VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 10.05.2010 - 2 K 562/07.A - asyl.net: M17141
https://www.asyl.net/rsdb/M17141
Leitsatz:

1. Eine drohende Genitalverstümmelung im Heimatland ist grundsätzlich als politische Verfolgung i.S.v. § 60 Abs. 1 AufenthG anzusehen.

2. Weibliche Genitalverstümmelung ist in allen bekannten Formen nach wie vor in Nigeria verbreitet. Bei der Volksgruppe der Edo liegt das Beschneidungsalter in den ersten Lebenswochen zwischen dem 7. und 14. Tag nach der Geburt; eine Beschneidung im Pubertätsalter hat in den letzten Jahren rapide abgenommen und eine Beschneidung im Erwachsenenalter findet gar nicht bzw. nur noch in Einzelfällen statt.

Schlagwörter: Asylverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Nigeria, Genitalverstümmelung, soziale Gruppe, Edo, Schutz von Ehe und Familie, Abschiebungsverbot, Zuständigkeit, Ausländerbehörde
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 3, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 4 Bst. c, AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 8, GG Art. 6
Auszüge:

[...]

Eine drohende Genitalverstümmelung im Heimatland ist grundsätzlich als politische Verfolgung i.S.v. § 60 Abs. 1 AufenthG anzusehen. Es fehlt insbesondere nicht an einer Ausgrenzung der Betroffenen aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit. Insoweit kann nicht darauf abgestellt werden, dass eine Beschneidung den Zweck der Integration bzw. Inklusion der betroffenen Mädchen und Frauen in die jeweilige Gesellschaft als vollwertiges Mitglied verfolge und die Ächtung bzw. der Ausschluss der unbeschnittenen Frauen mit seinen ggf. existenzbedrohenden Folgen keine staatliche Verfolgung sei (vgl. so etwa Urteile des VG Münster vom 15. März 2010 - 11 K 413/09.A und 23. August 2006 - 11 K 473/04.A, juris, VG Ansbach, Urteil vom 28. September 2004 - AN 18 K 04.30944 - noch zu § 51 AuslG, juris).

Die Zwangsbeschneidung ist gerade darauf gerichtet, die sich weigernden Betroffenen in ihrer politischen Überzeugung zu treffen, indem sie den Traditionen unterworfen und unter Missachtung des Selbstbestimmungsrechts zu verstümmelten Objekten gemacht werden (vgl. bereits Urteile des VG Aachen vom 4. August 2003 - 2 K 1140/02.A und 2 K 1924/00.A und vom 16. Februar 2004 - 1893/02.A; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 14. März 2006 - 9a K4180/05. (zu Kamerun), juris).

Darüber hinaus ist durch § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG nunmehr klargestellt, dass eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch dann vorliegen kann, wenn die Bedrohung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der Freiheit allein an das Geschlecht anknüpft. Durch Satz 3 der Vorschrift sollten gerade auch die Sachverhaltskonstellationen wie eine drohende Genitalverstümmelung erfasst werden. Durch § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. c AufenthG wurde der Schutz auch auf die Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure erstreckt, sofern der Staat, Parteien oder Organisationen, den des Staat oder dessen wesentliche Teile beherrschen, erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind Schutz vor Verfolgung zu bieten, es sei den, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative (vgl. ebenso Bayerischer VGH, Beschluss vom 3. Februar 2006 - 9 ZB 05.31075 - (zu Äthiopien), juris; Hessischer VGH, Urteil vom 23. März 2005 - 3 UE 3457/04.A - (zu Sierra Leone), juris; VG Stuttgart, Urteil vom 10. Juni 2005 - A 10 K 13121/03 -, juris; VG München, Urteil vom 2. April 2009 - M 21 K 08.500077 -, juris; VG Regensburg, Beschluss vom 29. Juli 2009 - RN 5 S 09.30157 -, juris; Treiber in Gemeinschaftskommentar zum Aufenthaltsgesetz, Stand: Januar 2010, § 60 Rz. 175 ff, 183). [...]

Der Klägerin droht im Falle ihrer Rückkehr nach Nigeria auch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine politische Verfolgung in Form einer Genitalbeschneidung.

