LSG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 12.05.2010 - L 15 AY 2 /10 B ER - asyl.net: M17132
https://www.asyl.net/rsdb/M17132
Leitsatz:

Zur örtlichen Zuständigkeit für Leistungen nach dem AsylbLG bei Verlassenserlaubnissen und räumlicher Beschränkung: Besteht bei einem rechtmäßigen Wechsel des Aufenthaltsortes noch eine zeitlich befristete finanzielle Verantwortung des bisherigen Leistungsträgers, so ist der Erstattungsregelung des § 10b AsylbLG im Umkehrschluss zu entnehmen, dass es bei einem Wechsel des Aufenthaltsorts unter Verstoß gegen eine asyl- oder ausländerrechtliche räumliche Beschränkung gerade bei der bisherigen Zuständigkeit bleiben soll. Die Frage der Abgrenzung der Zuständigkeiten nach § 10a Abs. 1 S. 1 und Satz 2 AsylbLG ist streitig und noch nicht höchstricherlich geklärt.

Schlagwörter: Asylbewerberleistungsgesetz, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, örtliche Zuständigkeit, Duldung, räumliche Beschränkung, Sachleistungen, Schutz von Ehe und Familie, vorläufiger Rechtsschutz
Normen: AsylbLG § 20, AsylbLG § 10a, AsylbLG § 10b, AsylVfG § 56 Abs. 3 S. 1, AsylVfG § 67 Abs. 1 Nr. 6, GG Art. 31, AsylbLG § 3 Abs. 1, AsylbLG § 3 Abs. 2, GG Art. 6 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Gemäß § 10a Abs. 1 Satz 1 AsylbLG ist für Leistungen nach dem AsylbLG die nach § 10 AsylbLG bestimmte Behörde zuständig, in deren Bereich der Leistungsberechtigte auf Grund der Entscheidung der vom Bundesministerium des Innern bestimmten zentralen Verteilungsstelle verteilt oder von der im Land zuständigen Behörde zugewiesen worden ist. Im übrigen ist die Behörde zuständig, in deren Bereich sich der Leistungsberechtigte tatsächlich aufhält (Satz 2). Diese Zuständigkeit bleibt bis zur Beendigung der Leistung auch dann bestehen, wenn die Leistung von der Behörde außerhalb ihres Bereichs sichergestellt wird (Satz 3).

Die örtliche Zuständigkeit des Beigeladenen ergibt sich aus § 10a Abs. 1 Satz 1 AsylbLG. Wie im vorliegenden Verfahren bereits ausführlich erörtert worden ist, besteht über die Abgrenzung der Zuständigkeiten nach § 10a Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 AsylbLG ein juristischer Meinungsstreit, der noch nicht höchstrichterlich geklärt ist. Der Senat teilt jedoch die vom Sozialgericht hierzu vertretene Auffassung.

Der Wortlaut des § 10a Abs. 1 Sätze 1 und 2 AsylbLG ist nicht eindeutig. Er lässt eine Auslegung sowohl im Sinne der Auffassung des Beigeladenen als auch im Sinne der hier vertretenen Auffassung zu, wenn auch die Tatsache, dass die Vorschriften gerade nicht ausdrücklich auf die in § 1 AsylbLG aufgezählten Gruppen von Leistungsberechtigten abstellen, bereits ein Indiz gegen die Auffassung des Beigeladenen darstellen könnte.

Unabhängig davon sprechen jedoch die Gesetzgebungsgeschichte und die gesetzessystematische Stellung der Vorschrift für die hier vertretene Auffassung.

