Zu den Voraussetzungen und Auswirkungen der Rücknahme einer Niederlassungserlaubnis: Die Verwaltungsbehörde hat in der Ermessensentscheidung zunächst zu prüfen, welche öffentlichen Interessen für eine Rücknahme sprechen und ggf. sodann abzuwägen, ob eine Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit (ex tunc) oder für die Zukunft (ex nunc) verhältnismäßig ist. Da die Aufenthaltserlaubnis durch die Erteilung der Niederlassungserlaubnis erloschen ist, würde eine Rücknahme ex tunc zu einer Unterbrechung des rechtmäßigen Aufenthalts führen. Die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG beginnt neu zu laufen, wenn ein Rücknahmebescheid vom Gericht wegen Ermessensfehlern aufgehoben wurde.
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Die zulässige Anfechtungsklage ist begründet. Der Rücknahmebescheid der Beklagten vom 22. April 2009 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Rechtsgrundlage der Rücknahme ist § 48 VwVfG. Denn das AufenthG enthält nur für den Widerruf ursprünglich rechtmäßig erteilter Aufenthaltstitel Spezialvorschriften, nicht aber für die Rücknahme von Aufenthaltstiteln, die bereits bei ihrer Erteilung rechtswidrig waren (vgl. Schäfer, GK-AufenthG, § 52 Rn. 33, § 51 Rn. 34). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtswidrigkeit oder Rechtmäßigkeit des Rücknahmebescheides ist dabei nach neuster Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts der Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. Urteil vom 13. April 2010 - 1 C 10.09 - noch nicht im Volltext veröffentlicht).
Der Rücknahmebescheid vom 22. April 2009 ist formell rechtmäßig. [...]
Ferner liegen auch die Tatbestandsvoraussetzungen einer Rücknahme nach § 48 VwVfG vor.
Eine solche Rücknahme setzt zunächst voraus, dass der aufzuhebende Verwaltungsakt bereits im Zeitpunkt seines Erlasses rechtswidrig war. War er dagegen bei Erlass noch rechtmäßig und sind seine Erteilungsvoraussetzungen erst später weggefallen, kommt nur ein Widerruf in Betracht (vgl. Kopp/Ramsauer, aaO., § 48 Rn. 57).
Die dem Kläger erteilte Niederlassungserlaubnis war bereits im Zeitpunkt ihres Erlasses rechtswidrig, weil schon damals die Erteilungsvoraussetzung der Lebensunterhaltssicherung (§§ 26 Abs. 4 Satz 1, 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG) nicht erfüllt war. [...]
Der Rücknahmebescheid vom 22. April 2009 ist aber ermessensfehlerhaft.
Zwar kann der Beklagten entgegen der Ansicht des Klägers ein völliger Ermessensausfall nicht vorgeworfen werden. Im angefochtenen Bescheid wird auf S. 2 im 4. Absatz nach Prüfung der Tatbestandsvoraussetzunge des § 48 VwVfG ausdrücklich ausgeführt, dass "nach pflichtgemäßem Ermessen zu prüfen [sei], ob die Niederlassungserlaubnis zurückgenommen werden kann." [...]
Ermessensfehler liegen aber insofern vor, als die Beklagte keine Gründe genannt hat, die für eine Rücknahme sprechen, kein Ermessen im Hinblick auf die Frage, ob mit Wirkung für die Vergangenheit oder nur mit Wirkung für die Zukunft zurückgenommen werden soll, angestellt hat und hinsichtlich der Frage, welche Folgen die Rücknahme der Niederlassungserlaubnis für die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts des Klägers in Deutschland hat, von falschen rechtlichen Voraussetzungen ausging.
