VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Beschluss vom 02.03.2010 - 15 AE 44/10 - asyl.net: M17319
https://www.asyl.net/rsdb/M17319
Leitsatz:

Keine vorläufige Aussetzung einer Dublin-Überstellung in die Tschechische Republik.

1. Kein Selbsteintritt durch Anhörung in Deutschland.

2. Kein Nachweis für die lediglich pauschale Behauptung, die Anhörung im tschechischen Asylverfahren habe lediglich fünfzehn Minuten gedauert und die Tschechische Republik verstoße gegen das non-refoulement-Gebot, da kein ordentliches Asylverfahren durchgeführt werde und Asylbewerber nach der Praxis tschechischer Behörden innerhalb eines Monats in das Herkunftsland abgeschoben würden.

3. Für die Prüfung inlandsbezogener Abschiebungshindernisse ist die mit dem Vollzug der Abschiebung befasste Ausländerbehörde zuständig.

4. Die Anwendung des § 34a Abs. 2 AsylVfG verstößt nicht gegen europäisches Recht.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, Tschechische Republik, Zustellung, Bekanntgabe, Rechtsweggarantie, Selbsteintritt, sichere Drittstaaten, Anhörung, inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis, Zuständigkeit, Ausländerbehörde
Normen: AsylVfG § 31 Abs. 1 S. 4, VwVfG § 43 Abs. 1, VwVfG § 41, AsylVfG § 27a, VwZG § 7 Abs. 1, VwGO § 123 Abs. 1, GG Art. 19 Abs. 4, AsylVfG § 34a, AsylVfG § 26a, VO 343/2003 Art. 17 Abs. 1, VO 343/2003 Art. 16 Abs. 1 Bst. e, VO 343/2003 Art. 20 Abs. 1, VO 343/2003 Art. 3 Abs. 2
Auszüge:

[...]

b) Dem Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO steht indes § 34 a Abs. 2 AsylVfG entgegen. [...]

aa) Die Tschechische Republik, in die der Antragsteller vor seiner illegalen Einreise in die Bundesrepublik Deutschland im September 2009 nach eigenen Angaben Anfang 2008 mit dem Flugzeug von Istanbul aus eingereist ist und einen Asylantrag stellte, ist als Mitgliedsstaat der Europäischen Union gemäß § 26a Abs. 2 AsylVfG ein sicherer Drittstaat im Sinne von § 26a Abs. 1 AsylVfG.

bb) Sie ist zudem der zur Prüfung des Asylantrags des Antragstellers zuständige Staat im Sinne von § 27a AsylVfG nach der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18.02.2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABI. L 50 v. 25.02.2003) - Dublin II-VO. [...]

Die Antragsgegnerin hat auch nicht von ihrem Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO Gebrauch gemacht. Der Bescheidsentwurf vom 21.01.2010 enthält vielmehr eine ausdrückliche Ablehnung des Selbsteintritts, da außergewöhnliche humanitäre Gründe hierfür nicht ersichtlich seien. Entgegen der Auffassung des Antragstellers kann in der Durchführung der asylverfahrensrechtlichen Anhörung vom 16.11.2009 noch kein Selbsteintritt nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO erblickt werden, denn sie dient lediglich der Vorbereitung einer solchen Entscheidung (vgl. VG Ansbach, Beschl. v. 23.11.2009, AN 16 E 09.30412, juris, Rn. 19). [...]

