Erfolgreiche Rüge eines Verfahrensmangels bei der Tatsachenfeststellung: Das Berufungsgericht hätte prüfen müssen, ob der Kläger über Vermögen verfügt, mit welchem er seine wirtschaftliche Existenzgrundlage bei einer Rückkehr nach Afghanistan sichern könnte. Das Urteil des VGH Hessen vom 25.1.2010 (asyl.net, M16618) wird aufgehoben und zurückverwiesen.
Verfehlt die Vorinstanz bei der Tatsachenfeststellung das Regelbeweismaß richterlicher Überzeugungsgewissheit, kann diese Verletzung des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO mit Erfolg als Verfahrensmangel gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO gerügt werden.
(Amtlicher Leitsatz)
[...]
Die Beschwerde ist mit der Rüge eines Verfahrensmangels (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zulässig und begründet. Sie beanstandet zu Recht die Verletzung des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO, denn das Berufungsgericht hat den tatsächlichen Feststellungen als Grundlage seiner Prognose nicht den Maßstab der Überzeugungsgewissheit zugrunde gelegt. Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung verweist der Senat die Sache daher gemäß § 133 Abs. 6 VwGO an das Berufungsgericht zurück.
1. Das Berufungsgericht geht bei der Prüfung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG davon aus, dass der Kläger nicht auf internen Schutz in einem anderen Teil seines Herkunftslandes Afghanistan gemäß § 60 Abs. 11 AufenthG i.V.m. Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG verwiesen werden könne. Im Bereich der Hauptstadt Kabul könnten auch jungen ledigen Männern im Falle ihrer zwangsweisen Rückführung sog. Extremgefahren drohen, wenn mangels ausreichender Schul- oder Berufsausbildung, Vermögens oder Grundbesitzes und insbesondere eines funktionierenden Netzwerks durch Familie oder Bekannte nicht sichergestellt sei, dass sie dort eine menschenwürdige Existenzgrundlage finden könnten. Davon müsse auch im Falle des nunmehr vierzigjährigen Klägers ausgegangen werden, der aus der ländlichen Region südlich Kabuls stamme. Der Kläger halte sich inzwischen fast acht Jahre in Deutschland auf, sei mit den Verhältnissen in der Hauptstadt Kabul nicht vertraut, habe keine Berufsausbildung erhalten, sondern lediglich in seinem ländlichen Bereich einen Lebensmittelladen geführt. Dort habe er "möglicherweise" noch Grundbesitz, den er für ein Überleben in Kabul aber "kaum" werde nutzen können (UA S. 19).
Im Hinblick darauf macht die Beschwerde als Verfahrensmangel i.S.d. § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO geltend, das Berufungsgericht habe § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO verletzt. Der Verwaltungsgerichtshof habe sich nicht die notwendige Überzeugungsgewissheit davon gebildet, dass der Kläger keine Vermögenswerte in Afghanistan besitze, die er außerhalb seines Herkunftsortes nutzen könne. Auf dieser verfahrensfehlerhaft getroffenen Feststellung beruhe die angefochtene Entscheidung. [...]
Diese Fallvarianten aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zeigen, dass die Rüge eines Verstoßes gegen § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO im Rahmen der Sachverhalts- und Beweiswürdigung ausnahmsweise dann als Verfahrensmangel i.S.d. § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO angesprochen werden kann, wenn der gerügte Fehler sich hinreichend eindeutig von der materiellrechtlichen Subsumtion, d.h. der korrekten Anwendung des sachlichen Rechts abgrenzen lässt. Im Übrigen ist zu berücksichtigen, dass die Sachverhalts- und Beweiswürdigung dem Tatrichter obliegt. Daher liegt ein Verfahrensmangel bei der Beweiswürdigung nur dann vor, wenn der Tatrichter den ihm bei der Tatsachenfeststellung durch den Grundsatz freier Beweiswürdigung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO eröffneten Wertungsrahmen verlassen hat. Das ist u.a. dann der Fall, wenn er eine schlechthin unmögliche Schlussfolgerung gezogen hat oder von einer Annahme ausgegangen ist, die in zweifelsfreiem Widerspruch zum eindeutigen Akteninhalt steht, der keine unterschiedliche Würdigung zulässt.
