VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Beschluss vom 22.06.2010 - 12 L 284/10.A [= ASYLMAGAZIN 2010, S. 260 f.] - asyl.net: M17216
https://www.asyl.net/rsdb/M17216
Leitsatz:

Vorläufige Aussetzung einer Dublin-Überstellung nach Italien. Im Hauptsacheverfahren ist zu prüfen, ob Italien ein Asylverfahren gewährt, das mit den Standards Europäischen Flüchtlingsschutzes vereinbar ist. Trotz der bevorzugten Behandlung von Dublin-Rückkehrerinnen und -Rückkehrern kommt es in Italien bei der Bereitstellung von Wohnraum angesichts der völlig überlasteten Aufnahmekapazitäten zu Fällen von Obdachlosigkeit.

Eine Abschiebung der Antragsteller nach Italien würde zudem zu einer Trennung von ihrem Ehemann und ihrem Vater führen; die Antragstellerin ist außerdem psychisch erkrankt und auf den Familienverbund besonders angewiesen.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, Rechtsschutzinteresse, Zustellung, Rechtsweggarantie, Konzept der normativen Vergewisserung, Italien, Humanitäre Klausel, Obdachlosigkeit, Wohnraumerfordernis, Familieneinheit, psychische Erkrankung, Vorabentscheidungsverfahren, Vorlagebeschluss, EU-Kommission
Normen: AsylVfG § 34a Abs. 2, VwGO § 123 Abs. 1, AsylVfG § 34a Abs. 1, GG Art. 19 Abs. 4, AsylVfG § 27a, GG Art. 16a Abs. 2, VO 343/2003 Art. 19 Abs. 2 S. 4, VO 343/2003 Art. 20 Abs. 1, VO 343/2003 Art. 15 Abs. 1, EUVA Art. 267 Abs. 1, EUVA Art. 267 Abs. 3
Auszüge:

[...]

2. Der Antrag ist begründet.

Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden.

So liegt es hier.

Unter Berücksichtigung des Vorbringens der Antragsteller und den Auskünften zur Lage von Asylbewerbern in Italien ist im Hauptsacheverfahren zu prüfen, ob und gegebenenfalls welche Vorgaben das Grundgesetz für die fachgerichtliche Prüfung der Grenzen des Konzepts der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1938, 2315/93 -, BVerfGE 94, 49 (99 f.)) trifft, wenn eine Abschiebung in einen nach der Dublin II-VO zuständigen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften - hier Italien - Verfahrensgegenstand ist, und ob etwaige Vorgaben einer Überstellung - hier nach Italien - entgegenstehen (vgl. zu dieser Prüfung im Rahmen der Verfassungsbeschwerde mit Blick auf § 34a Abs. 2 AsylVfG und in Bezug auf Griechenland: BVerfG, Beschlüsse vom 08. September 2009 - 2 BvQ 56/09 -, DVBl. 2009, 1304, und vom 22. Dezember 2009 - 2 BvR 2879/09 -, NVwZ 2010, 318).

Die Erfolgsaussichten eines diese Prüfung umfassenden Hauptsacheverfahrens sind weder offensichtlich zu verneinen, noch zu bejahen. Denn die Prüfung erfordert die Beantwortung tatsächlich und rechtlich komplexer Fragen, die im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes nicht möglich ist [...].

Insbesondere ist zu klären, ob die Antragsteller ihre Asylgründe in Italien noch uneingeschränkt vorbringen können oder ob ihnen dies dort nicht oder nur noch unter erheblichen, mit dem Standard Europäischen Flüchtlingsschutzes unvereinbaren Einschränkungen möglich ist (vgl. Zur Möglichkeit mit den Asylgründen noch gehört zu werden: Europäischer Flüchtlingsrat, ECRE-Studie zur Dublin II-Praxis, S. 3; Schweizerische Beobachtungstelle für Asyl- und Ausländerrecht, Rückschaffung in den "sicheren Drittsaat" Italien, November 2009, www.beobachtungsstelle.ch/fileadmin/ user.../Bericht_DublinII-Italien.pdf (Stand: 22. Juni 2010)).

Bliebe den Antragstellern der begehrte Erlass der einstweiligen Anordnung versagt, obsiegten sie aber in der Hauptsache, könnten Rechtsbeeinträchtigungen nicht mehr verhindert oder rückgängig gemacht werden. Trotz der bevorzugten Behandlung von Dublin-Rückkehrerinnen und -Rückkehrern bei der Bereitstellung von Wohnraum kommt es angesichts der völlig überlasteten Aufnahmekapazitäten zu Fällen von Obdachlosigkeit (vgl. Schweizerische Beobachtungstelle für Asyl- und Ausländerrecht, Rückschaffung in den "sicheren Drittsaat" Italien, November 2009, www.beobachtungsstelle.ch/fileadmin/user.../ Bericht_DublinII-Italien.pdf (Stand: 22. Juni 2010), so dass die Erreichbarkeit der Antragsteller nicht sichergestellt wäre. Überdies ist eine Überstellung der Antragsteller nach Italien mit einer Trennung von ihrem Ehemann bzw. Vater verbunden, der nach den unbestrittenen Angaben der Antragsteller in Deutschland unter dem Aktenzeichen ...-423 ein Asylverfahren betreibt. Diesem Umstand kommt mit Blick auf Art. 15 Abs. 1 Dublin II-VO, wonach jeder Mitgliedstaat aus humanitären Gründen, die sich insbesondere aus dem familiären oder kulturellen Kontext ergeben, Familienmitglieder zusammenführen kann, auch wenn er dafür nach den Kriterien der Verordnung nicht zuständig ist, besonderes Gewicht zu. Dass die Antragsteller - von der Antragsgegnerin unwidersprochen - überdies geltend gemacht haben, psychisch erkrankt zu sein, stärkt die Bedeutung des Familienzusammenhalts. Dies kommt in Art. 15 Abs. 2 Dublin II-VO zum Ausdruck, wonach in Fällen, in denen die betroffene Person wegen einer schweren Krankheit auf Unterstützung anderer Personen angewiesen ist, die Mitgliedstaaten im Regelfall entscheiden, den Asylbewerber und den anderen Familienangehörigen, der sich in dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates aufhält, nicht zu trennen bzw. sie zusammenzuführen, sofern die familiäre Bindung - wie hier - bereits im Herkunftsland bestanden hat. Die Nachteile, die entstünden, wenn die einstweilige Anordnung erginge, den Antragstellern der Erfolg in der Hauptsache aber versagt bliebe, wiegen dagegen weniger schwer. Insbesondere widerspricht - wie bereits aufgezeigt - die Gewährung von einstweiligem Rechtsschutz im Überstellungsverfahren nicht gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland (vgl. hingegen eine Überstellung von Dublin-Rückkehrerinnen und -Rückkehrern nach Italien bejahend: VG Frankfurt a. M., Urteil vom 6. Januar 2010 - 9 K3216/09.F.A(V) -, juris (S. 5 f.); VG Regensburg, Gerichtsbescheid vom 18. August 2008 - RN 6 K 08.30033 -, juris (S. 7 f.); Schweizerisches Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 18. März 2010 - IV D-1496/2010 -, S. 9).

