VG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
VG Frankfurt a.M., Beschluss vom 16.04.2010 - 7 L 277/10.F - asyl.net: M17195
https://www.asyl.net/rsdb/M17195
Leitsatz:

Zumindest beim Familiennachzugs ist die deutsche Ausländerrechtspraxis hinsichtlich der Sicherung des Lebensunterhalts mit Blick auf das Urteil des EuGH vom 4.3.2010 (Chakroun, C-578/08 [= ASYLMAGAZIN 2010, S. 167 ff.]) ernsthaft in Frage zu stellen. Die pauschale Ermittlung des Unterhaltsbedarfs wird einer Einzelfallprüfung weichen müssen. Allein das potenzielle Angewiesensein auf öffentliche Leistungen dürfte danach nicht länger dazu führen, dass ein Aufenthaltstitel zur Familienzusammenführung verweigert wird. Zu bedenken dürfte in diesem Zusammenhang auch sein, dass nach deutscher Rechtslage auch die unter das Niveau des SGB II und XII herabgesenkten Leistungen für Personen, die in den Anwendungsbereich des AsylbLG fallen, als noch ausreichend zur Sicherung des Lebensunterhalts angesehen werden.

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, Familiennachzug, Ehegattennachzug, familiäre Lebensgemeinschaft, Sicherung des Lebensunterhalts, Familienzusammenführungsrichtlinie, Kindeswohl, Iran, Sorgerecht, SGB II, SGB XII, Asylbewerberleistungsgesetz
Normen: AufenthG § 29 Abs. 3 S. 1, AufenthG § 23 Abs. 1, GG Art. 6 Abs. 1, EMRK Art. 8 Abs. 1, RL 2003/86/EG Art. 7 Abs. 1 Bst. c
Auszüge:

[...]

Im Hinblick auf die vorstehenden Gründe bedarf es im Rahmen des vorliegenden Verfahrens keiner abschließenden, ob der Lebensunterhalt der Familie aus eigenen Mitteln vollständig gesichert ist. Dies muss gegebenenfalls im Hauptsacheverfahren abschließende geprüft werden. Zu beachten ist jedoch, dass der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in seinem Urteil vom 4.3.2010 (C-578/08 – Chakroun, BeckRS 2010, 90247) unmissverständlich betont hat, dass im Anwendungsbereich der Richtlinie 2003/86/EG vom 22.9.2003 betreffend das Recht (Drittstaatsangehöriger) auf Familienzusammenführung, die auch vorliegend zu beachten ist, die Genehmigung zur Familienzusammenführung "die Grundregel darstellt" (Rdnr. 43). Die durch Art. 7 I lit. c der Richtlinie den Mitgliedstaaten verliehene Befugnis, von einem Nachzugswilligen den Nachweis verlangen zu können, dass er über feste und regelmäßige Einkünfte verfügt, die ohne Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen für seinen eigenen und den seiner Familienangehörigen ausreichen, sei eng auszulegen (ebda.). Zudem dürfe der den Mitgliedstaaten eröffnete Handlungsspielraum von ihnen nicht in einer Weise genutzt werden, die das Ziel der Richtlinie, die Familienzusammenführung zu begünstigen, und die praktische Wirksamkeit dieses Rechtsakts beeinträchtigen würde (ebda.). Folgerichtig ist es daher, wenn der Gerichtshof unter Rdnr. 48 feststellt, dass eine automatische Ablehnung eines Nachzugsrechts im Falle einer nach Pauschalkriterien festgestellten unzureichenden Sicherung des Lebensunterhalts für unvereinbar mit den Richtlinienvorgaben erklärt hat.

Der EuGH führt unter Rdnr. 48 wörtlich aus:

"Da der Umfang der Bedürfnisse sehr individuell sein kann, ist diese (von Art. 7 I lit. c der Richtlinie eingeräumte; das Gericht) Befugnis ferner dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten einen bestimmten Betrag als Richtbetrag angeben können, jedoch ist sie nicht dahin zu verstehen, dass die Mitgliedstaaten ein Mindesteinkommen vorgeben könnten, unterhalb dessen jede Familienzusammenführung abgelehnt würde, und dies ohne konkrete Prüfung der Situation des einzelnen Antragstellers. Diese Auslegung wird durch Art. 17 der Richtlinie gestützt, der eine individualisierte Prüfung der Anträge auf Zusammenführung verlangt."

Dies ist eine klare Aussage, die zumindest für den Bereich des Familiennachzugs die Vereinbarkeit der bisherigen einschlägigen deutschen Ausländerrechtspraxis ernsthaft in Frage stellen dürfte. Die pauschale Ermittlung des Unterhaltsbedarfs wird daher einer Einzelfallprüfung weichen müssen. Allein das potenzielle Angewiesensein auf öffentliche Leistungen zur Unterhaltssicherung dürfte danach daher nicht länger dazu führen, dass ein Aufenthaltstitel zur Familienzusammenführung verweigert wird. Zu bedenken dürfte in diesem Zusammenhang auch sein, dass nach deutscher Rechtslage auch die unter das Niveau des SGB II oder XII herabgesenkten Leistungen für Personen, die in den Anwendungsbereich des Asylbewerberleistungsgesetzes fallen, als noch ausreichend zur Sicherung des Lebensunterhalts angesehen werden. [...]