3. Diesen Einschränkungen, unter denen ein Angriff gegen die Beweiswürdigung der Vorinstanz mit Erfolg als Verfahrensmangel gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO geltend gemacht werden kann, wird auch die hier vorliegende Rüge der Verfehlung des von § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO vorausgesetzten Regelbeweismaßes gerecht. Denn das Berufungsgericht ist nicht etwa davon ausgegangen, dass § 60 Abs. 11 AufenthG i.V.m. Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG hinsichtlich der Sicherung des Existenzminimums nur ein abgesenktes Beweismaß verlangt. Vielmehr hat es seiner Prognose im Ansatz - unausgesprochen - den Maßstab der Überzeugungsgewissheit gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO zugrunde gelegt. Greift die Beschwerde darauf aufbauend die konkrete Beweiswürdigung bei Stellung der Prognose als Element der Tatsachenfeststellung an, lässt sich dieser Mangel von der korrekten Anwendung der materiellrechtlichen Vorschrift des § 60 Abs. 11 AufenthG i.V.m. Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG abschichten und kann daher Gegenstand einer Verfahrensrüge sein.
Die Verfahrensrüge ist auch begründet. Die Würdigung des Berufungsgerichts zu der Frage, ob am Ort des internen Schutzes zumindest das Existenzminimum des Kläger gesichert ist, bringt hinsichtlich des Besitzes bzw. der Verwertbarkeit von Grundbesitz nur die Möglichkeit zum Ausdruck, dass es sich so wie von ihm beschrieben verhalten könnte. Es handelt sich auch nicht nur um missverständliche Formulierungen des Berufungsgerichts, denn möglich ist nach seinen "Feststellungen" auch der gegenteilige Sachverhalt. Für die gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO erforderliche richterliche Überzeugungsgewissheit von der Richtigkeit der tatsächlichen Grundlagen sowie der darauf aufbauenden Prognose reicht das nicht aus (Urteile vom 15. Mai 1990 - BVerwG 9 C 17.89 - BVerwGE 85, 139 147 f.> und vom 20. November 1990 - BVerwG 9 C 72.90 - BVerwGE 87, 141 151>). Verfehlt der Tatrichter das durch § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO vorgegebene Beweismaß, hat er den ihm durch das Prozessrecht eröffneten Spielraum bei der Tatsachenwürdigung verlassen. Auf diesem Mangel beruht die angefochtene Entscheidung, da nach der eigenen Annahme des Berufungsgerichts die Frage mangelnden Vermögens oder Grundbesitzes bzw. der Verwertbarkeit des Grundbesitzes für das Bestehen oder Fehlen internen Schutzes entscheidungserheblich ist (UA S. 19).
4. Der Senat verweist die Sache im Interesse der Verfahrensbeschleunigung nach § 133 Abs. 6 VwGO unter Aufhebung der Berufungsentscheidung an das Berufungsgericht zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurück. Auf das weitere Vorbringen der Beschwerde kommt es daher nicht mehr an. Für die weitere Sachbehandlung ist jedoch anzumerken, dass das Berufungsgericht bei der Prüfung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib und Leben im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG die Anforderungen zu beachten hat, die im Urteil des Senats vom 27. April 2010 - BVerwG 10 C 4.09 - Rn. 33 (zur Veröffentlichung in der Sammlung BVerwGE vorgesehen) näher beschrieben sind. Danach ist eine jedenfalls annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib und Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, sowie eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Zahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung erforderlich. Insoweit können auch die für die Feststellung einer Gruppenverfolgung im Bereich des Flüchtlingsrechts entwickelten Kriterien entsprechend herangezogen werden. [...]