Wenn sich ein Aufenthaltstitel als von Anfang an rechtswidrig erweist, hat die Behörde ein offenes Ermessen, ob sie ihn nach § 48 VwVfG zurücknehmen will. Die Ermessensausübung ist nicht von vornherein in eine bestimmte Richtung intendiert, etwa dahingehend, dass grundsätzlich eine Rücknahme zu erfolgen hat und davon nur abgesehen werden kann, wenn besondere Gründe dagegen sprechen. Vielmehr sind alle bekannten oder für die Behörde erkennbaren Umstände des Einzelfalls, die für oder gegen eine Rücknahme sprechen, gegeneinander abzuwägen (vgl. OVG Saarland, Urteil vom 11. März 2010 - 2 A 491/09 -, juris Rn. 35 f.). Die Beklagte hat ihre Ermessenserwägungen hier aber darauf beschränkt, dass dem Kläger auch aufgrund anderer Vorschriften kein Anspruch auf eine Niederlassungserlaubnis zustehe und Gründe, die gegen eine Rücknahme sprechen, nicht ersichtlich seien, zumal dem Kläger seine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 AufenthG "belassen" bleibe. Ob es Gründe gibt, die für eine Rücknahme sprechen, hat sie dagegen nicht in ihre Ermessenserwägungen einbezogen. Ein "offenes" Ermessen darf sich aber nicht darauf beschränken, festzustellen, dass nichts gegen die von der Behörde beabsichtigte Maßnahme spricht, sondern muss im Gegenteil zunächst einmal davon ausgehen, ob etwas für diese Maßnahme spricht. Nur wenn im ersten Schritt festgestellt wurde, dass gute Gründe für die Rücknahme sprechen, muss im nächsten Schritt überhaupt geprüft werden, ob noch bessere Gründe dagegen sprechen. Man kann dem Kläger hier auch nicht vorhalten, dass er solche Gründe nicht vorgetragen habe. Anders als hinsichtlich der gegen eine Rücknahme sprechenden Privatinteressen ist es hinsichtlich der für eine Rücknahme sprechenden öffentlichen Interessen selbstverständlich Aufgabe der Behörde, diese von Amts wegen zu ermitteln und in ihre Ermessenserwägungen einzustellen. [...]
Ein weiterer Ermessensfehler ist der Beklagten dadurch unterlaufen, dass sie im Anschluss an ihre Ermessensentscheidung, die Niederlassungserlaubnis generell zurückzunehmen, kein weiteres Ermessen im Hinblick darauf angestellt hat, ob die Rücknahme nur mit Wirkung für die Zukunft oder auch mit Wirkung für die Vergangenheit erfolgen soll. Denn wenn eine Behörde sich entschieden hat, einen rechtswidrigen Aufenthaltstitel grundsätzlich zurücknehmen zu wollen, muss sie in einem weiteren Schritt nach Ermessen prüfen, ob diese Rücknahme nur ex nunc oder auch ex tunc wirken soll (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 26. März 2009 - 2 M 14/09 -, juris Rn. 17). Die Beklagte hat hier aber im Anschluss an ihre Ermessenserwägungen zur Frage, ob überhaupt zurückgenommen werden soll, lediglich festgestellt: "Die Niederlassungserlaubnis ist daher ab Erteilung zurückzunehmen." Im angefochtenen Bescheid wird nirgends deutlich, dass sie die Alternative einer bloß für die Zukunft wirkenden Rücknahme überhaupt gesehen und in Betracht gezogen hat; erst recht wird nicht deutlich, welche Gründe sie bewogen haben, eine rückwirkende Rücknahme vorzuziehen. Auch im gerichtlichen Verfahren ist keine diesbezügliche Ergänzung der Ermessenserwägungen erfolgt.
Dies steht in engem Zusammenhang mit der fehlerhaften Feststellung der Beklagten, dem Kläger bleibe seine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 23 AufenthG belassen. Bei dieser Ermessenserwägung geht die Beklagte von der falschen rechtlichen Voraussetzung aus, die alte Aufenthaltserlaubnis des Klägers würde durch die Rücknahme der Niederlassungserlaubnis quasi automatisch wieder aufleben. Hintergrund ist nach den Erläuterungen der Vertreterin der Beklagten in der mündlichen Verhandlung, dass auch nach dem Willen der Beklagten trotz der Rücknahme der Niederlassungserlaubnis der Aufenthalt des Klägers in Deutschland ununterbrochen rechtmäßig bleiben und keine Aufenthaltsbeendigung erfolgen soll.
