VG Koblenz

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Zitieren als:
VG Koblenz, Urteil vom 05.05.2010 - 1 K 202/10.KO - asyl.net: M17206
https://www.asyl.net/rsdb/M17206
Leitsatz:

Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG wegen Todesdrohungen des Onkels, weil die Klägerin ihren Cousin nicht heiraten will. Nach den vorliegenden Auskünften habe sich die Situation von Frauen im Irak nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein zunehmend verschlechtert; auch Ehrenmorde an Frauen sind an der Tagesordnung.

Schlagwörter: Asylverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Abschiebungsverbot, Irak, Suleimania, Kurden, geschlechtsspezifische Verfolgung, Frauen, Zwangsehe, nichtstaatliche Verfolgung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die 1980 in Sulaimanija geborene Klägerin ist irakische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit. Sie gehört zu den Moslems. Sie beantragte am 23. Juli 2009 die Gewährung von Asyl. [...]

Ferner liegen die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht vor. [...] Eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch dann vorliegen, wenn die Bedrohung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der Freiheit allein an das Geschlecht anknüpft. Eine Verfolgung im Sinne des Satzes 1 dieser Norm kann vom Staat, staatsähnlichen Organisationen oder auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder nichtstaatliche Träger faktischer Staatsgewalt (aber auch internationale Organisationen) erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten und soweit nicht eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht. Hierdurch wird klargestellt, dass bereits die Anknüpfung von Verfolgungshandlungen allein an das Geschlecht schon das Kriterium der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe erfüllt und damit "asylrelevant" sein kann. Geschlechtsspezifische Verfolgung - sei es von Seiten staatlicher Stellen oder von Seiten Privater - sind danach insbesondere die Entrechtung von Frauen, insbesondere durch sexuelle Gewalt bis hin zu ritueller Tötung. [...]

Eine solche geschlechtsspezifische Verfolgung liegt im Fall der Klägerin nicht vor. Das Gericht ist der Überzeugung, dass die Angaben der Klägerin zutreffend sind und sie den Irak verlassen hat, weil ihr Onkel, bei dem sie lebte, unter Androhung und Anwendung von Gewalt die Klägerin dazu zwingen wollte, seinen Sohn, ihren Cousin, zu heiraten. Für die Richtigkeit dieser Angaben sprechen das Auftreten der Klägerin in der mündlichen Vernehmung sowie die Schilderung der Mutter der Klägerin, die bei ihrer Zeugenvemehmung die familiäre Situation nachvollziehbar und glaubhaft dargestellt hat. Die von beiden geschilderten Einzelfallumstände lassen nur den Schluss zu, dass die Klägerin den Irak wegen eines innerfamiliären Konflikts und nicht wegen einer geschlechtsspezifischen Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure verlassen hat. So hat sich die Klägerin bei ihrer Anhörung dahingehend eingelassen, dass es nicht zur Scharia passe, ohne Erlaubnis der Familie zu heiraten. Darüber hinaus hat die Mutter der Klägerin, die nach eigenen Angaben bereits 1997 nach Deutschland gekommen ist, bei ihrer Zeugenvemehmung bekundet, ihr Ehemann, der Bruder des Onkels, habe ebenso wie auch sie selbst gewollt, dass ihre Töchter im Irak lebten. Der Umstand, dass die Familie nur den Sohn mit nach Deutschland genommen hat, die Tochter indes im Irak bei dem Onkel geblieben ist, der nach der der Familientradition, so die Zeugin, für die Tochter verantwortlich sei, belegt hinreichend, dass die eigenen Eltern nicht wollten, dass die Tochter in einem westlichen Land, in dem Freiheit und Gleichberechtigung wesentliche Eckpunkte der Werteordnung sind, lebt. Nur deswegen musste sie zur Überzeugung des Gerichts im Irak bleiben und bei dem Onkel leben. Wenn sie aber nunmehr Schutz bei den Eltern, die von den gleichen Wertvorstellungen wie der Onkel geprägt sind, sucht, belegt dies, dass die Klägerin den Irak nicht wegen der Rolle der Frau in der irakischen Gesellschaft verlassen hat, sondern sie ist wegen der Bedrohung durch den gewalttätigen Onkel zu ihren in Deutschland lebenden Eltern gereist. Von daher ist sie nicht wegen einer geschlechtsspezifischen Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG, sondern wegen familiärer Umstände nach Deutschland gekommen. [...]

Die Klägerin hat aber Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Danach soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine solche Gefahr ist vorliegend gegeben. Dies ergibt eine Gesamtwürdigung der Einzelfallumstände. Zum einen ist das Gericht aufgrund der oben geschilderten familiären Struktur der Familie der Klägerin davon überzeugt, dass der Onkel im Irak ihr tatsächlich ernsthaft mit dem Tod droht, falls sie nicht seinen Sohn, ihren Cousin, heiratet. Hinzu kommt, dass die Klägerin sich der Familie des Onkels durch ihre Ausreise nach Deutschland entzogen hat. Dies legt den Schluss nahe, dass der Onkel, den die Zeugin glaubhaft als gewalttätigen Menschen geschildert hat, dies als eine erhebliche Brüskierung empfindet. Ferner hat sich nach den vorliegenden Auskünften die Situation der Frau im Irak nach dem Sturz des Regimes des Saddam Hussein zunehmend verschlechtert; auch Ehrenmorde an Frauen sind dort an der Tagesordnung (vgl. hierzu Deutsche Orient Stiftung an das VG Göttingen vom 17. Juni 2008). Von daher besteht für die Klägerin eine erhebliche Gefährdung durch Familienangehörige im Irak. Darüber hinaus ist das Gericht aufgrund des Eindrucks, den die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vermittelt hat, und der eingereichten ärztlichen Bescheinigungen davon überzeugt, dass die Klägerin ein intaktes familiäres Umfeld gerade auch aufgrund ihrer Erkrankung - sie leidet ausweislich der Angaben der sie behandelnden Ärzte an einer Kreislaufdysregulation und einer beginnenden Depression - benötigt und sich deswegen auch den Familienstrukturen nicht entziehen kann. Müsste sie in den Irak zurückkehren, hätte sie wieder Kontakt zu ihrem Onkel, der sie ernsthaft bedroht, falls sie sich nicht seinem Willen unterwirft und den eigenen Cousin ehelicht. Aufgrund dessen ist ihr die Rückkehr in den Irak nicht zumutbar und sie hat Anspruch auf die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. [...]