VG Kassel

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Zitieren als:
VG Kassel, Urteil vom 28.05.2010 - 5 K 1157/09.KS.A - asyl.net: M17109
https://www.asyl.net/rsdb/M17109
Leitsatz:

In sog. Altfällen, d.h. wenn die Entscheidung über den Asylantrag vor dem 1.1.2005 unanfechtbar geworden ist, hatte das BAMF die Prüfung eines evtl. Widerrufs bis zum 31.12.2008 vorzunehmen. Dies bedeutet, dass spätestens zu diesem Datum eine Entscheidung des BAMF vorliegen musste, andernfalls ist ein Widerruf nur noch im Ermessenswege nach § 73 Abs. 2a S. 4 AsylVfG zulässig.

Schlagwörter: Widerruf, Widerrufsverfahren, Türkei, Ermessen
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 2a S. 4, AsylVfG § 73 Abs. 1 S. 1, AsylVfG § 73 Abs. 7, AsylVfG § 73 Abs. 4 S. 1
Auszüge:

[...]

Der Kläger ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Er wendet sich gegen den Widerruf der Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen. [...]

Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamtes erweist sich als ermessensfehlerhaft. Die Beklagte hat von ihrem Ermessen, welches ihr nach der Vorschrift des § 73 Abs. 2 a S. 4 AsylVfG eingeräumt worden ist, keinen Gebrauch gemacht, sondern den Widerruf allein auf die Vorschrift des § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG gestützt. Der Bescheid vom 22.09.2009 ist daher wegen Ermessensnichtgebrauchs rechtsfehlerhaft und somit aufzuheben.

Hierzu hat das Verwaltungsgericht Frankfurt in einem vergleichbaren Fall mit Urteil vom 27.01.2010 (6 K 2348/09.F.A) ausgeführt:

"Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG sind die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist nach § 73 Abs.1 Satz 2 AsylVfG insbesondere der Fall, wenn es der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Anerkennung als Asylberechtigter oder zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, oder wenn er als Staatenloser in der Lage ist, in das Land zurückzukehren, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Die Prüfung, ob die Voraussetzungen für einen Widerruf nach Abs. 1 vorliegen, hat gemäß § 73 Abs. 2 a Satz 1 AsylVfG spätestens nach Ablauf von drei Jahren nach Unanfechtbarkeit der Entscheidung zu erfolgen. Das Ergebnis ist der Ausländerbehörde mitzuteilen (§ 73 Abs. 2 a Satz 2 AsylVfG). Wenn die Entscheidung über den Asylantrag vor dem 1. Januar 2005 unanfechtbar geworden ist, hat die Prüfung nach Abs. 2 a Satz 1 spätestens bis zum 31. Dezember 2008 zu erfolgen (§ 73 Abs. 7 AsylVfG).

Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass die nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG bestehende Pflicht zum unverzüglichen Widerruf der Asylberechtigung oder der Flüchtlingseigenschaft nur im öffentlichen Interesse, nicht aber im privaten Interesse des jeweiligen Ausländers steht, so dass ein etwaiger Verstoß gegen dieses Gebot keine Rechte des betroffenen Ausländers verletzt (BVerwG, Urteil vom 12.6.2007 - 10 C 24/07, NVwZ 2007, 1330 Rdnr. 13 zitiert nach Juris m.w.N.). Für die Einhaltung der Frist des § 73 Abs. 7 AsylVfG kann dies aber nicht gelten. Der zwingende Widerruf einer Asyl- oder Flüchtlingsanerkennung kann nach jetziger Rechtslage vom Bundesamt nicht mehr - wie bisher - zeitlich unbegrenzt, sondern nur noch in einem Zeitraum von drei Jahren nach Unanfechtbarkeit der Anerkennung ausgesprochen werden (BVerwG a.a.O. Rdnr. 15). Muss ein als Asylberechtigter oder als Flüchtling im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG anerkannter Ausländer während der Dreijahresfrist des § 73 Abs. 2 a AsylVfG bei Wegfall der Anerkennungsvoraussetzungen regelmäßig mit dem Widerruf des Anerkennungsbescheids rechnen, so genießt er nach der gesetzlichen Konzeption jedenfalls in diesem Zeitraum kein schutzwürdiges Vertrauen hinsichtlich der Aufrechterhaltung seines Asyl- bzw. Flüchtlingsstatus, womit ein Anknüpfungspunkt für die Anwendung des § 49 Abs. 2 Satz 2 und des § 48 Abs. 4 VwVfG fehlt (BVerwG a.a.O.). Auf der anderen Seite wurde mit dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes zum 1. Januar 2005 festgelegt, dass ein Asylberechtigter nicht wie nach bisheriger Rechtslage eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis, sondern lediglich eine befristete Aufenthaltserlaubnis bekommt (§ 25 Abs. 1 Satz 1 AufenthG); gleiches gilt für Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist (§ 25 Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Die Aufenthaltserlaubnis für diesen Personenkreis wird für längstens drei Jahre erteilt (§ 26 Abs. 1 Satz 1 AufenthG). Die Befristung der Aufenthaltserlaubnis auf drei Jahre korrespondiert mit der in § 73 Abs. 2 a AsylVfG geregelten Frist zur Überprüfung der Voraussetzungen der Anerkennungsentscheidung (so die Gesetzesbegründung, BT-DrS 15/420, S. 80). Einem Ausländer, der seit drei Jahren eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 1 oder Abs. 2 AufenthG besitzt, ist eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen, wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gemäß § 73 Abs. 2 a AsylVfG mitgeteilt hat, dass die Voraussetzungen für den Widerruf oder für die Rücknahme nicht vorliegen (§ 26 Abs. 3 AufenthG). Demnach hat die Mitteilung des Bundesamtes nach § 73 Abs. 2 a Satz 2 AsylVfG anspruchsbegründende Wirkung, d.h. mit der Mitteilung erwirbt der betreffende Ausländer einen Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis. Den betroffenen Personen soll damit nach der Gesetzesbegründung die Perspektive für eine dauerhafte Lebensplanung in Deutschland eröffnet werden (BT-DrS 15/420, S. 80). Auch das Bundesverwaltungsgericht weist in seinem Urteil vom 25.11.2008 (10 C 53.07, NVwZ 2009, 328 Rdnr. 16) darauf hin, dass die Prüfung der Widerrufsvoraussetzungen durch das Bundesamt nach der jetzigen Rechtslage aufenthaltsrechtliche Folgen hat, während es sich nach der bis zum Jahresende 2004 geltenden Regelung lediglich um eine interne Überprüfungspflicht des Bundesamtes gehandelt hat, für die im Falle des Absehens vom Widerruf keine Mitteilung des Überprüfungsergebnisses an die Ausländerbehörde vorgeschrieben war und die auch keine Verbesserung der aufenthaltsrechtlichen Position des Ausländers zur Folge hatte. Diese Bemerkung des Bundesverwaltungsgerichtes kann nur so verstanden werden, dass für die jetzige Rechtslage das Gegenteil zu gelten hat. Dementsprechend wird auch die Auffassung vertreten, dass der betreffende Ausländer einen einklagbaren Anspruch gegen das Bundesamt auf die Mitteilung nach § 73 Abs. 2 a Satz 2 AsylVfG hat (VG Köln, Urteil vom 1.7.2005, 18 K 7716/04.A, zitiert nach Juris; Wolff in: Hofmann/Hoffmann; Ausländerrecht, Kommentar, § 73 AsylVfG Rdnr. 40; wohl auch Heindel, ZAR 2009, 269, 272). Dass das Bundesverwaltungsgericht die Regelung des § 73 Abs. 2 a Satz 1 AsylVfG unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes beurteilt, wurde bereits zitiert. Dementsprechend nimmt auch Schäfer (in GK-AsylVfG, Kommentar, Stand: Februar 2009, § 73 Rdnr. 89) an, dass die Prüfungspflicht nach § 73 Abs. 2 a AsylVfG auch den Interessen des Ausländers zu dienen bestimmt ist (a.A. aber Hess. VGH, Beschluss vom 1.8.2005 - 7 UE 1364/05.A, InfAuslR 2005, 494, zitiert nach Juris, sowie der gleichlautende Beschluss vom 5.8.2005 - 7 UE 1370/05.A und VG Aachen, Urteil vom 4.9.2009, 6 K 1309/09.A). Für die sogenannten Altfälle, also diejenigen, in denen die Anerkennung als Asylberechtigter oder die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vordem 1.1.2005 unanfechtbar geworden ist - wie im hier zu entscheidenden Fall - kommt allerdings noch die Vorschrift des § 73 Abs. 7 AsylVfG hinzu, welche eine feste Frist mit einem bestimmten Fristende für die Prüfung nach § 73 Abs. 2 a Satz 1 AsylVfG festlegt. Damit liegt eine "Höchstfrist" für die Zulässigkeit eines Widerrufs vor, an deren Fehlen der Hessische Verwaltungsgerichtshof seine Auffassung, die Prüfungsfrist des § 73 Abs. 2 a Satz 1 AsylVfG diene nicht den Interessen des betroffenen Ausländers, sondern nur dem öffentlichen Interesse, geknüpft hat.

