EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 22.06.2010 - Melki und Abdeli - C-188/10; C-189/10 - asyl.net: M17328
https://www.asyl.net/rsdb/M17328
Leitsatz:

Die Mitgliedstaaten der EU, die dem sog. Schengen-Acquis angehören, dürfen auch nach dem Wegfall von Grenzkontrollen in einer grenznahen Zone von 20 Kilometern Personenkontrollen durchführen. Solche polizeilichen Identitätskontrollen sind nach dem Unionsrecht jedoch unzulässig, soweit sie jede Person betreffen, unabhängig von deren Verhalten und vom Vorliegen besonderer Umstände, aus denen sich eine Gefahr für die öffentliche Ordnung ergibt, wenn keine gesetzliche (nationale) Regelung sicherstellt, dass die tatsächliche Ausübung solcher Kontrollen nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben (Art. 67 Abs. 2, 20 und 21 AEUV).

Schlagwörter: Vorabentscheidungsverfahren, Frankreich, Schengener Durchführungsübereinkommen, Inhaftierung, Identitätsfeststellung, Freizügigkeit, Binnengrenze, versteckte Grenzkontrollen, Grenzübertrittskontrollen, öffentliche Ordnung, Ermessen
Normen: AEUV Art. 67, AEUV Art. 267, VO 562/2006 Art. 20, VO 562/2006 Art. 21, VO 562/2006 Art. 2 Nr. 10
Auszüge:

[...]

16 Herr Melki und Herr Abdeli, illegal in Frankreich aufhältige algerische Staatsangehörige, wurden gemäß Art. 78-2 Abs. 4 der Strafprozessordnung in dem Gebiet zwischen der Landgrenze von Frankreich zu Belgien und einer diesseits im Abstand von 20 km zu ihr gezogenen Linie Polizeikontrollen unterzogen. Am 23. März 2010 ergingen gegen sie Abschiebungsverfügungen des Präfekten und Entscheidungen, mit denen ihre Inhaftierung angeordnet wurde. [...]

19 Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts machen Herr Melki und Herr Abdeli geltend, dass Art. 78-2 Abs. 4 der Strafprozessordnung verfassungswidrig sei, weil die Verpflichtungen der Französischen Republik aus dem Vertrag von Lissabon nach Art. 88-1 der Verfassung Verfassungsrang genössen, und dass die genannte Bestimmung der Strafprozessordnung, wonach Kontrollen an den Grenzen zu anderen Mitgliedstaaten zulässig seien, gegen den Grundsatz der Freizügigkeit gemäß Art. 67 Abs. 2 AEUV verstoße, wonach die Europäische Union sicherstelle, dass Personen an den Binnengrenzen nicht kontrolliert würden. [...]

Zur zweiten Frage

58 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 67 AEUV einer nationalen Regelung entgegensteht, die den Polizeibehörden erlaubt, in einem Gebiet mit einer Tiefe von 20 km entlang der Landgrenze des betreffenden Mitgliedstaats zu den Vertragsstaaten des SDÜ die Identität jeder Person zu kontrollieren, um zu überprüfen, ob der Betreffende die gesetzlichen Verpflichtungen in Bezug auf den Besitz, das Mitführen und das Vorzeigen von Urkunden und Bescheinigungen einhält. [...]

61 Die deutsche, die griechische, die niederländische und die slowakische Regierung schlagen ebenfalls vor, die zweite Frage zu verneinen, und betonen dabei, dass auch nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon nichtsystematische Polizeikontrollen in den Grenzgebieten unter Beachtung der Voraussetzungen des Art. 21 der Verordnung Nr. 562/2006 möglich seien. Die genannten Regierungen machen insbesondere geltend, dass die Identitätskontrollen in diesen Gebieten, die in der in den Ausgangsverfahren fraglichen nationalen Regelung vorgesehen seien, sich nach Zweck, Inhalt, Art der Durchführung und Folgen von den Grenzkontrollen im Sinne von Art. 20 der Verordnung Nr. 562/2006 unterschieden. Die betreffenden Kontrollen könnten nach Art. 21 Buchst. a oder c der Verordnung zugelassen werden.

62 Die tschechische Regierung und die Kommission sind hingegen der Ansicht, dass die Art. 20 und 21 der Verordnung Nr. 562/2006 einer nationalen Regelung wie der in den Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen. Die in dieser Regelung vorgesehenen Kontrollen seien versteckte Grenzkontrollen, die nicht nach Art. 21 der Verordnung Nr. 562/2006 zugelassen werden könnten, weil sie nur in den Grenzgebieten erlaubt seien und lediglich voraussetzten, dass sich die kontrollierte Person in einem dieser Gebiete befinde.

Antwort des Gerichtshofs [...]