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG, Urt. v. 14.05.1996, 2 BvR 1938/93, 2. BvR 2315/93, juris, Rn. 189) sind Ausnahmen von dem im Grundsatz verfassungsgemäßen sog. Konzept der normativen Vergewisserung, das Art. 16a Abs. 2 GG und §§ 26a, 27a, 34a AsylVfG zugrunde liegt, in Fällen geboten, die von diesem Konzept von vornherein nicht erfasst werden. Allgemein gefasst besteht eine solche Ausnahmesituation, wenn in dem sicheren Drittstaat bzw. dem nach der Dublin II-VO zuständigen Staat nicht mehr die Kernanforderungen erfüllt werden, die sich aus der Genfer Flüchtlingskonvention vom 28.07.1951 (BGBl. 1953 II S. 560) - GFK - und der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 04.11.1950 (BGBl. 1952 II S. 953) - EMRK - bzw. innerhalb der Europäischen Union der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 01.12.2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie der Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27.01.2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten ergeben (vgl. zur derzeitigen Situation in Griechenland BVerfG, Beschl. v. 08.09.2009, 2 BvQ 56/09, juris; Beschl. v. 22.12.2009, 2 BvR 2879/09, juris; aus der mittlerweile sehr umfangreichen fachgerichtlichen Rechtsprechung vgl. statt vieler m. w. N. VG Düsseldorf, Beschl. v. 06.11.2008, 13 L 1645/08.A, juris; VG Hamburg, Beschl. 04.02.2009, 8 AE 26/09). [...]. An die Darlegung solcher Ausnahmefälle sind strenge Anforderungen zu stellen. So muss sich auf Grund bestimmter Tatsachen aufdrängen, dass der Ausländer von einer der genannten Ausnahmesituationen betroffen ist (vgl. BVerfG, a.a.O., Rn. 190).

Im vorliegenden Fall hat der Antragsteller eine solche Sondersituation nicht glaubhaft gemacht. Er hat insbesondere nicht substantiiert dargelegt noch ist es sonst ersichtlich, dass das Asylverfahren in der Tschechischen Republik dem oben dargelegten Standard im Kern nicht mehr genügt. Sein nicht weiter ausgeführter Vortrag, die Anhörung zu seinen Fluchtgründen im tschechischen Asylverfahren habe lediglich fünfzehn Minuten betragen, reicht hierfür ebenso wenig aus wie die pauschale Behauptung, die Tschechische Republik verstoße gegen das non-refoulement-Gebot, es werde kein ordentliches Asylverfahren durchgeführt und Asylbewerber würden nach der Praxis der tschechischen Behörden innerhalb eines Monats in das Herkunftsland abgeschoben. Der letzteren Behauptung widerspricht im Übrigen, dass sich der Antragsteller nach seinen eigenen Angaben in der Anhörung durch die Antragsgegnerin vom 16.11.2009 (vgl. Bl. 39 f. der Asylakte) in der Tschechischen Republik nach seiner Asylantragstellung Anfang 2008 mit Wissen der tschechischen Behörden mehr als eineinhalb Jahre aufhielt, bis er sich im September 2009 zu seiner illegalen Einreise in das Bundesgebiet entschloss. [...]

dd) Zuletzt verstößt die Anwendung des § 34a Abs. 2 AsylVfG auch nicht gegen europäisches Recht.

Insbesondere stehen Art. 19 Abs. 2 Sätze 3 und 4, 20 Abs. 1 lit e Sätze 4 und 5 Dublin II- VO dem durch § 34a Abs. 2 AsylVfG vorgeschriebenen Ausschluss des Eilrechtsschutzes nicht entgegen (anders VG Frankfurt, Beschl. v. 06.02.2009, 7 L 4072/08.F.A. [V], juris Rn. 2 f.). Danach kann gegen die Überstellungsentscheidung ein Rechtsbehelf eingelegt werden, der jedoch keine aufschiebende Wirkung für die Durchführung der Überstellung hat, es sei denn, die Gerichte oder zuständigen Stellen entscheiden im Einzelfall nach Maßgabe ihres innerstaatlichen Rechts anders, wenn es nach ihrem innerstaatlichen Recht zulässig ist. Daraus ergibt sich indes lediglich die Möglichkeit, nach nationalem Recht vorläufigen fachgerichtlichen Rechtsschutz gegen Überstellungen an den zuständigen Mitgliedstaat zu gewähren - eine entsprechende Pflicht hierzu wird jedoch bereits dem Wortlaut nach nicht begründet (vgl. EuGH, Urt. v. 29.01.2009, C-19/08, Rs. Petrosian, juris Rn. 37 ff. [insbesondere Rn. 49], der in seiner Begründung auch lediglich von einer Option der Mitgliedstaaten ausgeht; vgl. ferner VGH Kassel, Beschl. v. 31.08.2006, 9 UE 1464/06.A, juris, Rn. 35). Das deutsche Recht sieht diese durch die Dublin II-VO eingeräumte Möglichkeit jedoch nicht vor. [...]