VG Kassel

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Zitieren als:
VG Kassel, Urteil vom 13.01.2010 - 2 K 156/09.KS.A - asyl.net: M17161
https://www.asyl.net/rsdb/M17161
Leitsatz:

Zur Praxis der Zwangsverheiratung in Kamerun.

Schlagwörter: Asylverfahren, Kamerun, geschlechtsspezifische Verfolgung, Zwangsehe
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben ist die Klägerin im Hinblick auf die von ihrem Onkel beabsichtigte Zwangsverheiratung und die mehrfache Vergewaltigung durch den vorgesehenen Ehemann aus zum damaligen Zeitpunkt nachvollziehbarer Furcht vor weiterer Verfolgung ausgereist. Durchgreifende Bedenken an der Glaubhaftigkeit des Vortrags der Klägerin bestehen angesichts des in sich schlüssigen und widerspruchsfreien Vorbringens der Klägerin nicht.

Der Einzelrichter geht aber davon aus, dass die Klägerin bei einer Rückkehr nach Kamerun vor erneut einsetzender Verfolgung hinreichend sicher ist. Eine derartige Verfolgung könnte wiederum nur von ihrem Onkel ausgehen. Es ist aber bereits sehr unwahrscheinlich, dass dieser Onkel bei einer Rückkehr der Klägerin in ihr Heimatland ohne weiteres von ihrer erneuten Einreise Kenntnis erhält. Anhaltspunkte dafür, dass dieser Onkel Informanten hat, die ihm von einer Rückkehr der Klägerin in Kenntnis setzen könnten, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Darüber hinaus ist es auch wenig wahrscheinlich, dass der Onkel nach mehr als zweijährigem Auslandsaufenthalt seiner inzwischen 18-jährigen Nichte an der Absicht ihrer zwangsweisen Verheiratung festhält, zumal nach dem zwischenzeitlich vergangenen Zeitraum davon auszugehen ist, dass der vorgesehene Ehemann sein Interesse an einer Verbindung mit der Klägerin verloren hat. Trotz der damals an den Tag gelegten Hartnäckigkeit des Onkels wäre der Versuch einer erneuten zwangsweisen Verheiratung der Klägerin auch aussichtslos. Ausweislich des von der Prozessbevollmächtigten der Klägerin vorgelegten Berichts der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 08.01.2004 kommt es trotz gesetzlichen Verbots vor allen in Gebieten, wo traditionelle Lebensweisen vorherrschen, vor, dass Mädchen im Alter von 8 bis 9 Jahren, in anderen Landesteilen häufig im Alter von 12 Jahren verheiratet werden. Während die Lebensweise vieler Menschen in den städtischen Zentren Kameruns heute westlichen Standards zu folgen scheinen, kommt es in der traditionellen Gesellschaft Kameruns weiterhin nicht selten vor, dass Eltern ihre Töchter ohne deren Einverständnis weggeben. Dem Gewohnheitsrecht kommt in lokalen Gesellschaften große Bedeutung zu. Oft bezahlen ältere Männer ungebildeten und armen Eltern einen Brautpreis. In der Praxis einmal bezahlt, wird die Frau als Eigentum des Mannes angesehen. Auch nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 23.01.2009 sind Frauen zwar verfassungsrechtlich Männern gleichgestellt, genießen im Alltag aber nicht die gleichen Rechte. Ausprägungen der rechtlichen Benachteiligung sind u.a. die staatlich gestattete Polygamie, die alleinige Verfügungsgewalt des Ehemanns über das eheliche Vermögen sowie sein Recht, die Berufstätigkeit der Ehefrau zu untersagen, die Zulässigkeit der körperlichen Züchtigung der Ehefrau oder die Straffreiheit für Vergewaltiger, wenn sie das Opfer heiraten. Die verbreitete Zwangsheirat ist zwar nach dem kodifizierten Strafrecht strafbar, aber in vielen Gegenden werde das staatliche Zivil- und Strafrecht von traditionellem Recht faktisch ersetzt. Dies wird von den staatlichen Institutionen in der Regel toleriert. Die aus der Anwendung des traditionellen Rechts folgenden Handlungen unterliegen keiner staatlichen Kontrolle. Die Menschenrechtslage von Frauen unterscheidet sich aber nach ihrem Wohnort und ist grundsätzlich in ländlichen Gebieten schlechter als in den Städten, ebenso wie die gesellschaftlichen und beruflichen Möglichkeiten von Frauen. Die vor allem in den ländlichen Gebieten praktizierte Rechtsprechung durch traditionelle Herrscher benachteiligt systematisch Frauen und Kinder. Darüber hinaus variiert die Rolle der Frau auch von Ethnie zu Ethnie. Der überwiegend muslimisch geprägte Norden gilt hinsichtlich der Frauenrechte als besonders rückständig: Junge Mädchen (zwischen 10 und 15 Jahre alt), meist aus ärmeren Verhältnissen, werden zwangsverheiratet und nur selten zur Schule geschickt. Danach sind sie für Haushalt und Kinder zuständig, so dass ihre weiterführende Schulbildung erschwert wird. Dadurch bleibt die Analphabetenrate hoch. Die sozialen Unterschiede und der regional unterschiedlich große Einfluss des Gewohnheitsrechts in Familienangelegenheiten sind wesentliche Faktoren, die zu erheblichen Unterschieden in der gesellschaftlichen Wahrnehmung und Behandlung von Frauen führen.

