VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 22.04.2010 - 4 K 132.09 V [= ASYLMAGAZIN 2010, S. 267 ff.] - asyl.net: M17120
https://www.asyl.net/rsdb/M17120
Leitsatz:

Ein Besuchsvisum ist der peruanischen Mutter des in Deutschland lebenden 15jährigen Sohnes zu erteilen, da keine hinreichenden Zweifel an ihrer Rückkehrbereitschaft nach Ablauf des Visums bestehen. Art. 6 GG schützt nicht nur ein Mindestmaß an Umgang mit dem Kind, weshalb nicht generell auf Schriftwechsel oder Telefonverkehr sowie Besuche der Kinder im Heimatland zur Aufrechterhaltung familiärer Kontakte verwiesen werden kann.

Schlagwörter: Visumsverfahren, Schengen-Visum, Visum, Besuchsvisum, Verpflichtungsklage, Schengener Grenzkodex, Rückkehrbereitschaft, Eltern-Kind-Verhältnis, Schutz von Ehe und Familie, Ermessen, Ermessensreduzierung auf Null,
Normen: AufenthG § 6 Abs. 2, AufenthG § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, AufenthG § 2 Abs. 5, VO 562/2006/EG Art. 39 Abs. 1, GG Art. 6
Auszüge:

[...]

Die Beteiligten streiten um ein Visum zum Besuch des Kindes der Klägerin. [...]

A. Die Verpflichtungsklage ist zulässig.

Im Ausgang unbestritten ist, dass von der Erledigung eines Verpflichtungsbegehrens auszugehen ist, wenn der Zeitraum für die beantragte Genehmigung verstrichen ist, und dass das auch in Bezug auf die Erteilung eines Visums gelten kann (vgl. Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 18. Dezember 2009 - OVG 3 B 6.09 -, Abdruck Seite 9 m.w.N. [Revision eingelegt - BVerwG 1 C 1.10 -]). Wer Weihnachten 2009 in Deutschland verbringen, an einer Hochzeit am 9. September 2009 teilnehmen oder das DFB-Pokalendspiel 2009 sehen will, kann dies - unabhängig von § 83 Abs. 1 Satz 1 AufenthG - im Jahr 2010 nicht mehr erstreiten. Die von der Beklagten durch ihren Vordruck abgefragte Angabe eines Besuchszeitraums ist aber dann nicht die abschließende Beschreibung des (zeitgebundenen) Antragsgegenstands, wenn für sie erkennbar ist, dass der Besuchszweck für den Antragsteller quasi zeitlos ist, er also auch nach Vorstellung des Antragstellers in einem späteren Zeitraum erreicht werden kann (vgl. Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 9. Oktober 2008 - OVG 12 B 44.07 -, Abdruck Seite 8 für ein Geschäftsvisum; Beschluss vom 1. April 2009 - OVG 12 M 113.08 -, Abdruck Seite 2 für ein Visum für den Besuch von Frau und Tochter). Die Angabe eines Besuchszeitraums ist auch dann nicht wertlos. Vielmehr ermöglicht sie etwa der Behörde, bei einer Vielzahl von Anträgen eine Bearbeitungsreihenfolge festzulegen und solche Anträge früher zu bearbeiten, deren Besuchszeitraum näher liegt. Der Antragsteller gibt damit zu erkennen, wann er spätestens eine Entscheidung benötigt. Eben weil mit der abgefragten Angabe nicht der Antragsgegenstand (Visum zum Besuch) bezeichnet wird, kann man dem Antragsteller, der nach Ablehnung an seinem Besuchswunsch festhält und ihn im Klagewege verfolgt, nicht vorhalten, es fehle an dem erforderlichen behördlichen Antrag (so aber Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 18. Dezember 2009 - OVG 3 B 6.09 -, Abdruck Seite 10). Dass das Gesetz in § 6 Abs. 2 AufenthG für kurzfristige Visa eine Gültigkeitsgrenze von fünf Jahren vorsieht, sagt nichts darüber, auf welchen Zeitraum sich ein Besuchswunsch beziehen darf und ob man einen Antrag für ein Besuchsvisum auch losgelöst von einer Zeitangabe stellen darf. Dass man daran auch nach der Auffassung des 3. Senats des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg, aaO, Seite 11, von Gesetzes wegen nicht gehindert ist, lässt es noch fraglicher erscheinen, warum bei erkennbar generellem Besuchswunsch der von der Beklagten abgefragten Zeitangabe eine abschließende Bedeutung zukommen soll. Unschädlich ist auch, dass Verpflichtungserklärungen nicht ohne jegliche Begrenzung werthaltig sind und sich die Erklärenden nicht unbegrenzt binden wollen. Denn im Streitfall wird man im Zeitpunkt der letzten Verhandlung der Tatsacheninstanz (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 1. Dezember 2009 - BVerwG 1 C 32.08 - mit Bezug auf Urteil vom 7. April 2009 - BVerwG 1 C 17.08 -, BVerwGE 133, 329 = NVwZ 2010, 262 [266 Rn. 37]) Gültigkeit und Werthaltigkeit einer etwa notwendigen Verpflichtungserklärung zu prüfen haben. Das gilt auch für die übrigen Voraussetzungen der Erteilung des Visums und stellt keine Besonderheit des Besuchsvisums dar (anders aber Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, aaO, Abdruck Seite 10). Für die Beklagte war hier auch durch das Gespräch mit der Klägerin anlässlich ihres Antrags erkennbar, dass ihr Besuchswunsch nicht auf den abgefragten Zeitraum beschränkt war. Der Wunsch, sein Kind zu sehen, ist regelmäßig von Dauer (auch wenn man es nicht ständig sehen will). Für eine ausnahmsweise Beschränkung (etwa wegen beruflicher Verhinderung zu anderer Zeit oder einzigartiger Mitreisemöglichkeit) sprach hier nichts. Gerade die Einladungen zeigten, dass der Besuch der Klägerin den zuvor alljährlichen Urlaub von Kind und Vater in Peru ersetzen sollte. [...]