Allerdings geht das Gericht nach den ihm vorliegenden Erkenntnissen grundsätzlich davon aus, dass die weibliche Genitalverstümmelung in allen bekannten Formen nach wie vor in Nigeria verbreitet ist. Schätzungen zur Verbreitung der weiblichen Genitalverstümmelung gehen jedoch weit auseinander und reichen von 19 % - 50 %/60 %. Die Zahl von 19 % geht auf den Demographic an Health Survey (DHS) Nigeria 2003 zurück, der von der Nationalen Bevölkerungs-Kommission in Nigeria durchgeführt wurde. Demgegenüber gingen etwa Schätzungen der WHO und der Vereinten Nationen im Jahr 1996 und 1997 von einer Verbreitung in Höhe von 60 % aus. Die WHO bezieht sich in einer aktuellen Bekanntmachung zur Verbreitung der weiblichen Genitalbeschneidung in Afrika für Nigeria auf die Zahl von 19% (vgl. dazu etwa Auswärtiges Amt (AA), Lageberichte vom 11. März 2010, - S. 16 und vom 29. März 2005 S. 27; AA, Auskunft an das VG Aachen vom 27. Dezember 2002; Institut für Afrika-Kunde (IAK), Auskünfte an das VG Aachen vom 21. August 2002, an das VG Düsseldorf vom 28. März 2003 und an das VG Koblenz vom 4. Dezember 1998; Bundesamt, Nigeria - Die Lage der Frauen in Nigeria - 2002, S. 6; WHO, "Female genital mutilation and other harmful practices", abgerufen April 2010, www.who.int/reproductivehealth/topics/fgm/prevalence; Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), Weibliche Genitalverstümmelung in Nigeria, www.gtz.de/fgm).

Es wird zwar teilweise von einem Rückgang der Beschneidungspraxis bzw. Bewusstseinswandel ausgegangen, dennoch ist die Beschneidungspraxis noch in den Traditionen der nigerianischen Gesellschaft verwurzelt. Nach traditioneller Überzeugung dient die weibliche Genitalverstümmelung der Sicherung der Fruchtbarkeit, der Kontrolle der weiblichen Sexualität, der Schutz vor Promiskuität und der Sicherung der wirtschaftlichen Zukunft der Frauen durch eine Heirat. Angesichts des Umstandes, dass teilweise nur eine beschnittene Frau als "heiratsfähig" angesehen wird, kann der Druck auf die Betroffenen als auch auf deren Eltern zur Durchführung einer Beschneidung erheblich sein. Zur Erreichung der "Heiratsfähigkeit" sind häufig gerade weibliche Familienmitglieder bemüht, die Beschneidung durchführen zu lassen und mitunter erfolgt dies auch gegen den Willen der Eltern. Übereinstimmend wird davon ausgegangen, dass die weibliche Genitalverstümmelung besonders in ländlichen Gebieten und hierbei insbesondere im Süden bzw. Südwesten und im Norden des Landes verbreitet ist. Das Beschneidungsalter variiert von kurz nach der Geburt bis zum Erwachsenenalter und ist abhängig von der jeweiligen Ethnie. Eine einheitliche - bundesweite - Gesetzgebung gegen die Beschneidungspraxis gibt es nicht, eine Verfolgung ist lediglich nach dem allgemeinen Strafrecht möglich. Einige Bundesstaaten, darunter auch Edo-State haben Gesetze gegen die Genitalverstümmelung erlassen; allerdings sind Verfahren bislang nicht bekannt geworden (vgl. dazu AA, Lagebericht vom 11. März 2010, S. 16; Auskünfte an das Bundesamt vom 21. August 2008, an das VG Düsseldorf vom 28. April 2003 und vom 5. August 2003 sowie an VG Aachen vom 27. Dezember 2002; Bundesamt - Nigeria - Lage der Frauen, 2002; S. 6; IAK, Auskünfte an das VG Aachen vom 21. August 2002 und an das VG Düsseldorf vom 28. März 2003; amnesty international (ai), Auskünfte an das VG Aachen vom 6. August 2002 und das VG Koblenz vom 16. März 1999; WHO, "Elimination of Female Genital Circumcision in Nigeria", Dezember 2007 abrufbar über www.who.int/fgm; GTZ, Weibliche Genitalverstümmelung in Nigeria, www.gtz.de/fgm; VG Stuttgart, Urteil vom 10. Juni 2005 - A 10 K 13121/03 -, juris; VG München, Urteil vom 2. April 2009 - M 21 K 08.500077 -, juris; VG Münster vom 15. März 2010 - 11 K 413/09.A und vom 23. August 2006 - 11 K 473/04.A, juris; jeweils mit weiteren Nw.).

Auf Grund der bisherigen Angaben der Mutter Klägerin im Verfahren und auf Grund der mündlichen Verhandlung hat das Gericht jedoch nicht die Überzeugung gewonnen, dass eine Beschneidung der Klägerin im Falle der Rückkehr in ihr Heimatland beachtlich wahrscheinlich ist.

