LSG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 08.01.2010 - L 34 AS 2082/09, L 34 AS 2086/09 B PKH - asyl.net: M17111
https://www.asyl.net/rsdb/M17111
Leitsatz:

1. Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II ist für Unionsbürger gemeinschaftsrechtskonform, sofern er solche Leistungen nach dem SGB II betrifft, die nicht den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern, sondern den Lebensunterhalt sichern sollen. Sozialhilfeleistungen im Sinne des Art. 24 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie sind alle finanziellen Mittel, die der Existenzsicherung dienen.

2. Mit der Absicht eingereist, Sozialhilfeleistungen zu erlangen ist auch derjenige, der diesen Willen nicht als einzigen Einreisegrund hatte.

Schlagwörter: SGB II, Unionsbürger, Großbritannien, vorläufiger Rechtsschutz, Unionsbürgerrichtlinie, Europäisches Fürsorgeabkommen,
Normen: SGG § 86b Abs. 2 S. 2, SGB II § 7 Abs. 1 S. 1, SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, FreizügG/EU § 5, EG Art. 18 Abs. 1, RL 2004/38/EG Art. 24 Abs. 2, EG Art. 39 Abs. 2, EG Art. 12, EFA Art. 1
Auszüge:

[...] Das Sozialgericht hat den Antrag des Antragstellers, den Antragsgegner im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm Arbeitslosengeld II nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zu gewähren, zu Recht abgelehnt. [...]

Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Anspruchsgrundlage für die von ihm begehrten Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende ist § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Danach erhalten Leistungen nach diesem Buch zwischen 15 und 65 Jahre alte erwerbsfähige Personen, die hilfebedürftig sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben. Ausgenommen sind gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt. Dies ist bei dem Antragsteller, der britischer Staatsangehöriger ist, der Fall. Sein Aufenthaltsrecht ergibt sich allein aus dem - von ihm in einem Schreiben an den Antragsgegner vom 10. Mai 2007 eingeräumten - Zweck der Arbeitssuche gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1, 2. Alternative des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950, 1986) in der Fassung vom 19. August 2007 (BGBl. I S. 1970). Danach sind freizügigkeitsberechtigt Unionsbürger, die sich zur Arbeitssuche in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten wollen. Der 38jährige Antragsteller, von dessen Erwerbsfähigkeit mangels entgegenstehender Anhaltspunkte auszugehen ist, ist nach seinem Vortrag am 1. Dezember 2006 in die Bundesrepublik eingereist. Er verfügt über eine Bescheinigung gemäß § 5 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU), die zur Einreise und zum Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland berechtigt.

Ein Aufenthaltsrecht aus sonstigen Gründen kommt nicht in Betracht. Denn der Antragsteller war nach seinem Vortrag bisher in Deutschland weder beschäftigt noch ist er einer selbständigen Tätigkeit nachgegangen. Auch aus dem Gemeinschaftsrecht folgt kein über den Zweck der Arbeitssuche hinausgehendes Aufenthaltsrecht.

Artikel 6 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mietgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (ABl. L 158/77; sog. Unionsbürgerrichtlinie) sieht ein (bis auf Passförmlichkeiten) voraussetzungsloses Aufenthaltsrecht von Unionsbürgern nur für einen Zeitraum von drei Monaten vor; dieser Zeitraum ist hier abgelaufen. Artikel 7 der Unionsbürgerrichtlinie gewährt ein Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate nur, wenn der Unionsbürger Arbeitnehmer oder Selbständiger ist (Absatz 1 Buchstabe a), er für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen (Buchstabe b), oder eine näher bezeichnete Ausbildung absolviert wird (Buchstabe c). Keine der genannten Voraussetzungen liegt hier vor.

Auch aus Art. 18 Abs. 1 des EG-Vertrages folgt kein weitergehendes Aufenthaltsrecht. Hiernach hat jeder Unionsbürger grundsätzlich das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Diese Vorschrift stellt jedoch das Aufenthaltsrecht ausdrücklich unter den Vorbehalt der im EG-Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen. In der Rechtssache Trojani hat der Europäische Gerichtshof (Urteil des EuGH vom 7. September 2004, C-456/02, Juris, Tz. 33) ausdrücklich festgestellt, dass zu den Beschränkungen und Bedingungen des Rechts des Unionsbürgers aus Art. 18 EG auch der Art. 1 der (seinerzeit geltenden) Richtlinie 90/364/EWG gehöre. Danach können die Mitgliedstaaten von Angehörigen eines Mitgliedstaats, die das Recht zum Aufenthalt in ihrem Hoheitsgebiet wahrnehmen wollen, verlangen, dass sie für sich und ihre Familienangehörigen über eine Krankenversicherung, die im Aufnahmestaat alle Risiken abdeckt, sowie über ausreichende Existenzmittel verfügen, durch die sichergestellt ist, dass sie während ihres Aufenthaltes nicht die Sozialhilfe des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen. Mangels ausreichender Existenzmittel bestehe daher ein Recht eines Unionsbürgers, der sich in einer Situation wie der des dortigen Klägers befindet, aus Art. 18 EG auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, nicht (Urteil des EuGH vom 7. September 2004, a.a.O., Tz. 36). Nichts anderes gilt für Art. 7 Abs. 1 Buchstabe b der Unionsbürgerrichtlinie (mit der die zuvor genannte Richtlinie 90/364 insgesamt aufgehoben worden ist), der der Sache nach der Regelung in Art. 1 der Richtlinie 90/364 entspricht. Bei dieser Sachlage kann dahinstehen, ob die Unionsbürgerrichtlinie eine abschließende sekundärrechtliche Regelung über das Aufenthaltsrecht von Unionsbürgern darstellt und Art. 18 EG daneben von vornherein nicht mehr anwendbar ist.

