Familien-, Sozial- oder Stammesnetz von grundlegender Bedeutung. Ohne dieses könnten Personen in der heutigen Zeit nicht überleben (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update vom 11. August 2009, Die aktuelle Sicherheitslage).

Die traditionell erweiterten Familien- und Gemeinschaftsstrukturen der afghanischen Gesellschaft würden weiterhin den vorwiegenden Schutz- und Bewältigungsmechanismus bilden. Afghanen seien auf diese Strukturen und Verbindungen zum Zweck der Sicherheit und des wirtschaftlichen Überlebens, einschließlich des Zugangs zur Unterkunft und eines angemessenen Niveaus des Lebensunterhalts angewiesen. Der von Familien und Stämmen gewährte Schutz sei auf jene Gebiete begrenzt, in denen familiäre oder gemeinschaftliche Verbindungen tatsächlich bestünden, insbesondere am Herkunftsort oder dem Ort des gewöhnlichen Aufenthalts. Die Rückkehr an Orte, die weder den Herkunfts- noch einen ehemaligen Wohnort darstellen, könne afghanische Staatsangehörige unüberwindbaren Schwierigkeiten aussetzen, insbesondere in Bezug auf den Erhalt oder den Wiederaufbau der Existenzgrundlage. Es sei deswegen unwahrscheinlich, dass Afghanen nach einer Neuansiedlung in einem Gebiet, einschließlich der städtischen Gebiete, in dem kein völliger Schutz durch die Familie, Gemeinschaft oder den Stamm bestehe, ein relativ normales Leben ohne unangemessene Härte führen könnten. Besonderen Schwierigkeiten könnten im Fall der Rückkehr folgende Personen ausgesetzt sein: Unbegleitete Frauen; weibliche Haushaltsvorstände; unbegleitete Kinder; unbegleitete ältere Personen; Opfer mit schwerwiegendem Trauma, einschließlich sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt; physisch oder psychisch behinderte Menschen sowie Personen, die (sowohl kurzfristig als auch langfristig, insbesondere Frauen) medizinische Hilfe benötigen (UNHCR vom 10. November 2009, S. 12, 15).

In verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Sätze 1 und 3 AufenthG erscheint es daher angezeigt, ein Abschiebungsverbot aufgrund der schlechten Versorgungslage in Afghanistan dann festzustellen, wenn die Rückkehr einer Person in den Schutz einer Familie bzw. eines Stammes oder die Sicherung des Lebensunterhalts aus eigener Kraft ausgeschlossen erscheint sowie wenn diese Person zu einer der vom UNHCR benannten Personengruppen gehört. [...]

Auf die schwierige Sicherheitslage als Folge der bewaffneten Auseinandersetzungen in Afghanistan können sich die Kläger nicht mit Erfolg berufen, denn insoweit besteht kein Raum mehr für eine verfassungskonforme Auslegung und Anwendung des § 60 Abs. 7 Sätze 1 und 3 AufenthG. Seit Inkrafttreten des neuen § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, mit welchem Art. 15 Buchstabe c QRL in deutsches Recht umgesetzt wurde, existiert eine ausdrückliche gesetzliche Vorschrift, welche Abzuschiebenden Schutz vor einer Gefährdung bietet, der bislang nur durch politische Entscheidung nach § 60 a Abs. 1 AufenthG oder durch verfassungskonforme Auslegung und Anwendung des § 60 Abs. 7 Sätze 1 und 3 AufenthG zu erreichen war. Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, wie sie nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu interpretieren sind, erfordern eine Gefährdung allein durch Anwesenheit in einem bestimmten Gebiet. Dies entspricht dem Gefährdungsgrad "sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausliefern" im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. Durch die Existenz des neuen § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG besteht insoweit keine Lücke im Schutzsystem mehr, welche im Wege der verfassungskonformen Auslegung und Anwendung anderer Vorschriften zu schließen wäre. [...]