Für die Beurteilung, ob die Frist des § 73 Abs. 7 AsylVfG eingehalten worden ist, ist nicht allein darauf abzustellen, ob bis zu dem in § 73 Abs. 7 AsylVfG bezeichneten Zeitpunkt das Widerrufsverfahren eingeleitet worden ist (so aber Bundesverwaltungsgericht hat in seiner bereits zitierten Entscheidung vom 12.6.2007 ausgeführt dass der zwingende Widerruf der Asyl- oder Flüchtlingsanerkennung nicht mehr - wie bisher - zeitlich unbegrenzt, sondern nur noch in einem Zeitraum von drei Jahren nach Unanfechtbarkeit der Anerkennung .ausgesprochen werden kann. Diese Bemerkung kann nur so verstanden, werden, dass das Bundesamt in der ihm gesetzten Frist bereits zu einer Entscheidung gelangt sein muss. Zudem konnte ansonsten nicht mehr von einer zeitlichen Begrenzung für die Prüfung des Widerrufs gesprochen werden ..."

Diesen Ausführungen schließt sich das erkennende Gericht für den vorliegenden Fall voll inhaltlich an.

Soweit das Verwaltungsgericht Frankfurt allerdings für die Beurteilung der Einhaltung der Frist des § 73 Abs. 7 AsylVfG, welche für die sogenannten Altfälle eine Konkretisierung der Frist des § 73 Abs. 2 a AsylVfG enthält einen Zeitraum von drei Jahren nach Unanfechtbarkeit der Anerkennung "zuzüglich eines angemessenen Prüfungszeitraumes" zubilligt, schließt sich das erkennende Gericht diesen Ausführungen nicht an. Es ist zwar richtig, dass die Beklagte den betreffenden Ausländer zur beabsichtigten Entscheidung über den Widerruf nach § 73 Abs. 4 S. 1 AsylVfG anzuhören hat, ihm auch Gelegenheit zur Äußerung zu geben hat, dennoch ist sie gehalten, nach der Formulierung des § 73 Abs. 7 AsylVfG in Fällen, bei denen die Entscheidung über den Asylantrag vor dem 1. Januar 2005 unanfechtbar geworden ist, eine Prüfung bis spätestens 31. Dezember 2008 vorzunehmen. Eine Prüfung vorzunehmen bedeutet, dass spätestens zum genannten Datum eine Entscheidung des Bundesamtes vorliegen muss. Dies kann jedoch bei den sogenannten Altfällen nicht eine Entscheidung über die Einleitung eines eventuellen Widerrufsverfahrens sein, sondern muss nach Ansicht des erkennenden Gerichts bereits in einen für den Betroffenen anfechtbaren Bescheid gemündet sein. Es ist zwar richtig, dass im Rahmen der Prüfung des Widerrufs vom Betroffenen neue Verfolgungsgründe geltend gemacht werden können bzw. sich gegebenenfalls neuer Aufklärungsbedarf ergibt, dies muss jedoch nach Ansicht des erkennenden Gerichts die Beklagte einkalkulieren. Die ratio legis des am 28.08.2007 in Kraft getretenen Abs. 7 der Vorschrift des § 73 AsylVfG kann nach Auffassung des Gerichts nur sein, dass die sogenannten Altfälle vor 2005 gerade innerhalb eines schnelleren Zeitraumes als in Abs. 2 a vorgesehen endgültig zum Abschluss gebracht werden sollen. Daher vermag das Gericht auch in dem Datum des 31.12.2008 keine bloße Ordnungsvorschrift zu erkennen, da diese Annahme die ratio legis konterkarieren würde. Das Gericht geht daher davon aus, dass diese Übergangsregelung des Abs. 7 bis zum 31.12.2008 Rechtssicherheit herstellen sollte.

Die späte Entscheidung der Beklagten führt daher dazu, dass ein Widerruf nach § 73 Abs. 2 a S. 1 AsylVfG nicht mehr zulässig ist, sondern nur noch nach § 73 Abs. 2 a S. 4 AsylVfG im Ermessenswege. Ermessenserwägungen hat die Beklagte in ihrem Bescheid vom 22.09.2009 aber nicht angestellt, sondern ihre Entscheidung allein darauf gestützt, dass die Voraussetzungen für einen Widerruf nach § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG vorliegen. Der angefochtene Bescheid ist deshalb wegen Ermessensnichtgebrauch rechtswidrig.[...]