Art. 5 Abs. 1 Buchstabe e) verlangt, dass der Ausländer keine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit, die öffentliche Gesundheit oder die internationalen Beziehungen eines Mitgliedsstaats darstellen darf und er nicht aus denselben Gründen zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben sein darf. Hier ist allenfalls über eine Gefahr für die öffentliche Ordnung zu sprechen und dies nur in der Form, ob es der Klägerin an der Rückkehrbereitschaft fehlt und sie beabsichtigt, das Visum zu einem anderen Zweck als dem angegebenen Aufenthaltszweck zu nutzen (was allerdings auch ein Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 Buchstabe c sein dürfte). Solches steht nicht fest. Rückkehrbereitschaft und die Absicht zur zweckwidrigen Nutzung des Visums sind innere Tatsachen, die einer unmittelbaren Anschauung nicht zugänglich sind. Auf sie kann nur von Indiztatsachen aus rückgeschlossen werden. Tatsachen, die diesen Rückschluss erzwingen oder auch nur in einer Weise nahelegen, dass jede andere Wertung lebensfremd, unwahrscheinlich oder abwegig erscheinen muss, gibt es hier nicht.

Mit dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg (Urteil vom 18. Dezember 2009, aaO, Seite 13; Beschluss vom 12. April 2010 – OVG 11 N 70.08 -, Abdruck Seite 3) mag man diese Erteilungsvoraussetzung auch dann noch nicht erfüllt ansehen, wenn die Wahrscheinlichkeit eines beabsichtigten dauerhaften Verbleibs des Ausländers im Bundesgebiet wesentlich höher einzuschätzen ist, als die Wahrscheinlichkeit seiner Rückkehr. Zu einer solchen (negativen) Einschätzung sieht sich das Gericht nicht in der Lage. Es mag für Rückkehr und Verbleib jeweils Gründe geben, die sowohl das Eine als auch das Andere als möglich oder gar wahrscheinlich wirken lassen. Dass aber der langjährige Freund, der 15-jährige Sohn und die hiesigen Lebensumstände für die Klägerin eine solche Bedeutung haben, dass für sie der Verbleib hier wesentlich attraktiver wäre als ihre Rückkehr in ihr Heimatland mit den dem Gericht im Einzelnen nicht bekannten Gegebenheiten, kann das Gericht nicht erkennen.

Nicht zu vertiefen ist, ob das Ermessen nach § 6 Abs. 1 Satz 1 AufenthG schon dann eröffnet ist, wenn nur die Erteilungsvoraussetzungen des Schengener Durchführungsabkommens und der dazu ergangenen Ausführungsvorschriften erfüllt sind oder ob darüber hinaus noch die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthG erfüllt sein müssen. Denn auch für diesen wohl zu bejahenden Fall ergibt sich hier keine weitere Hürde vor dem Ermessen, worüber in der mündlichen Verhandlung Einigkeit bestanden hat.