§ 10a AsylbLG wurde mit Wirkung zum 1. Juni 1997 durch das Erste Gesetz zur Änderung des AsylbLG eingefügt. Der Gesetzgeber (BT-Drucksache 13/2746, 18) hatte Grund für eine gesetzliche Regelung gesehen, nachdem "sich in der Praxis erwiesen" hatte, "dass sich in den Fällen, in denen sich der Leistungsberechtigte im Zuständigkeitsbereich einer anderen Behörde aufhält und diese mit Leistungen eintreten muss, Unklarheit darüber besteht, wer die Kosten zu tragen hat. Für diese Fälle hatte das Asylbewerberleistungsgesetz weder die Zuständigkeit noch die Erstattung ausdrücklich geregelt, dies vielmehr Landesrecht überlassen." Es habe sich jedoch gezeigt, dass länderübergreifende Regelungen erforderlich seien. Durch Satz 1 seien "aus dem Kreis der Leistungsberechtigten die Asylsuchenden" erfasst; "für die übrigen Leistungsberechtigten ist maßgebend, wo sie sich tatsächlich aufhalten", wobei mit tatsächlichem Aufenthalt die körperliche Anwesenheit zu verstehen sei. Schließlich bleibe die "Zuständigkeit auch immer dann erhalten, wenn die zu erbringende Leistung von der zuständigen Behörde außerhalb ihres Bereichs sichergestellt wird."

Der Begriff der "Asylsuchenden" wird sonst im AsylbLG nicht, im besonderen nicht in § 1, verwendet. Im Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) erscheint er nicht im Sinne einer Begriffsbestimmung; jedoch ergibt sich aus dem gesetzlichen Zusammenhang (s. etwa § 55 Abs. 1 AsylVfG), dass es sich um die Personen handelt, die einen die Anwendung des AsylVfG begründenden Antrag nach § 1 AsylVfG gestellt haben. Dies verdeutlicht, dass auch dem Gesetzgeber des § 10a AsylbLG nicht die Absicht unterstellt werden kann, die Zuständigkeit nach § 10a Abs. 1 Satz 1 AsylbLG an die Zugehörigkeit zu einer der in § 1 – letztlich Abs. 1 Nr. 1 – AsylbLG genannten Gruppen von Leistungsberechtigten anbinden zu wollen. Sie knüpft vielmehr daran an, dass der Ausländer einmal um Asyl nachgesucht und damit die Anwendbarkeit des AsylVfG begründet hat, sowie dass als Folge davon die Rechtsfolgen der Verteilung bzw. Zuweisung (§§ 45, 46, 50 AsylVfG) – und wiederum als Folge davon der konkreten räumlichen Beschränkung des Aufenthaltsrechts (§ 56 Abs. 1 AsylVfG) – eingetreten sind.

Dass es für das Fortbestehen der Zuständigkeit nach § 10a Abs. 1 Satz 1 AsylbLG lediglich darauf ankommen sollte, ob die einmal eingetretenen Rechtsfolgen der Zuweisung bzw. Verteilung nach dem AsylVfG noch fortwirken, lässt sich aus § 10b Abs. 3 Satz 1 AsylbLG ableiten. Danach ist die für den bisherigen Aufenthaltsort zuständige Behörde der nunmehr zuständigen Behörde unter der Voraussetzung zur (zeitlich begrenzten, § 10b Abs. 3 Satz 2 AsylbLG) Erstattung der erforderlichen Leistungen außerhalb von Einrichtungen verpflichtet, wenn ein Leistungsberechtigter ohne Verstoß gegen eine asyl- oder ausländerrechtliche räumliche Beschränkung vom Ort seines bisherigen gewöhnlichen Aufenthalts verzieht und innerhalb eines Monats nach dem Wechsel des Aufenthaltsorts wieder ein Leistungsbedarf entsteht. Besteht somit bei einem rechtmäßigen Wechsel des Aufenthaltsortes noch eine zeitlich befristete finanzielle Verantwortung des bisherigen Leistungsträgers, so ist der Erstattungsregelung im Umkehrschluss zu entnehmen, dass es bei einem Wechsel des Aufenthaltsorts unter Verstoß gegen eine asyl- oder ausländerrechtliche räumliche Beschränkung gerade bei der bisherigen Zuständigkeit bleiben soll. Dieses Ergebnis überzeugt auch deshalb, weil es die leistungsrechtliche und die aufgrund des AsylVfG fortbestehende ausländerrechtliche Zuständigkeit in Übereinstimmung lässt, im besonderen verhindert, dass die Zuständigkeit eines Leistungsträgers allein dadurch entsteht, dass die zuständige Ausländerbehörde eine weiterwirkende asylverfahrensrechtliche räumliche Beschränkung der Aufenthaltsbestimmung nicht durchsetzt (s. in diesem Zusammenhang BVerwG, Urteil vom 31. März 1992 – 9 C 155/90) oder es dem Ausländer durch Erlaubnisse zum Verlassen des zugewiesenen Aufenthaltsbereichs ermöglicht, faktisch einen mehr als vorübergehenden Aufenthalt außerhalb des Gebiets der räumlichen Beschränkung der Aufenthaltsbestimmung zu begründen.

