VG Chemnitz

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Zitieren als:
VG Chemnitz, Beschluss vom 30.06.2010 - A 5 L 214/10 - asyl.net: M17299
https://www.asyl.net/rsdb/M17299
Leitsatz:

Vorläufige Aussetzung einer Dublin-Überstellung nach Griechenland mit Blick auf die Entscheidung des BVerfG v. 8.9.2009 - 2 BvQ 56/09 - [= ASYLMAGAZIN 10/2009, S. 16 f.], welcher eine über den Einzelfall hinausgehende Tragweite beizumessen ist.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, Zustellung, Rechtsschutzinteresse, Rechtsweggarantie, Konzept der normativen Vergewisserung
Normen: VwGO § 123 Abs. 1, AsylVfG § 34a Abs. 2, GG Art. 16a Abs. 2
Auszüge:

[...]

Die Anträge der Antragsteller auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nach § 123 Abs. 1 VwGO sind zulässig und haben in der Sache Erfolg.

Die Anträge sind zulässig.

Die Anträge gemäß § 123 VwGO sind statthaft, weil ein vorrangiger Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO nicht in Betracht kommt (§ 123 Abs. 5 VwGO). Ein Verwaltungsakt, gegen den ein Rechtsbehelf eingelegt kann und dessen aufschiebende Wirkung vom Gericht angeordnet werden könnte, liegt bislang nicht vor.

Die Antragsteller haben auch ein Rechtsschutzbedürfnis, denn es kann ihnen nicht zugemutet werden, erst die Zustellung eines Bescheides abzuwarten, weil angesichts der Regelungen in § 34a AsylVfG, welche eine unmittelbare Abschiebungsanordnung ohne vorherige Androhung und Fristsetzung vorsehen, die Erlangung einstweiligen Rechtsschutzes vor Durchführung der Abschiebung dann wahrscheinlich nicht mehr rechtzeitig möglich wäre; vielmehr könnte die Antragsgegnerin unmittelbar vor der Abschiebung der Antragsteller nach Griechenland durch Bekanntgabe der Abschiebungsanordnung diese gegenüber den Antragstellern wirksam werden lassen.

Der hier vorgenommenen gerichtlichen Entscheidung steht vorliegend ausnahmsweise auch nicht die Vorschrift des § 34a AsylVfG entgegen, wonach die Abschiebung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Drittstaat nicht nach § 80 oder § 123 VwGO ausgesetzt werden darf.

In verfassungskonformer Auslegung des § 34a Abs. 2 AsylVfG kommt in Fällen, in denen - wie hier - dem Asylbewerber noch keine Abschiebungsanordnung zugestellt worden ist, ausnahmsweise die vorläufige Untersagung der Abschiebung nach § 123 VwGO in Betracht, wenn der Asylbewerber eine Sondersituation darlegt und glaubhaft macht, dass diese vom Konzert der normativen Vergewisserung nach Art. 16a Abs. 2 GG nicht erfasst wird. [...]

In diesem Zusammenhang verweist das Bundesverfassungsgericht auf seinen Beschluss vom 08.09.2009 (Az. 2 BvQ 56/09, NVwZ 2009, S. 1281), wonach bereits die Erreichbarkeit des dortigen Antragstellers in Griechenland für die Durchführung des Hauptsacheverfahrens nicht sichergestellt wäre, sollte, wie von ihm, gestützt auf ernstzunehmende Quellen, befürchtet, ihm in Griechenland eine Registrierung faktisch unmöglich sein und ihm die Obdachlosigkeit drohen.

Mit Blick auf diese Ausführungen steht das Konzept der normativen Vergewisserung derzeit insoweit auf dem Prüfstand, als die Frage zu klären ist, in welchen Fällen einstweiliger Rechtsschutz gegen Abschiebungen nach Griechenland in Überstellungsverfahren angesichts der bekannten Missstände bei der Durchführung von Asylverfahren in Griechenland (ausnahmsweise) gewährt werden kann (vgl. zum Ganzen: VG Saarlouis, Beschluss vom 27.09.2009, 2 L 1443/09: dort unter Bezugnahme auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 08.09.2009, zitiert nach Juris). Vor diesem Hintergrund ist der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eine über den Einzelfall hinausgehende Tragweite beizumessen. [...]