2. Die Versagung des Visums ist ermessensfehlerhaft (§ 114 Satz 1 VwGO). Die Beklagte hat die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten. Zwar bedeutet Ermessen, dass es der Behörde überlassen ist, sich nach einer Abwägung der in die Ermessensentscheidung einzustellenden Umstände für eine Rechtsfolge zu entscheiden, was voraussetzt, dass die Behörde eine gewisse Freiheit in der Gewichtung der abzuwägenden Umstände hat. Die Grenzen des Ermessens sind aber überschritten, wenn die Behörde den Sachverhalt unvollständig ausschöpft und ihre Wertung mit höherrangigem Recht kollidiert. So liegt es hier. Es ist im Ansatz anerkannt, dass Rückkehrzweifel, also Zweifel daran, dass der Ausländer nach Ablauf der Gültigkeit des Besuchsvisums ausreisen wird, in die Abwägung einzustellen sind (vgl. Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 18. Dezember 2009, aaO, Seite 13). Indes muss man solche Zweifel fast stets haben. Mangels der nötigen gründlichen Kenntnisse der Menschen wird man nur selten sicher sein können, dass jemand hier bleibt oder wieder ausreist. Nur vordergründig plausibel wird zur Gewichtung der Zweifel auf die (von der Beklagten in der Klageerwiderung in Anführungszeichen gesetzte) Verwurzelung des Menschen in seinem Heimatland abgestellt. Sperrt man Menschen nicht ein, können sie sich frei bewegen. Ob sie etwas an ein Land bindet, sie daran festhält, wie es Wurzeln tun, bestimmen die Menschen selbst, wie etwa die DDR immer wieder erleben musste. Daran geht die Beklagte vorbei, indem sie die Verwurzelung eines Menschen ausschließlich wirtschaftlich und kleinfamiliär definiert und der Klägerin sogar eine – nicht beschriebene – soziale Verwurzelung in hinreichendem Maße abspricht. Auch die deutsche Nachkriegserfahrung (z.B. Helgoland) zeigt, dass Menschen sich Gebieten allein deshalb verbunden fühlen können und dorthin zurückstreben, weil sie einst dort lebten. Grundbesitz ist kein Grund, auf diesem Besitz auch zu leben. Seit geraumer Zeit hatten und haben Ausländer in Berlin Grundbesitz, ohne hier zu leben. Gerade genügender Besitz gar in Form von Kontoguthaben kann Grund dafür sein, anderen Orts zu leben. Wer an einem Ort im Beruf erfolgreich ist, kann sich oft ausrechnen, es auch im Ausland zu sein. Die Kleinfamilie kann dem einen Grund zur Auswanderung sein, sei es aus Überdruss, sei es aus Verantwortungsbewusstsein (weil er sich um ihre Versorgung bemühen will) heraus. Einen anderen hält sie im Land. Nichts deutet darauf, dass die hier gegebenen zweideutigen Umstände (kein fester Beruf, Großfamilie im Land, geringes Grundeigentum) Zeichen für mangelnde Bindung der Klägerin an ihr Heimatland sind und es für sie (anders als bei Menschen üblich) keine anderweitigen Bindungen an das Land gibt, dessen Sprache sie spricht, in dem sie geboren und aufgewachsen ist, so dass ihr das Leben in der Fremde verlockender scheinen muss.