Selbst wenn eine Vielzahl der deutschen Gerichte die Überstellung von Asylbewerbern nach Italien - wie hier - im Rahmen der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes aussetzen und damit das in der Dublin II-VO vorgesehene Zuständigkeitssystem zumindest auf Zeit in gewissem Umfang außer Kraft setzen würden, begründet dies im vorliegenden Verfahren keine Pflicht zur Anrufung des Europäischen Gerichtshofs gemäß Art. 267 Abs. 1 und 3 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union - EUVA - (Konsolidierte Fassung: ABl. EU C 115 vom 09. Mai 2008, S. 47) (in diesem Sinne aber: Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG, Loseblatt-Kommentar, Band 2, Stand: Januar 2010, § 27a Rn. 119.2).

Nach Abs. 1 dieser Bestimmung entscheidet der Gerichtshof der Europäischen Union im Wege der Vorabentscheidung unter anderem über die Gültigkeit und Auslegung von Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union. Stellt sich die Frage nach der Gültigkeit oder Auslegung in einem schwebenden Verfahren bei einem erstinstanzlichen Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, so ist dieses Gericht gemäß Abs. 3 der zuvor genannten Norm zur Anrufung des Gerichtshofs verpflichtet.

Die Kammer ist zwar letztinstanzliches Gericht im Sinne von Art. 267 Abs. 3 EUVA. Es besteht jedoch im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes keine Vorlagepflicht, wenn es - wie hier - jeder Partei unbenommen bleibt, ein Hauptsacheverfahren, in dem die Frage nach der Gültigkeit oder Auslegung einer Unions-Handlung erneut geprüft werden und die den Gegenstand einer Vorlage nach Art. 267 EUVA bilden kann, entweder selbst einzuleiten oder dessen Einleitung zu verlangen (vgl. EuGH, Urteile vom 24. Mai 1977 - 107/76 (Hoffmann-La Roche) -, Slg. 1977, 957 ( 972 f. - Rn. 6 -) und vom 27. Oktober 1982 - 35 und 36/82 (Morson und Jhanjan) -, Slg. 1982, 3723 (3733 f. - Rn. 6 ff. -); BVerfG, Beschluss vom 27. April 2005 - 1 BvR 223/05 -, NVwZ 2005, 1305; Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Kommentar, 3. Auflage, München 2007, Art. 234 EGV Rn. 26 ff.; Pechstein, EU-/EG-Prozessrecht, 3. Auflage, Tübingen 2007, Rn. 840).

Die (vorläufige) Untersagung der Überstellung der Antragsteller nach Italien läuft auch dem Gemeinschaftsinteresse an einem funktionierenden Asylsystem nicht zuwider. Auf europäischer Ebene sind die Mängel des derzeitigen Europäischen Asylsystems, die vor allem die Leistungsfähigkeit des Systems und den Umfang des Schutzes betreffen, bereits seit längerem erkannt worden. Vor diesem Hintergrund beabsichtigt die Kommission unter anderem eine Änderung der Dublin-Verordnung, und hat zu diesem Zweck einen Vorschlag für eine Neufassung der Dublin-Verordnung erarbeitet, der neben einer Vielzahl weiterer Regelungen in Art. 31 Dublin-VO-E die vorläufige Aussetzung von Überstellungen vorsieht, wenn ein Mitgliedstaat mit einer Notsituation konfrontiert ist, und überdies mit Art. 26 Abs. 4 Dublin-VO-E eine Bestimmung enthält, die eine Überstellung verbietet, solange das angerufene Gericht des Mitgliedstaates - bei einer Entscheidungsfrist von sieben Arbeitstagen - über den Überstellungsbeschluss noch nicht entschieden hat (vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung), vom 03. Dezember 2008 KOM (2008) 820 endg. - 2008/0243 (COD); hierzu auch: Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses vom 16. Juli 2009, ABl. EU C 317 vom 23. Dezember 2009, S. 115).

Von der auch im vorläufigen Rechtsschutzverfahren gemäß Art. 267 Abs. 2 EUVA bestehenden Möglichkeit zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union macht die Kammer keinen Gebrauch. Eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union setzt eine weitere tatsächliche und rechtliche Klärung komplexer Fragen voraus, die dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben muss. [...]