Zwar gehört die Mutter der Klägerin, die nach dem vorgelegten ärztlichen Attest ebenfalls beschnitten ist, ihren Angaben zufolge der Volksgruppe der Edo an, bei denen nach den vorliegenden Erkenntnissen die weibliche Genitalbeschneidung praktiziert wird. Allerdings liegt das Beschneidungsalter bei der Volksgruppe der Edo nach den vorliegenden Auskünften in den ersten Lebenswochen zwischen dem 7. und 14. Tag nach der Geburt. Die Klägerin ist jedoch mittlerweile bereits fünf Jahre alt. Soweit die Mutter der Klägerin darauf hinweist, dass Beschneidungen auch noch zu einem späteren Zeitpunkt durchgeführt werden könnten und angegeben hat, selber erst im Alter von 12 Jahren, d.h. ausgehend von ihrem Geburtsdatum etwa im Jahr 1991, beschnitten worden zu sein, bestehen diesbezüglich bereits Zweifel an der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben. [...] Darüber hinaus hat nach den vorliegenden Auskünften eine Beschneidung im Pubertätsalter in den letzten Jahren rapide abgenommen und eine Beschneidung im Erwachsenenalter findet gar nicht bzw. nur noch in Einzelfällen statt (vgl. zum Beschneidungsalter etwa: IAK, Auskunft an das VG Aachen vom 21. August 2002 und AA, Auskunft an das VG Aachen vom 27. Dezember 2002). [...]

Gegen eine mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Genitalbeschneidung spricht schließlich, dass eine Beschneidung minderjähriger Mädchen in der Regel mit Zustimmung oder auf Veranlassung der Eltern erfolgt (vgl. etwa AA, Auskunft an das VG Aachen vom 27. Dezember 2002 und IAK, Auskunft an das VG Aachen vom 21. August 2002) und beide Eltern sich gegen eine Beschneidung der Klägerin ausgesprochen haben. Zwar kann - wie oben bereits angesprochen - mit Blick auf die "Heiratsfähigkeit" der Mädchen der soziale Druck der (Groß-)Familie zur Durchführung einer Beschneidung sehr groß sein und auch eine Beschneidung gegen den Willen der Eltern bzw. bei unehelichen Kindern gegen den Willen der Mutter durchgeführt werden (vgl. etwa AA, Auskunft an das Bundesamt vom 21. August 2008; IAK, Auskunft an das VG Aachen vom 21. August 2002 und ai, Auskunft an das VG Aachen vom 6. August 2002).

Es ist jedoch nach den bisherigen Angaben nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass über die Familie der Mutter der Klägerin eine zwangsweise Beschneidung erfolgen wird bzw. ein unausweichlicher Druck zur Beschneidung der Klägerin besteht oder im Falle einer Rückkehr voraussichtlich aufgebaut wird. Nach den Angaben der Mutter Klägerin in der mündlichen Verhandlung hat das Gericht vielmehr den Eindruck gewonnen, dass gar keine oder nur noch rudimentäre familiäre Verbindungen der Mutter der Klägerin nach Nigeria bestehen. [...]

Für die Prüfung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK (Schutz der Familie) ist im Hinblick auf eine mit einer - hier: hypothetischen - Abschiebung einhergehenden Trennung der Klägerin von ihrer Mutter bzw. Vater vorliegend kein Raum. Diese Prüfung fällt nicht in die Zuständigkeit des Beklagten bzw. des Bundesamtes, sondern obliegt der Ausländerbehörde. Ob die mit einer Durchführung der Abschiebung einhergehende Trennung der Klägerin von ihrer Mutter bzw. Vater zulässig ist, ist ausschließlich von der örtlich zuständigen Ausländerbehörde im Rahmen der ihr obliegenden Prüfung im Zusammenhang mit dem Vollzug einer Abschiebung zu prüfen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes beschränkt sich die Zuständigkeit des Bundesamtes auf sog. zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote nach § 60 AufenthG, die sich der Sache nach aus der Unzumutbarkeit des Aufenthalts im Zielland für den Ausländer herleiten und damit in Gefahren begründet sind, die im Zielstaat der Abschiebung drohen. Der Schutz der Familie im Lichte des Art. 8 EMRK oder auch des Art. 6 GG im Falle einer Trennung begründet jedoch ein sog. inlandsbezogenes Abschiebungsverbot - auch soweit es sich um trennungsbedingte Gefahren im Zielstaat handelt - für dessen Prüfung die Ausländerbehörde zuständig ist. Dabei hat die Ausländerbehörde mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 und 2 GG neben der unmittelbaren Trennungswirkung im Inland auch - im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG - etwaige mittelbare nachteilige Folgen in den Blick zu nehmen, die minderjährigen Kindern durch die Trennung von seinen Eltern im Zielstaat der Abschiebung drohen können. Obwohl es sich insoweit um im Zielstaat auftretende Folgen der Abschiebung handelt, sind sie gleichwohl von der Ausländerbehörde zu ermitteln und zu berücksichtigen. Danach kann von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine solche Gefahrenlage kann möglicherweise entstehen, wenn ohne ihre Eltern abgeschobene Kinder im Zielstaat wegen der Trennung ohne Beistand wären und deshalb alsbald in eine existenzielle Notlage geraten könnten (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 21. September 1999 - 9 C 12/99 -, a.a.O.). [...]