Ob der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II mit Gemeinschaftsrecht vereinbarist, ist umstritten (vgl. die zahlreichen Nachweise bei Hailbronner, Ansprüche nicht erwerbstätiger Unionsbürger auf gleichen Zugang zu sozialen Leistungen, ZFSH/SGB 2009, 195, 200). Nach Auffassung des Senats ist der Ausschlusstatbestand jedoch gemeinschaftsrechts-konform, sofern er, wie hier, solche Leistungen nach dem SGB II betrifft, die nicht den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern, sondern den Lebensunterhalt sichern sollen. Denn Art. 24 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie erlaubt es einem Mitgliedstaat ausdrücklich, andere Personen als Arbeitnehmer oder Selbständige, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihre Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls während des längeren Zeitraums nach Art. 14 Absatz 4 Buchstabe b der Richtlinie – diese Regelung betrifft Unionsbürger, die in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats eingereist sind, um Arbeit zu suchen – von einem Anspruch auf „Sozialhilfe“ auszunehmen (siehe auch die 21. Begründungserwägung der Richtlinie). Sozialhilfeleistungen im Sinne der Vorschrift sind, wie sich auch aus dem Zusammenhang mit Art. 7 Abs. 1 Buchstabe b der Richtlinie ergibt, alle finanziellen Mittel, die der Existenzsicherung dienen. Nicht dazu zählen finanzielle Leistungen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen (Urteil des EuGH vom 4. Juni 2009, Rs. C-22/08 und C-23/08, www.curia.eu, Tz. 45).

Die hier streitige Regelleistung nach § 20 Abs. 1 SGB II ist - wie das Sozialgericht zutreffend festgestellt hat - keine Leistung, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern soll, sondern eine Sozialhilfeleistung im Sinne der Richtlinie (Beschluss des OVG Bremen vom 15. November 2007 – S 2 B 426/07 – , zitiert nach Juris; Hailbronner, a.a.O., S. 201). Sie dient der Sicherung des Lebensunterhalts Hilfebedürftiger, wie sich schon der Überschrift und dem Wortlaut der Vorschrift entnehmen lässt. Dies bestätigt auch die in § 1 Abs. 2 SGB II vorgenommene Unterscheidung der Leistungsarten nach Leistungen zur Beendigung oder Verringerung der Hilfebedürftigkeit insbesondere durch Eingliederung in Arbeit (Nummer 1) und solchen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Nummer 2). Nichts anderes ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte und dem Sinn und Zweck der Vorschrift, wonach für Erwerbsfähige zwar der Anspruch auf Arbeitslosenhilfe durch einen Anspruch auf Arbeitslosengeld II ersetzt, der Leistungsanspruch insofern allerdings mit dem steuerfinanzierten System der Sozialhilfe zusammengeführt wurde. Auch nach dem Ergebnis der Leistung (vgl. zu diesem Kriterium Urteil des EuGH vom 4. Juni 2009, a.a.O., Tz. 42) bezweckt diese nicht, den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern, sondern die Existenzsicherung. Denn die Regelleistung betrifft, wie sämtliche Leistungen des 1. Unterabschnittes des 2. Abschnittes des 3. Kapitels des SGB II, allein Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes, nämlich die in § 20 Abs. 1 SGB II aufgezählten Regelbeispiele – Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Haushaltsenergie, Bedarfe des täglichen Lebens, Beziehungen zur Umwelt und Teilnahme am kulturellen Leben – einschließlich der angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung (vgl. § 19 Satz 1 SGB II). Die Regelleistung enthält keine Leistungen zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt, die im Wesentlichen im 1. Abschnitt des 3. Kapitels des SGB II geregelt sind, und sie ist auch keine Entgeltersatzleistung. [...]

