VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 09.06.2010 - A 10 K 3473/09 - asyl.net: M17305
https://www.asyl.net/rsdb/M17305
Leitsatz:

Yeziden im Irak unterliegen keiner Gruppenverfolgung.

(Amtlicher Leitsatz).

Schlagwörter: Asylverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Abschiebungsverbot, Irak, Yeziden, Gruppenverfolgung, religiöse Verfolgung, Verfolgungsdichte, subsidiärer Schutz, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, erhebliche individuelle Gefahr, Ninive,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Aufgrund der Auskunftslage ist nicht von einem staatlichen Verfolgungsprogramm in Bezug auf die Yeziden im Irak auszugehen. Eine unmittelbare Diskriminierung oder Verfolgung religiöser oder ethnischer Minderheiten durch staatliche Behörden findet nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 11.04.2010 nicht in systematischer Weise, allerdings in signifikantem Umfang statt. Auch die sonstigen Auskünfte enthalten keine Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm in Bezug auf die Yeziden. Es ist auch nicht ersichtlich, dass es ein Verfolgungsprogramm nichtstaatlicher Akteure, die zur Umsetzung eines solchen Programms in der Lage wären, gibt.

Für die Feststellung einer Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Gruppierungen fehlt es den Verfolgungsmaßnahmen gegen die Yeziden an der erforderlichen Verfolgungsdichte (ebenso: VGH Bad.-Württ., Urt. v. 16.11.2006 - A 2 S 1150/04 -, juris; ferner etwa: VG Magdeburg, Urt. v. 20.01.2010 - 2 A 275/09 MD juris; Bayer.VG Ansbach, Urt. v. 04.02.2010 - AN 14 K 09.3035 - juris; VG München, Urt. v. 13.10.2009 - M 16 K 09.50224 - juris; VG Sigmaringen, Urt. v. 24.02.2010 - A 1 K 3310/09 - juris).

Die Zahl der Yeziden liegt Schätzungen zufolge zwischen 200.000 und 600.000 Personen (Lagebericht des Auswärtigen Amtes Irak Stand August 2009, S.22; Lagebericht des Auswärtigen Amtes Irak vom 21.04.2010, S. 26 und S.7; Bundesasylamt der Republik Österreich, Die Sicherheitslage der Yeziden im Irak, vom 04.11.2009, S.8; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Informationszentrum Asyl und Migration, Lage der Religionsgemeinschaft der ausgewählten islamischen Länder, Ziffer 6.3.4 vom Juni 2009). Von den Yeziden leben etwa 2/3 in der Gebirgsregion von Sinjar und etwa 1/3 im Distrikt Sheikhan oder in den Großstädten des Irak (vgl. dazu insbesondere VGH Bad.-Württ., Urt. v. 16.11.2006 und AA, Lagebericht vom 21.04.2010, EZKS vom 17.02.2010 an VG München). Der Sinjar liegt ebenso wie der größte Teil des Sheikhan in der ehemals zentralirakischen Provinz Ninive. Nur ein kleiner Teil Sheikhans, der Norden inklusive des Laleschtals, liegt in der kurdischen Provinz Dohuk. [...]

