VG Cottbus

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Zitieren als:
VG Cottbus, Urteil vom 18.08.2009 - 7 K 268/09.A - asyl.net: M17207
https://www.asyl.net/rsdb/M17207
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Hindu wegen Verfolgungsgefahr in Afghanistan.

Schlagwörter: Asylverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Afghanistan, Hindu, religiöse Verfolgung, religiöses Existenzminimum, Qualifikationsrichtlinie
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Der Einzelrichter folgt – nachdem materiellrechtliche Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts und des OVG Berlin-Brandenburg zum Religionsfreiheitsbegriff der Qualifikationsrichtlinie bisher, soweit ersichtlich, nicht vorliegen – in dieser Rechtsfrage der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs. Dieser hat in seinem Urteil vom 23. Oktober 2007 – 14 B 06.30315 – ausgeführt (hier zitiert nach juris, dort RdNr. 16 bis 19): [...]

2. Von diesem erweiterten Verständnis des flüchtlingsrechtlichen Religionsbegriffs ausgehend steht zur Überzeugung des Einzelrichters fest, dass die Hindus als kleine Minderheit in Afghanistan für den Fall öffentlicher Religionsbetätigung, insbesondere im Zusammenhang mit der Veranstaltung von religiösen Festen und der Durchführung von Totenritualen, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer kollektiven Verfolgungsgefahr im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt sind, da sie den mit Gefahr für Leib und Leben verbundenen Übergriffen der muslimischen Mehrheitsbevölkerung schutzlos ausgeliefert sind.

Diese Überzeugung ergibt sich aus denjenigen Erkenntnisquellen zur Lage der Hindu-Minderheiten in Afghanistan, die auch dem angegriffenen Ablehnungsbescheid vom 9. März 2009 zugrunde liegen und in diesem ausführlich zitiert werden (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7. März 2008, Seite 15 [wortlautgleich fortgeschrieben im Lagebericht vom 3. Februar 2009, Seite 18]; Gutachten Dr. Danesch vom 23. Januar 2006). Den genannten Quellen lässt sich nämlich entnehmen, dass das Leben der Hindus in Afghanistan st von ausgeprägten Vermeidungsstrategien geprägt ist. Sie versuchen sich in jeder Hinsicht so unauffällig wie möglich zu verhalten. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass sie andernfalls jederzeit und an jedem öffentlichen Ort Gefahr laufen, massiven Übergriffen der muslimischen Bevölkerung ausgesetzt zu sein. Die Auskünfte gehen übereinstimmend davon aus, dass die noch in Afghanistan verbliebenen Hindus versuchen, sich nicht als solche zu erkennen zu geben (vgl. Lageberichte Auswärtiges Amt a.a.O.). Die meisten Hindu-Mitglieder verzichteten auf das Anbringen des roten Punktes auf der Stirn, damit sie auf der Straße nicht sofort als Personen hinduistischer Religions- und Volkszugehörigkeit erkennbar sind (vgl. Sächsisches OVG, Urteil vom 26. August 2008 – A 1 B 521/07, juris). Diese Vermeidungsstrategie ist insoweit erfolgreich, als es in den letzten Jahren zu keinen allein an die Ethnie anknüpfenden Übergriffen der muslimischen Bevölkerung gekommen sein soll. Eine ähnliche Vermeidungsstrategie afghanischer Hindus wird auch für die Feier von religiösen Festen berichtet. Von dem formalen Recht zur Religionsausübung wird wegen fehlender Toleranz der überwältigenden Mehrheit von Moslems und mangels erreichbarem staatlichen Schutz vor Übergriffen kein Gebrauch gemacht. Dies wird damit erklärt, dass es bei größeren Feierlichkeiten in der Vergangenheit zu Ausschreitungen gegenüber den Hindus kam. Sofern religiöse Feste in der Öffentlichkeit durchgeführt werden, beschränken sie sich auf ein Minimum. So hätten in den Jahren 2005 und 2006 ein oder zwei religiöse Feiern im öffentlichen Raum stattgefunden. Die Feierlichkeiten hätten sich aber dabei auf einen kurzen Straßenabschnitt beschränkt. Eine gemeinsame Durchführung des Visak-Festes in Jalalabad ist heute aus Sicherheitsgründen und aus Angst vor Übergriffen nicht mehr möglich. Es wird daher in jeder Provinz für sich gefeiert. Dabei werden die Feierlichkeiten zudem aus Angst vor Übergriffen zeitlich von 15 Tagen auf einen Tag reduziert. Das Divolifest wird nichtöffentlich begangen (vgl. zum Ganzen Danesch, a.a.O.). Die Durchführung dieser Feste mag im Einzelnen gewissen Variationen unterliegen. Sie werden jedoch traditionell öffentlich begangen und sind ein zentraler Bestandteil der Religionsausübung (Danesch, a. a. O). Der von der muslimischen Mehrheitsgesellschaft faktisch erzwungene Verzicht auf ihre (öffentliche) Durchführung oder auch die massive räumliche und zeitliche Beschränkung dieser Feste als Ausdruck einer Vermeidungsstrategie einer Minderheit stellt eine schwerwiegende Verletzung der afghanischen Hindus in ihrem Recht auf eine freie Öffentliche Religionsausübung dar, weil hierdurch massiv in ihr religiöses Selbstverständnis eingegriffen wird; ihre Religionsausübung wird im Wesentlichen nur so weit geduldet, als sie für die muslimische Mehrheitsgesellschaft nicht wahrnehmbar ist (vgl. hierzu auch Sächsisches OVG, Urteile vom 26. August 2008 – A 1 B 860/06; A 1 B 499/07; A 1 B 521/07 –, jeweils zitiert nach juris).