Vor diesem Hintergrund ist die Klägerin zwischenzeitlich dem Alter für eine zwangsweise Verheiratung deutlich entwachsen. Darüber hinaus verfügt sie über eine überdurchschnittliche Schulbildung und stammt auch nicht aus einem Landesteil Kameruns, der - wie offensichtlich ihr Onkel - der traditionellen Lebensweise verhaftet ist. Die Klägerin verfügt mit ihrer Tante sowie der anderen Frau, die sie vor ihrer Ausreise aufgenommen und ihr den weiteren Schulbesuch an einer anderen Schule ermöglicht hat, auch über Anknüpfungspunkte in Douala, die ihr eine Rückkehr und einen weiteren Aufenthalt dort ermöglichen. Wie diese Personen bereits in der Vergangenheit bewiesen haben, sind sie durchaus in der Lage, sich etwaigen versuchten Übergriffen des Onkels der Klägerin entgegenzustellen. Der Umstand, dass die Klägerin derzeit keinen Kontakt zu diesen Personen hat, steht dem nicht entgegen, da sich die Klägerin offensichtlich nicht intensiv um eine Kontaktaufnahme von Deutschland aus bemüht hat. Der Onkel der Klägerin hat schon vor deren Ausreise von keiner Seite Unterstützung dabei erhalten, die Klägerin wieder in seine Gewalt zu bekommen. Zwar war die Polizei offensichtlich zum damaligen Zeitpunkt nicht gewillt, gegen den Onkel der Klägerin einzuschreiten, diese hat jedoch von vielen Seiten Hilfe erfahren. Nicht nur ihre Tante und deren Bekannte haben sie bei sich aufgenommen, die Klägerin ist vielmehr nach eigenen Angaben von vielen Leuten gewarnt worden, wenn ihr Onkel auftauchte, so dass sie ihm regelmäßig aus dem Weg gehen konnte. Der Onkel hat sich auch ersichtlich nicht getraut, die Klägerin gewaltsam aus der Wohnung ihrer Tante mitzunehmen. Dass der Onkel bei dem Versuch, die Klägerin mitzunehmen, auf sich allein gestellt war, belegt auch der Umstand, dass kurz vor der Ausreise der Klägerin ein Zugriff ihres Onkels durch das Einschreiten ihrer Mitschüler verhindert wurde. Hat der Onkel der Klägerin aber schon zum damaligen Zeitpunkt in Douala keinerlei Unterstützung für sein Vorhaben erfahren, so ist davon auszugehen, dass - sofern er von der Rückkehr der Klägerin überhaupt Kenntnis erhält - ein weiterer Versuch, die Klägerin ihrem damals vorgesehenen Ehemann oder einem anderen Mann zum Zwecke der Heirat zuzuführen, von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Für die in der mündlichen Verhandlung geäußerte Befürchtung der Klägerin einer Tötung durch ihren Onkel bestehen keinerlei Anhaltspunkte. Derartige Pläne hat der Onkel zu keinem Zeitpunkt erkennen lassen und entsprächen auch nicht einmal den Regeln der vorstehend beschriebenen traditionellen Lebensweise. [...]