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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 29.04.2010 - 5 C 5.09 - asyl.net: M17135
https://www.asyl.net/rsdb/M17135
Leitsatz:

1. Das von Verfassungs wegen für einen Verlust nach § 25 Abs. 1 Satz 1 StAG vorausgesetzte "Kennenmüssen" der deutschen Staatsangehörigkeit bezeichnet einen normativen Zurechnungszusammenhang (im Anschluss an Urteil vom 10. April 2008 - BVerwG 5 C 28.07 - BVerwGE 131, 121).

2. Ein solches "Kennenmüssen" liegt nur vor, wenn der Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit bei einer (be-)wertenden Gesamtbetrachtung des konkreten Lebenssachverhalts im Zeitpunkt des Antragserwerbs der ausländischen Staatsangehörigkeit aufgrund tatsächlicher und rechtlicher Anhaltspunkte von hinreichendem Gewicht und hinreichender Dichte offensichtlich sowie ihre Anerkennung ohne Weiteres zu erwarten ist.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Antragserwerb, Erwerb einer ausländischen Staatsangehörigkeit, Feststellung der deutschen Staatsangehörigkeit, Staatsangehörigkeit, Staatsangehörigkeitsverlust, Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit, Kenntnis, Kennenmüssen, Zurechnung, Zurechnungszusammenhang, normative Zurechnung,
Normen: GG Art. 16 Abs. 1, StAG § 25
Auszüge:

[...]

Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Das angefochtene Urteil ist zwar mit Bundesrecht insoweit nicht vereinbar (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), als das Berufungsgericht für das tatbestandliche Erfordernis des § 25 Abs. 1 Satz 1 StAG, dass den Klägern der Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit "hätte bekannt sein müssen", nicht auf eine normative Zurechenbarkeit abstellt, sondern dieses als Synonym für "grob fahrlässige Unkenntnis" versteht (1.). Die Entscheidung des Berufungsgerichts erweist sich jedoch im Ergebnis als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO), weil den Klägern auf der Grundlage der zum Maßstab der "groben Fahrlässigkeit" getroffenen Feststellungen im Zeitpunkt des Erwerbs der Staatsangehörigkeit der Republik Belarus die Unkenntnis nicht zuzurechnen war (2.).

1. Das Berufungsgericht hat im rechtlichen Ansatz zutreffend darauf abgestellt, § 25 Abs. 1 Satz 1 StAG sei verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass ein Deutscher danach seine Staatsangehörigkeit mit dem Erwerb einer ausländischen Staatsangehörigkeit auf seinen Antrag oder den Antrag des gesetzlichen Vertreters nur verliert, wenn ihm im Zeitpunkt des Antragserwerbs der ausländischen Staatsangehörigkeit der Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit bekannt war oder hätte bekannt sein müssen. Dies entspricht der Rechtsprechung des Senats (Urteil vom 10. April 2008 - BVerwG 5 C 28.07 - BVerwGE 131, 121 ff.), an der er festhält.

