VG Wiesbaden

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Zitieren als:
VG Wiesbaden, Urteil vom 24.08.2009 - 8 K 1381/07.WI.A - asyl.net: M17154
https://www.asyl.net/rsdb/M17154
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen Gefahr der Sippenhaft in der Türkei, da der Ehemann der Klägerin der islamischen Sekte Nurcu Aczmendi angehört.

Schlagwörter: Asylverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Türkei, Kurden, Sippenhaft, religiöse Verfolgung, Nur, Nurcu Aczmendi
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Ungeachtet dessen hat die Klägerin einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, weil sie zur Überzeugung des Gerichts bei einer Rückkehr in die Türkei dort mit weit überwiegender Wahrscheinlichkeit sippenhaftähnlichen Verfolgungsmaßnahmen auf Grund ihrer Eheschließung mit Herrn ... ausgesetzt wäre.

Bei der Klägerin liegt nach Einschätzung des Gerichts ein außergewöhnlicher Einzelfall vor.

Auf Grund der Anforderung eines Ehefähigkeitszeugnisses haben die türkischen Behörden Kenntnis von dieser Eheschließung.

Der Ehemann der Klägerin wird auch weiterhin von der Türkei politisch verfolgt. Er wurde dort mehrfach wegen gewaltlosen Aktionen verurteilt und ist ein herausragender Aktivist seiner Organisation. Im Jahresbericht Türkei 1998 von ai wird er namentlich erwähnt. Nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 05.07.2009 ist die Sekte, der der Ehemann der Klägerin angehört, weiterhin in der Türkei verboten und wird gemäß Antiterrorgesetz als (nicht bewaffnete) terroristische Organisation eingestuft. Auch die Beklagte geht von weiterhin drohender politischer Verfolgung aus, denn sie hat das Widerrufsverfahren gegen den Ehemann eingestellt.

Bei einer Rückkehr der Klägerin in die Türkei würde es zu intensiven Befragungen der Klägerin kommen. Solche Befragungen von Ehegatten und Verwandten sind in der Türkei zulässig und üblich. Dabei droht der Klägerin zur Überzeugung des Gerichts mit weit überwiegender Wahrscheinlichkeit eine Behandlung seitens der Sicherheitskräfte, die als politische Verfolgung einzustufen wäre. Auf Grund der herausgehobenen Stellung des Ehemannes der Klägerin innerhalb der Nurcu Aczmendi besteht ein erhebliches Interesse der türkischen Sicherheitsorgane daran, nähere Informationen über den Ehemann der Klägerin und seine Aktivitäten in Deutschland zu bekommen. Die Klägerin verfügt auch mit Sicherheit über solche Informationen. Bei dieser Konstellation sind polizeiliche Übergriffe hochwahrscheinlich. Dies ungeachtet des Umstandes, dass es in der Türkei keine Sippenhaft gibt und sippenhaftähnliche Maßnahmen nur in Einzelfällen vorkommen. Bei dieser Einschätzung berücksichtigt das Gericht auch, dass es zwar eine Verbesserung der Menschenrechtslage in der Türkei gibt, es aber immer noch in einem nicht unerheblichen Umfang zu Folter kommt. So hat die TIHV 2008 269 Personen registriert, die angegeben hatten, im selben Jahr gefoltert oder unmenschlich behandelt worden zu sein (vgl. AA, Lagebericht Türkei vom 29.06.2009). Auch die Mitteilung des Auswärtigen Amtes in dem angeführten Lagebericht, in den letzten Jahren sei kein Fall bekannt geworden, in dem ein aus der Bundesrepublik Deutschland in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten - dies gelte auch für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Personen - gefoltert oder misshandelt worden sei. Denn gefährdete Personen werden gerade nicht freiwillig in die Türkei zurückkehren und dürften gegen ihren Willen auch nicht abgeschoben werden. [...]