Entgegen der Ansicht des Antragstellers steht der Wirksamkeit des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II auch nicht das Europäische Fürsorgeabkommen vom 11. Dezember 1953 (-EFA- BGBl. 1956, Teil II, S. 564) entgegen. Das EFA ist durch Zustimmungsgesetz in innerstaatlich anwendbares, Rechte und Pflichten des Einzelnen begründendes Recht transformiert worden, weil der Zweck des Vertrages, den Angehörigen der Vertragsstaaten auf den Gebieten der sozialen und der Gesundheitsfürsorge Gleichbehandlung mit den Inländern einzuräumen, nur erreicht werden kann, wenn diese die Gleichbehandlung mit den Inländern nach Maßgabe der im Anhang I des Abkommens genannten nationalen Gesetze unmittelbar geltend machen können. In Art. 1 EFA hat sich jeder der Vertragsschließenden verpflichtet, den Staatsangehörigen der anderen Vertragsschließenden, die sich in irgendeinem Teil seines Gebietes, auf welches dieses Abkommen Anwendung findet, erlaubt aufhalten und nicht über ausreichende Mittel verfügen, in gleicher Weise wie seinen eigenen Staatsangehörigen und unter den gleichen Bedingungen die Leistungen der sozialen und Gesundheitsfürsorge zu gewähren, die in der in diesem Teil seines Gebietes geltenden Gesetzgebung vorgesehen sind.

Der Vertragstext des EFA mit seinen Anlagen enthält zwar keine dem § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II entsprechenden ausdrücklichen Einschränkungen oder Vorbehalte. Hieraus kann jedoch nicht der Schluss gezogen werden, dass den vertragsschließenden Staaten Ausschlussregelungen, die wie § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II die missbräuchliche Inanspruchnahme von Sozialleistungen verhindern sollen, untersagt wären. Hierfür wäre nur dann Raum, wenn eine entsprechende ausdrückliche Regelung im EFA selbst enthalten wäre (Beschluss des OVG Berlin vom 22. April 2003 – 6 S 9.03 -, zitiert nach Juris, m. w. Nachw.). Dies ist aber nicht der Fall. Der Wortlaut des EFA steht damit der Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht entgegen.

§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist auch mit Sinn und Zweck des EFA vereinbar. Das EFA will, Fälle der Durchreise und des nur vorübergehenden Aufenthalts vernachlässigt, vielmehr nur den Staatsangehörigen anderer Vertragsstaaten Inländergleichbehandlung garantieren, die sich zur Zeit des Eintritts der Hilfebedürftigkeit bereits in dem um Hilfe ersuchten Staat erlaubt aufhalten. Ziel des Abkommens ist es nicht, demjenigen, der bereits bedürftig ist, die Möglichkeit einzuräumen, sich unter den Vertragsstaaten das Land auszusuchen, in dem er öffentliche Hilfe in Anspruch nehmen möchte, also eine Wanderung aus einem Sozialsystem in ein anderes zuzulassen. Ziel des Abkommens war damit in erster Linie die Gleichbehandlung von Staatsangehörigen anderer Vertragsstaaten, die zum Zeitpunkt der Hilfebedürftigkeit schon ihren gewöhnlichen Aufenthalt hier hatten (OVG Berlin, a.a.O., m. w. Nachw.)

An diesen Maßstäben gemessen, gehört der Antragsteller nicht zum Personenkreis, der vom Schutzbereich des Abkommens erfasst wird. Denn er ist in der Absicht eingereist, hier Sozialleistungen zu erlangen. Der Senat sieht dieses Erfordernis auch dann als erfüllt an, wenn der Wille, Sozialhilfe zu erlangen, nicht der einzige Einreisegrund ist. Das Erfordernis ist vielmehr auch dann erfüllt, wenn bei unterschiedlichen Einreisemotiven der Zweck der Inanspruchnahme von Sozialhilfe für den Einreiseentschluss von prägender Bedeutung war. Die Möglichkeit, auf Sozialleistungen angewiesen zu sein, muss für den Einreiseentschluss des Ausländers, sei es allein, sei es neben anderen Gründen, in besonderer Weise bedeutsam und nicht nur anderen Einreisezwecken untergeordnet gewesen sein. [...]

Unabhängig von Vorstehendem hat der Antragsteller auch nicht – im maßgeblichen Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung – das Vorliegen eines Anordnungsgrundes glaubhaft gemacht. Die prozessuale Funktion des einstweiligen Rechtsschutzes besteht vor dem Hintergrund des Art. 19 Absatz 4 des Grundgesetzes darin, in dringenden Fällen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, in denen eine Entscheidung im – grundsätzlich vorrangigen – Verfahren der Hauptsache zu spät käme, weil ohne sie schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom 22. November 2002 – 1 BvR 1586/02 - und vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 – zitiert jeweils nach Juris). Der Antragsteller hat nicht glaubhaft gemacht, dass er, wie nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB II gefordert, alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung seiner Hilfebedürftigkeit ausgeschöpft hat und insbesondere in seinem Heimatstaat keinen Anspruch auf finanzielle Unterstützung hat. Er hat nicht hinreichend plausibel dargetan, aus welchen Gründen sonstige staatliche Hilfen zur Existenzsicherung in Großbritannien nicht bestehen oder jedenfalls für ihn nicht erreichbar sein sollen. Dafür, dass ihm auch eine vorläufige Rückkehr nach Großbritannien nicht zumutbar wäre, fehlt es an aussagekräftigen Anhaltspunkten. [...]