Damit sollen die stets denkbaren Zweifel an der Rückkehrbereitschaft eines Menschen nicht geleugnet werden. Ermessensfehlerhaft ist es jedoch, dass die Beklagte die damit gekennzeichneten öffentlichen Interessen höher gewichtet als das durch Art. 6 Abs. 1 und 2 GG geschützte Elternrecht der Klägerin. Das gewährt ihr kein Aufenthaltsrecht, erheischt doch aber in einer Abwägung angemessene Berücksichtigung (vgl. etwa Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 9. Januar 2009 – 2 BvR 1064/08 -, NVwZ 2009, 387). Eben daran fehlt es. Das Gericht folgt der Klägerin, hält die Erwägungen der Beklagten für verfehlt. Die rege Reisetätigkeit der Menschen zeigt, dass es nach allgemeiner Auffassung einen eigenen Wert hat, sich von Menschen und Orten durch Augenschein ein eigenes Bild zu machen. Die Vorstellung der Beklagten vom Umgang mit Menschen verkürzt diese auf sie selbst, übergeht, dass der Mensch durch seine Bezüge zur Umwelt geprägt sein und oft nur in Kenntnis dieser verstanden werden kann. Bezogen auf ein Kind bedeutet das erfahrungsgemäß, dass man nur wenig von seinem Kind erfasst, wenn man es nicht auch in seiner Umwelt sieht. Mit dieser wohl selbstverständlichen Erfahrung unvereinbar ist die Auffassung der Beklagten, es spiele bei einem 15-jährigen keine Rolle, ob man ihn sechs Wochen außerhalb seiner nun üblichen Umgebung oder drei Monate in ihr erlebt. Nun mag das noch anders zu sehen sein, wenn zwischen Kind und Elternteil ohnehin nur geringe Kontakte bestanden haben und nicht zu erwarten ist, dass die Besuche zu einer wesentlichen Intensivierung führen sollen. Hier aber lebte das Kind die ersten 13 Jahre seines Lebens mit der Klägerin und erst seit weniger als drei Jahren mit seinem Vater.

Diese Überlegungen zur Bedeutung des Art. 6 Abs. 1 und 2 GG, der es Eltern weitgehend freistellt, wie sie ihr Kind pflegen und erziehen, und damit nicht nur ein Mindestmaß an Umgang schützt, sondern auch weitergehende Beziehungen, im konkreten Fall werden durch das wiederholt angesprochene Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 18. Dezember 2009 nicht falsifiziert. Zwar meinte das Gericht (Abdruck Seite 15 f.), die Beklagte habe die Klägerin (Mutter 1998 und 2001 geborener Kinder) darauf verweisen dürfen, familiäre Kontakte durch Schriftwechsel oder Telefonverkehr sowie durch Besuche der Kinder im Heimatland aufrechtzuerhalten. Doch zeigt der Verweis auf den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Oktober 1996 – BVerwG 1 B 113.96 -, NVwZ-RR 1997, 319 [320], dass das nur dann ausreicht, wenn eine hinreichende Besorgnis besteht, der Ausländer wolle ein Besuchsvisum nutzen, um einen längeren Aufenthalt zu erwirken. In dem vom Oberverwaltungsgericht entschiedenen Fall war diese Besorgnis gegeben, weil die Rückkehrprognose nur zu ihren Ungunsten ausfallen konnte (Abdruck Seite 13). Das ist hier nicht der Fall.

In der mündlichen Verhandlung ist erörtert worden, ob hier eine Reduzierung des Ermessens in der Weise gegeben ist, dass nur die Erteilung des Visums fehlerfrei ist (Ermessensreduzierung auf Null). Das Gericht bejaht dies. Dem Gericht erscheint es gleichermaßen wahrscheinlich, dass die Klägerin bei ihrem Kind und ihrem langjährigen Freund bleibt, der nun bei gesichertem Aufenthalt geschieden und ihr fortwährend verbunden ist, wie dass sie in das Land zurückkehrt, in dem sie wohl ihr Leben lang gelebt hat und in dem ihre Großfamilie lebt, was nach Darstellung ihrer Bevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung von einiger Bedeutung ist. Dieser Gewichtung hat die Beklagte, die zu einer Ergänzung ihrer Ermessenserwägungen in der Lage gewesen wäre (§ 114 Satz 2 VwGO), nicht widersprochen. Sie hat auch sonst keinen Umstand aufgezeigt, der bislang keine Rolle gespielt hat und dem sie nun Bedeutung beimessen wollte. Bei dieser Sachlage drängt nach Auffassung des Gerichts die Wertung des Art. 6 Abs. 1 und 2 GG die durchaus bestehenden gegenläufigen Interessen in einer Weise zurück, dass diese nicht mehr zur Versagung führen können. Der Einwand der Beklagten in der mündlichen Verhandlung, dass dies dann bei Fällen mit Familienbezug stets zur Visumserteilung führen würde, trifft nicht zu. Die Besonderheit hier ist, dass Mutter und Sohn mehr als 13/16 des Lebens des Sohnes miteinander verbrachten, dass sie noch eine lebendige Beziehung haben und dass der Junge noch minderjährig ist. [...]