VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 19.01.2010 - 11 B 07.30210 - asyl.net: M17312
https://www.asyl.net/rsdb/M17312
Leitsatz:

Es kann dahinstehen, ob die Kläger ihren Heimatstaat als Vorverfolgte verlassen haben, da ihnen in der Russischen Föderation eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung steht. Die Registrierung bedarf zwar oftmals größerer Anstrengungen tschetschenischer Volkszugehöriger, sie ist aber bei gehörigen Bemühungen möglich. Soweit es einige Monate dauern sollte, bis die Kläger eine Registrierung erhalten, kann dieser Zeitraum durch Rückkehrhilfen nach dem REAG/GARP-Programm und durch Aushilfstätigkeiten überbrückt werden.

Schlagwörter: Asylverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Russische Föderation, Tschetschenien, Tschetschenen, Registrierung, interne Fluchtalternative,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die zulässige Berufung des Bundesbeauftragten ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat den Klägern zu Unrecht die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Darüber hinaus bestehen keine Abschiebungshindernisse. Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist deshalb aufzuheben und die Klage abzuweisen. [...]

Es kann jedoch dahinstehen, ob die Kläger - die Richtigkeit ihres Vorbringens unterstellt - ihren Heimatstaat als Vorverfolgte verlassen haben. Denn selbst wenn der herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab anzuwenden wäre, wären die Kläger im Falle ihrer Rückkehr in die Russische Föderation vor erneuter Verfolgung hinreichend sicher bzw. sprechen stichhaltige Gründe im Sinne von Art. 4 Abs. 2 QRL dagegen, dass sie erneut von solcher Verfolgung bedroht sein werden, weil für sie dort eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht. Denn sie könnten sich nach ihrer Wiedereinreise auch in anderen Teilen der Russischen Föderation als Tschetschenien niederlassen, weil sie dort vor asylrelevanten Übergriffen im Sinn von § 60 Abs. 1 AufenthG, Art. 9 ff. QRL hinreichend sicher sind. Dem Auswärtigen Amt liegen bisher keine gesicherten Erkenntnisse darüber vor, dass Russen mit tschetschenischer bzw. armenischer Volkszugehörigkeit nach ihrer Rückführung besonderen Repressionen ausgesetzt sind. So lange der Tschetschenienkonflikt nicht endgültig gelöst ist, ist allerdings davon auszugehen, dass abgeschobene Tschetschenen besondere Aufmerksamkeit durch russische Behörden erfahren. Dies gilt insbesondere für solche Personen, die sich gegen die gegenwärtigen Machthaber engagiert haben bzw. denen die russischen Behörden ein solches Engagement unterstellen, oder die im Verdacht stehen, einen fundamentalistischen Islam zu propagieren (Lagebericht vom 30.7.2009, S. 31).

Dass die russischen Sicherheitskräfte ein über die routinemäßige Überprüfung zurückkehrender Tschetschenen hinausgehendes Interesse an den Klägern haben könnten, ist jedoch nicht ersichtlich, zumal sich diese nach eigenen Angaben vor der Ausreise in keinster Weise exponiert haben.

Zur Legalisierung des Aufenthalts der Kläger an einem von ihnen grundsätzlich frei zu wählenden Aufenthaltsort bedarf es einer Registrierung. Die Registrierung ist Voraussetzung für den Zugang zur Sozialhilfe, zu staatlich geförderten Wohnungen, zum (prinzipiell) kostenlosen Gesundheitssystem, zum legalen Arbeitsmarkt sowie für den Bezug von Kindergeld und Rente (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes om 30.7.2009, S. 31; Memorial "Zur Lage der Bewohner Tschetscheniens in der Russischen Föderation" August 2006 bis Oktober 2007, S. 8/9). Zwar bedarf es oftmals größerer Anstrengungen tschetschenischer Volkszugehöriger, diese Registrierung außerhalb Tschetscheniens zu erreichen. Dies ist aber bei gehörigen Bemühungen möglich (vgl. im Einzelnen BayVGH vom 17.4.2008 a.a.O.). Soweit es einige Monate dauern sollte, bis die Kläger eine Registrierung erhalten, kann dieser Zeitraum durch Rückkehrhilfen nach dem REAG/GARP-Programm und durch Aushilfstätigkeiten überbrückt werden (vgl. BayVGH vom 31.1.2005 a.a.O.; vom 27.4.2008 a.a.O.; vom 16.6.2008 a.a.O.).

Auch unter Zugrundelegung der Maßstäbe des Art. 8 QRL, an denen die Zumutbarkeit einer inländischen Fluchtalternative nunmehr zu messen ist (BVerwG vom 1.2.2007 NVwZ 2007,590), ergibt sich nichts anderes. Von den Klägern kann vernünftigerweise verlangt werden, dass sie sich in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens aufhalten. Nach den eben beschriebenen dortigen allgemeinen Gegebenheiten besteht für die Kläger weder eine begründete Furcht vor Verfolgung noch die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden. Persönliche Umstände der Kläger, die insoweit ein anderes Ergebnis rechtfertigen würden, sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Insbesondere sind die beiden minderjährigen Kinder der Kläger zu 1 und 2 mit fünfzehn beziehungsweise zwölf Jahren in einem Alter, das eine erhöhte Rücksichtnahme im Verhältnis zu den oben geschilderten, Rückkehrern grundsätzlich zumutbaren Anstrengungen, nicht mehr erforderlich macht. [...]