Auf der Grundlage der dargestellten Erkenntnismittel kann in quantitativer Hinsicht nicht auf eine Verfolgungsdichte, die ohne weiteres für jeden einzelnen Yeziden die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entstehen lässt, geschlossen werden. Die bekannt gewordene Zahl der Übergriffe in den vergangenen Jahren ist - ungeachtet der anzunehmenden Dunkelziffer - gemessen an der Gesamtzahl der im Irak lebenden Yeziden nicht geeignet, eine Verfolgung der Yeziden als religiöse Gruppe zu belegen. Dies gilt selbst dann, wenn man in Anbetracht der Unklarheit über die Gruppengröße der Yeziden eine zahlenmäßig niedrige Gruppengröße der unterschiedlich groß geschätzten Gruppe von nur 200.000 bis 250.000 zugrunde legen würde und weiter davon ausginge, dass alle berichteten Maßnahmen gegen die Yeziden in Bezug auf die Verfolgungshandlung und in Bezug auf die Verknüpfung zwischen Handlung und Grund verfolgungsrelevant im Sinne der Art.9 Abs.1 Buchstabe a und Abs.1 Buchstabe b, Art.9 Abs.2 Buchstabe a und Art.9 Abs.3 i.V.m. Art.10 Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 (sog. Qualifikationsrichtlinie) wären, was kaum der Fall sein dürfte. Das Bundesverwaltungsgericht hat bei einer deutlich größeren Gruppe eine Verfolgungsdichte von etwa einem Drittel im Ansatz als hinreichend angesehen, um eine Gruppenverfolgung annehmen zu können (BVerwGE 101, 123 ff.). Selbst bei der Annahme einer hinreichenden Verfolgungsdichte von nur einem Zehntel, was bei der hier zu betrachtenden deutlich kleineren Gruppe eher angemessen sein dürfte, würde sich eine hinreichende Verfolgungsdichte aufgrund des vorliegenden Tatsachenmaterials nicht konkret belegen lassen, auch wenn man nur die Verfolgungsschläge zwischen den Jahren 2004 und 2007 in den Blick nähme und dabei außer Acht ließe, dass die Dichte verfolgungsrelevanter Maßnahmen gegen die Yeziden und die Anzahl der Gewalttätigkeiten im Irak allgemein in den Jahren 2008 und 2009 gegenüber den Vorjahren erheblich zurückgegangen ist. Diese Aussage gilt auch, wenn man nur die Gruppe der in der Provinz Ninive lebenden Yeziden betrachtet (AA, Lagebericht Irak vom 21.04.2010, S.26). Damit liegt die tatsächlich festgestellte Verfolgungsdichte - selbst unter Berücksichtigung einer Dunkelziffer - weit unter der kritischen Verfolgungsdichte, bei deren Vorliegen eine Gruppenverfolgung zu bejahen wäre. Mit Blick auf die Distrikte Sheikhan und Al-Sheikhan, neben dem Sindjar eines der Hauptsiedlungsgebiete der Yeziden im Irak, ist zudem anzuführen, dass die Sicherheitslage dort grundsätzlich besser ist als im Sindjar. Der Großteil dieser Gebiete gehört zu den Gebieten, die de facto kurdisch verwaltet werden mit Ausnahme des nördlichsten Teils des Distrikts Sheikhan, der sogar unter de jure kurdischer Verwaltung steht (EZKS an VG München vom 17.02.2010, S.23 ff.).

Die von den dargestellten Verfolgungsschlägen betroffenen Yeziden lassen sich auch nicht unter einem anderen Merkmal als der Religionszugehörigkeit als - eventuell - kleinere Gruppe zusammenfassen bzw. abgrenzen.

Der Kläger kann auch nicht deshalb die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beanspruchen, weil andere Yeziden vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in der Vergangenheit aufgrund der Erlasslage des BMI vom 15.05.2007 (M I 4-125 421 IRQ/0) als Flüchtlinge anerkannt worden sein sollen. Bis Mitte August 2009 war die Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge von diesem Erlass bestimmt, wonach bei der Gruppe der religiösen Minderheiten wie Christen, Mandäern und Yeziden grundsätzlich von einer Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure auszugehen war. Seit Mitte August 2009 kam es allerdings aufgrund der turnusmäßigen Überprüfung der Maßnahme in Absprache mit dem Bundesinnenministerium zu einer Änderung der Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge. Ein Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten auf Gewährung des Flüchtlingsschutzes nach Maßgabe des § 60 Abs.1 AufenthG ergibt sich nicht aus Art.3 Abs.1 GG i.V.m. dem genannten Erlass des BMI. Die Entscheidung über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs.1 AufenthG ist eine gebundene Entscheidung. Ihre Voraussetzungen werden vom Verwaltungsgericht auf der Grundlage der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt seiner Entscheidung (§ 77 Abs.1 AsylVfG) geprüft. Auch der Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung führt zu keiner anderen Beurteilung. Die Beklagte hat ihre Verwaltungspraxis auf der Grundlage einer internen Dienstanweisung geändert. An einer solchen Änderung ihrer Verwaltungspraxis ist die Beklagte nicht gehindert. [...]

Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG. Nach dieser Vorschrift, mit der die sich aus Art. 18 in Verbindung mit Art. 15 Buchst. c Qualifikationsrichtlinie ergebenden Verpflichtungen auf Gewährung eines "subsidiären Schutzstatus" bzw. "subsidiären Schutzes" in nationales Recht umgesetzt werden, ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. An diesen Voraussetzungen fehlt es im vorliegenden Fall.

Der Begriff des internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist unter Berücksichtigung des humanitären Völkerrechts auszulegen. Danach müssen die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie u.a. für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind, und über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinne von Art. 15 Buchst. c Qualifikationsrichtlinie nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen, wofür Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfe typische Beispiele sind. Ein solcher innerstaatlicher bewaffneter Konflikt kann überdies landesweit oder regional (z.B. in der Herkunftsregion des Ausländers) bestehen, er muss sich mithin nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken (BVerwG, Urt. v. 24.6.2008, aaO).

Nach Auffassung des VGH Baden-Württemberg (Urt. v. 25.03.2010 - A 2 S 364/09 -) ist die Frage, ob die derzeitige Situation im Irak die landesweit oder auch nur regional gültige Annahme eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts rechtfertigt, wohl zu verneinen. Darauf kommt es jedoch hier nicht an, da selbst bei der Annahme eines solchen Konflikts ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs.7 Satz 2 AufenthG nur besteht, wenn der Ausländer einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben "im Rahmen" dieses Konflikts ausgesetzt ist. Eine solche Gefahr lässt sich im Falle des Klägers nicht feststellen. [...]

Zur Abschätzung des sich ergebenden Gefahrengrads ist die Zahl der Opfer von Anschlägen in Bezug zu der Zahl der gesamten Bevölkerung des Irak zu setzen. Nach dem in der Ausarbeitung des Informationszentrums Asyl und Migration des Bundesamts zitierten Bericht der britischen Nichtregierungsorganisation Iraq Body Count, die seit dem Einmarsch der Koalitionsstreitkräfte in den Irak die Verluste unter der irakischen Zivilbevölkerung zählt, sind diese im Jahr 2009 auf den niedrigsten Stand seit 2003 gefallen. Im Jahr 2009 habe die Zahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei etwa 4.645 gelegen. Im Jahr 2008 habe die Zahl noch über 9.000 betragen. Das Informationszentrum Asyl und Migration zitiert ferner einen Bericht des amerikanischen Verteidigungsministeriums vom Juni 2009, in dem bezogen auf den Zeitraum März bis Mai 2009 eine durchschnittlichen Zahl der Todesopfer unter der Zivilbevölkerung von 9,2 pro Tag genannt wird. In einen späteren Bericht vom September 2009, der sich auf den Zeitraum Juni bis August 2009 beziehe, sei von durchschnittlich 204 Anschlägen pro Woche gegen die Zivilbevölkerung, die irakischen Sicherheitskräfte und die Koalitionstruppen die Rede, die damit um 19 % gegenüber dem vorangegangenen Berichtszeitraum zurückgegangen seien. Die Zahl der Toten unter der Zivilbevölkerung sei in diesem Zeitraum allerdings leicht auf 9,5 Tote pro Tag angestiegen (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 25.03.2010, aaO). In der Provinz Ninive (insgesamt ca. 2,8 Millionen Einwohner) mit der Hauptstadt Mosul (zweitgrößte Stadt des Iraks mit 1,7 Millionen Einwohnern) ist es nach der Ausarbeitung des Informationszentrums Asyl und Migration des Bundesamts im Jahr 2009 zu 845 Toten bei 474 Anschlägen gekommen sein, was auf 100.000 Einwohner bezogen 30,1 Tote bei 1,8 Toten je Vorfall bedeutet.

Danach kann nicht davon ausgegangen werden, dass der diesen Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht hat, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dieser Region einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt ist. Damit kann die Frage, ob ein innerstaatlicher oder internationaler Konflikt in der Provinz Ninive anzunehmen ist, offen bleiben. [...]