Ähnliches zeigt sich auch an der nur unzureichend bestehenden Möglichkeit zu einer dem hinduistischen Glauben entsprechenden Verbrennung der Toten. Der Verbrennung der Verstorbenen kommt im hinduistischen Glauben eine zentrale Bedeutung zu (vgl. Danesch a.a.O.). Insoweit lässt sich den Lageberichten zwar entnehmen, dass es den Hindus grundsätzlich gestattet sei, Verstorbene gemäß ihren religiösen Riten zu bestatten. In der Regel erfolge dies ohne Zwischenfalle, da die Verbrennung innerhalb der "Wohn-Compounds" stattfinde, in denen die Hindugemeinschaften lebten, oder im ehemaligen Kabuler Zentraltempel in Kart-e Parwan. Sofern Verbrennungen öffentlich stattfänden, könne es zu Störungen durch Anwohner kommen. Hiernach ergibt sich der Eindruck, dass Totenverbrennungen auf den angestammten und wohl öffentlich einsehbaren Plätzen derzeit nicht möglich sind, jedoch innerhalb der Hindu-Wohnviertel und auf dem vorgenannten Tempelgelände Verbrennungen erfolgen, welche nicht den religiösen Vorschriften entsprechen und als Notbehelf angesehen werden müssen. Diese Praxis ist Ausdruck der Suche nach einem Minimum an religionskonformen Totenritualen unter weitgehender Vermeidung einer Öffentlichkeitswirksamkeit ihrer Durchführung, um unkontrollierte Übergriffe der moslemischen Mehrheitsgesellschaft zu verhindern. Diese erzwungene Praxis widerspricht den religiösen Verpflichtungen der Hindus (vgl. hierzu auch Sächsisches OVG, Urteile vom 26. August 2008 – A 1 B 860/06; A 1 B 499/07; A 1 B 521/07 –, jeweils zitiert nach juris).

Aus alledem folgt, dass Angehörigen der Hindu-Minderheit in Afghanistan und damit auch dem Kläger zwar das forum internum im Sinne der früheren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum religiösen Existenzminimum, nicht aber das forum externum im Sinne des erweiterten Religionsausübungsbegriffs der Qualifikationsrichtlinie zur Verfügung steht. [...]