Grundsätzlich ist die Überlegung, dass der Betroffene trotz der Rücknahme der Niederlassungserlaubnis rechtmäßig in Deutschland bleiben können wird, eine einschlägige und zutreffende Ermessenserwägung (vgl. VG Dresden, Beschluss vom 1. August 2007 - 3 K 1359/07 -, juris Rn. 18). Das Ziel, die Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes des Klägers nicht zu unterbrechen, ist aber bei einer Rücknahme der Niederlassungserlaubnis für die Vergangenheit nicht zu erreichen. Die dem Kläger zuletzt am 7. Januar 2008 bis zum 29, Januar 2010 verlängerte Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 AufenthG ist nämlich durch Erledigung "auf andere Weise" im Sinne des § 43 Abs. 2 VwVfG erloschen, als ihm am 1. September 2009 eine Niederlassungserlaubnis erteilt wurde. [...]
Sollte eine neue Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, könnte dies aber jedenfalls frühestens mit Wirkung ab Antragstellung geschehen, nicht jedoch für den Zeitraum vor der Antragstellung (VG Oldenburg, Beschluss vom 12. März 2010 - 10 B 761/10 -). Zwingende Folge daraus ist, dass bei einer rückwirkenden Rücknahme der Niederlassungserlaubnis die Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes des Klägers in Deutschland mindestens für die Zeit vom 1. September 2008 bis zu dem Zeitpunkt, an dem er eine neue Aufenthaltserlaubnis beantragt, unterbrochen wäre. Das selbstgesetzte Ziel der Beklagten, keine Lücke in der Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes des Klägers in Deutschland eintreten zu lassen, könnte also nur erreicht werden, wenn man als Zeitpunkt, zu dem die Rücknahme wirksam werden soll, ein Datum einige Tage nach Zustellung des Rücknahmebescheides wählt. Denn dann könnte der Kläger (gegebenenfalls hilfsweise und parallel zu einer Anfechtung der Rücknahme) während dieser Tage eine Aufenthaltserlaubnis beantragen und sie später rückwirkend auf den Zeitpunkt der Antragstellung erteilt bekommen.
Die Beklagte wird also erneut über eine Rücknahme der Niederlassungserlaubnis zu entscheiden haben. Dabei wird sie als Ausgangspunkt ihrer Ermessenserwägungen feststellen müssen, welche Gründe für eine Rücknahme der Niederlassungserlaubnis sprechen. Im Anschluss wird sie zu prüfen haben, welche offensichtlichen oder vom Kläger vorgetragenen Umstände gegen eine Rücknahme sprechen. Dabei wird sie auch in Betracht ziehen müssen, ob dem Kläger nach der Rücknahme der Niederlassungserlaubnis überhaupt erneut eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden könnte. Falls dies zu verneinen sein sollte, muss sie erwägen, ob die Niederlassungserlaubnis auch dann zurückgenommen werden soll, wenn dies die Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes des Klägers in Deutschland endgültig beenden würde. Wenn eine neue Aufenthaltserlaubnis dagegen voraussichtlich erteilt werden kann, muss die Beklagte in Erwägung ziehen, ob die Niederlassungserlaubnis mit Rückwirkung zurückgenommen werden soll, obwohl dadurch die Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes des Klägers für die Zeit vom 1. September 2008 bis zu dem Zeitpunkt, an dem er die neue Aufenthaltserlaubnis beantragt, unterbrochen wird, oder ob die Rücknahme einige Tage nach Zustellung der Rücknahmebescheides wirksam werden soll, um dem Kläger Gelegenheit zu geben, rechtzeitig vor Erlöschen der Niederlassungserlaubnis einen Antrag auf eine neue Aufenthaltserlaubnis zu stellen.
Anders als der Kläger meint, ist eine solche erneute Ermessensentscheidung auch jetzt noch möglich. Sie ist nicht durch die Jahresfrist in § 48 Abs. 4 VwVfG ausgeschlossen. Denn die Jahresfrist wird durch den Erlass eine Rücknahmebescheides unterbrochen und beginnt mit Rechtskraft eines Urteils, dass den Rücknahmebescheid wegen Ermessensfehlern aufhebt, neu (vgl. BVerwG, Beschluss vom 20. Mai 1988 - 7 B 79/88 - NVwZ 1988, 822; VGH Baden- Württemberg, Urteil vom 17. Februar 2000 - 8 S 1817/99 -, NVwZ-RR 2001, 5, 6; auch Kopp/Ramsauer, aaO., § 48 Rn. 161). [...]