Dem lässt sich nicht entgegenhalten, dass sich die Entscheidung über die Verteilung oder Zuweisung jedenfalls durch den bestandskräftigen Abschluss des Asylverfahrens erledigt habe. Dies bereits deshalb nicht, weil § 56 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG, wie im Verfahren ebenfalls bereits erörtert, ausdrücklich die Regelung trifft, dass räumliche Beschränkungen auch nach dem Erlöschen der Aufenthaltsgestattung (im Fall der hier vorliegenden, bestandskräftigen Ablehnung des Asylantrags: § 67 Abs. 1 Nr. 6 AsylVfG) wirksam bleiben, bis sie aufgehoben werden. Gegenüber entgegenstehendem Landesrecht ergäbe sich der Vorrang dieser Regelung bereits aus Art. 31 Grundgesetz (GG), gegenüber etwaig anwendbaren bundesrechtlichen Verfahrensregelungen (im besonderen dem Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes) dadurch, dass sie eine spezialgesetzliche Abweichung festlegt.

Jedenfalls im Ergebnis folgt der Senat der Auffassung des Sozialgerichts, dass auch die weiteren Voraussetzungen für eine Verpflichtung des Beigeladenen im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes vorliegen. Eine einstweilige Leistungspflicht ergibt sich, auch angesichts des seit Eingang des Antrags auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes verstrichenen Zeitraums, aus einer Güterabwägung zur Gewährleistung des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz um zu vermeiden, dass sich ein "negativer Kompetenzkonflikt" zwischen dem für Leistungen nach dem AsylbLG zuständigen Leistungsträger und dem für Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) zuständigen (JobCenter Tempelhof-Schöneberg), der den Antragsteller als der Bedarfsgemeinschaft zugehörig ansieht, welche auf Frau O A als erwerbsfähige Hilfebedürftige gemäß § 7 Abs. 1 SGB II zurückgeht, zu Lasten der nicht am hiesigen Verfahren beteiligten Frau O A auswirkt und dass der Antragsteller über keinerlei Leistungen verfügt, die seinen laufenden Lebensbedarf sichern.

Für die Zukunft könnte sich jedoch ergeben, dass – bei unverändertem Aufenthaltsstatus und nicht mehr streitiger Zuständigkeit – die Voraussetzungen für eine nochmalige einstweilige Verpflichtung des Beigeladenen nicht erfüllt sind: Ob der Antragsteller an Stelle der Sachleistungen gemäß § 3 Abs. 1 AsylbLG Leistungen in Gestalt von Wertgutscheinen, anderen vergleichbaren unbaren Abrechnungen oder Geldleistungen von gleichem Wert sowie die notwendigen Kosten für Unterkunft, Heizung und Hausrat gemäß § 3 Abs. 2 AsylbLG erhält, steht im Ermessen des Leistungsträgers. Selbst wenn berücksichtigt wird, dass der grundgesetzliche Schutz der Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) auf die Ausübung des Ermessens einwirken könnte, folgt daraus noch nicht ohne Weiteres, dass dieses Ermessen dauerhaft "auf Null" reduziert und damit zu einem Anspruch verdichtet ist. Der Beigeladene hat sich, wie aus seiner Beschwerdeschrift deutlich wird, unter der Voraussetzung seiner Zuständigkeit auch grundsätzlich leistungsbereit gezeigt, was das Bedürfnis für eine gerichtliche Eilentscheidung in Frage stellen könnte. Der Antragsteller muss sich im übrigen darüber im klaren sein, dass er keinen ausländerrechtlichen Aufenthaltstitel besitzt und sein Aufenthaltsrecht gemäß § 56 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG weiterhin räumlich beschränkt ist. Seine Berechtigung, den Bereich seines Aufenthaltsrechts zu verlassen, ist nur vorübergehender Art, auch wenn sie augenscheinlich von der für ihn zuständigen Ausländerbehörde großzügig erteilt wird. [...]