Für die Beurteilung, ob den Klägern ihre deutsche Staatsangehörigkeit hätte bekannt sein müssen - eine positive Kenntnis hat das Berufungsgericht nach Maßgabe des § 137 Abs. 2 VwGO bindend verneint -, ist das Berufungsgericht in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Senats auch davon ausgegangen, dass an dieses "Kennenmüssen" hohe Anforderungen zu stellen sind. Mit Bundesrecht nicht im Einklang steht allerdings der hieraus gezogene Schluss, dass dieses "Kennenmüssen" gleichbedeutend mit "grob fahrlässiger Unkenntnis" sei. Das vom Senat in seinem Urteil vom 10. April 2008 (a.a.O.) aus den grundrechtlichen Anforderungen des Art. 16 Abs. 1 GG an die gesetzliche Ausgestaltung von Verlustgründen hergeleitete, allerdings nicht näher erläuterte Erfordernis des "Kennenmüssens" bezeichnet vielmehr einen normativen Zurechnungszusammenhang, der der positiven Kenntnis nach Art und Gewicht objektiv gleichkommt. Es handelt sich nicht um ein (ungeschriebenes) subjektives, auf die Schuldformen Vorsatz und Fahrlässigkeit bezogenes Tatbestandsmerkmal, weshalb sich auch die Frage einer etwaigen Nachforschungsobliegenheit nicht stellt. Es geht vielmehr darum, unter welchen Voraussetzungen die Rechtsfolge des Verlustes der deutschen Staatsangehörigkeit in Anwendung des § 25 Abs. 1 Satz 1 StAG eintritt und verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist, wenn der - wie hier im Ausland geborene und lebende - Betroffene seine deutsche Staatsangehörigkeit nicht kennt. Das "Kennenmüssen" bildet im vorliegenden staatsangehörigkeitsrechtlichen Zusammenhang eine eng zu verstehende Ausnahme vom Gebot der (positiven) Kenntnis. Erfasst werden die Fälle, in denen zwischen dem Erwerb einer ausländischen Staatsangehörigkeit auf Antrag und dem insoweit nach § 25 Abs. 1 Satz 1 StAG gesetzlich angeordneten Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit eine Verbindung besteht, aufgrund derer es unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Anforderungen des Art. 16 Abs. 1 GG zulässig ist, einem Deutschen den Verlust seiner Staatsangehörigkeit ungeachtet seiner Unkenntnis zuzurechnen. Eine derartige Zurechnung ist verfassungsrechtlich nur unbedenklich, wenn der deutsche Staatsangehörige den Eintritt der gesetzlichen Rechtsfolge auf zumutbare Weise beeinflussen kann (s.a. BVerfGE 116, 24 44>). Hierfür muss er auf der Grundlage eines freien Willensentschlusses selbstverantwortlich auch darüber bestimmen können, dass mit der Entscheidung für den antragsabhängigen Erwerb einer ausländischen Staatsangehörigkeit die daran geknüpfte gesetzliche Rechtsfolge des Verlustes der deutschen Staatsangehörigkeit eintritt. Nur dann bringt der Antrag auf Erwerb einer ausländischen Staatsangehörigkeit objektiv die - die gesetzliche Verlustfolge legitimierende - selbstverantwortliche Entscheidung für die Hinwendung zu einer fremden Staatsangehörigkeit zum Ausdruck (Urteil vom 10. April 2008 a.a.O. S. 126). Mit Rücksicht darauf ist die Kenntnis von der deutschen Staatsangehörigkeit grundsätzlich Voraussetzung dafür, dass ein den Erwerb einer ausländischen Staatsangehörigkeit beantragender deutscher Staatsangehöriger auf den Verlust seiner Staatsangehörigkeit Einfluss nehmen kann. Das Wissen um die deutsche Staatsangehörigkeit setzt ihn in die Lage, von der ihm in § 25 Abs. 2 Satz 1 StAG eingeräumten Möglichkeit Gebrauch zu machen, die Erteilung einer Beibehaltungsgenehmigung zu beantragen und bis zu deren Erhalt auf den Erwerb der ausländischen Staatsangehörigkeit zu verzichten oder im Falle der Ablehnung der Beibehaltungsgenehmigung seinen Schritt noch einmal zu überdenken.

Dieser im Regelfall erforderlichen (positiven) Kenntnis von der deutschen Staatsangehörigkeit steht ausnahmsweise gleich, wenn ihr Besitz bei einer (be-)wertenden Gesamtbetrachtung des konkreten Lebenssachverhalts im Zeitpunkt des Antragserwerbs der ausländischen Staatsangehörigkeit aufgrund tatsächlicher und rechtlicher Anhaltspunkte von hinreichendem Gewicht und hinreichender Dichte offensichtlich sowie ihre Anerkennung ohne Weiteres zu erwarten ist. Fehlen ernsthafte Anhaltspunkte dafür, dass die Bundesrepublik Deutschland das Bestehen der deutschen Staatsangehörigkeit verneint, ist deren Verlust als gesetzliche Folge des beantragten Erwerbs einer ausländischen Staatsangehörigkeit im Sinne der verfassungsrechtlichen Anforderungen (noch) hinreichend erkennbar, um ihn dem Bereich der selbstverantwortlichen Entscheidung des Betroffenen normativ zuzurechnen. Für die Frage der Offensichtlichkeit ist - auch in Bezug auf die Eindeutigkeit der Rechtslage - auf das Erkenntnisvermögen und die Erkenntnismöglichkeiten eines unvoreingenommenen, mit den in Betracht kommenden Umständen des konkreten Falles vertrauten und verständigen Beobachters in der Lebenssituation des Antragserwerbers abzustellen. Hätte dieser in der damaligen Situation ohne Weiteres angenommen, deutscher Staatsangehöriger zu sein, ist eine tatsächliche Unkenntnis auch unter dem Aspekt der Verlässlichkeit und Gleichheit des Zugehörigkeitsstatus staatsangehörigkeitsrechtlich unbeachtlich. Der Antragserwerber muss sich in diesem Fall vielmehr ausnahmsweise so behandeln lassen, als hätte er im Zeitpunkt des Antragserwerbs der ausländischen Staatsangehörigkeit Kenntnis von seiner deutschen Staatsangehörigkeit gehabt. Ob hiernach der Behauptung, der Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit sei nicht bekannt gewesen, zu folgen oder die Unkenntnis der deutschen Staatsangehörigkeit unter dem Gesichtspunkt der Zurechenbarkeit im Einzelfall der Kenntnis gleichzustellen ist, obliegt der tatrichterlichen Würdigung und ist insoweit revisionsgerichtlicher Prüfung entzogen. [...]