66 Der Gemeinschaftsgesetzgeber hat den Grundsatz, dass an den Binnengrenzen keine Kontrollen erfolgen, umgesetzt, indem er gemäß Art. 62 EG die Verordnung Nr. 562/2006 erlassen hat, die nach ihrem 22. Erwägungsgrund den Schengen-Besitzstand ergänzt. Titel III der Verordnung enthält eine gemeinschaftliche Regelung bezüglich des Überschreitens der Binnengrenzen, die zum 13. Oktober 2006 Art. 2 SDÜ ersetzt hat. Die Anwendbarkeit dieser Verordnung ist durch das Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon nicht berührt worden. Das diesem Vertrag beigefügte Protokoll Nr. 19 sieht nämlich ausdrücklich vor, dass der Schengen-Besitzstand anwendbar bleibt.

67 Nach Art. 20 der Verordnung Nr. 562/2006 dürfen die Binnengrenzen unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Personen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden. Nach Art. 2 Nr. 10 der Verordnung bezeichnet der Ausdruck "Grenzübertrittskontrollen" die Kontrollen, die an den Grenzübergangsstellen erfolgen, um festzustellen, ob die betreffenden Personen in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einreisen oder aus dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten ausreisen dürfen.

68 Die in Art. 78-2 Abs. 4 der Strafprozessordnung vorgesehenen Kontrollen erfolgen nicht an den Grenzen, sondern innerhalb des nationalen Hoheitsgebiets und unabhängig vom Überschreiten der Grenze durch die kontrollierte Person. Insbesondere werden sie nicht in dem Moment durchgeführt, in dem die Grenze überschritten wird. Die betreffenden Kontrollen sind daher keine nach Art. 20 der Verordnung Nr. 562/2006 untersagten Grenzübertrittskontrollen, sondern Kontrollen innerhalb des Hoheitsgebiets eines Mitgliedstaats, die unter Art. 21 der Verordnung fallen.

69 Nach Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006 berührt die Abschaffung der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen nicht die Ausübung der polizeilichen Befugnisse durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten nach Maßgabe des nationalen Rechts, sofern die Ausübung solcher Befugnisse nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen hat; dies gilt auch in Grenzgebieten. Kontrollen innerhalb des Hoheitsgebiets eines Mitgliedstaats sind somit nach Art. 21 Buchst. a nur dann untersagt, wenn sie die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben.

70 Nach Art. 21 Buchst. a Satz 2 der Verordnung Nr. 526/2006 darf die Ausübung der polizeilichen Befugnisse insbesondere nicht der Durchführung von Grenzübertrittskontrollen gleichgestellt werden, wenn die polizeilichen Maßnahmen keine Grenzkontrollen zum Ziel haben, auf allgemeinen polizeilichen Informationen und Erfahrungen in Bezug auf mögliche Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit beruhen und insbesondere auf die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität abzielen, in einer Weise konzipiert sind und durchgeführt werden, die sich eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen unterscheidet, und auf der Grundlage von Stichproben durchgeführt werden.

71 Zu der Frage, ob die Ausübung der durch Art. 78-2 Abs. 4 der Strafprozessordnung eingeräumten Kontrollbefugnisse die gleiche Wirkung hat wie Grenzübertrittskontrollen, ist erstens festzustellen, dass die in dieser Bestimmung vorgesehenen Kontrollen nicht dasselbe Ziel haben wie die Grenzkontrollen im Sinne der Verordnung Nr. 562/2006. Durch die letztgenannten Kontrollen soll nach Art. 2 Nrn. 9 bis 11 der Verordnung zum einen festgestellt werden, ob die betreffenden Personen in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats einreisen oder aus dem Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats ausreisen dürfen, und zum anderen vermieden werden, dass Personen die Grenzübertrittskontrollen umgehen. Die nationale Bestimmung betrifft hingegen die Überprüfung der Einhaltung der gesetzlichen Verpflichtungen in Bezug auf den Besitz, das Mitführen und das Vorzeigen von Urkunden und Bescheinigungen. Die den Mitgliedstaaten eingeräumte Möglichkeit, derartige Verpflichtungen in ihren Rechtsvorschriften vorzusehen, wird nach Art. 21 Buchst. c der Verordnung Nr. 562/2006 durch die Abschaffung der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen nicht berührt.

72 Zweitens genügt der bloße Umstand, dass der räumliche Geltungsbereich der durch die in den Ausgangsverfahren fragliche nationale Bestimmung eingeräumten Befugnis auf ein Grenzgebiet beschränkt ist, angesichts von Wortlaut und Ziel des Art. 21 der Verordnung Nr. 562/2006 nicht, um festzustellen, dass die Ausübung dieser Befugnis eine gleiche Wirkung im Sinne von Art. 21 Buchst. a hat. In Bezug auf die Kontrollen in Zügen, die eine internationale Streckenverbindung bedienen, sowie auf gebührenpflichtigen Autobahnen sieht die in den Ausgangsverfahren fragliche nationale Bestimmung jedoch Sonderregeln für ihren räumlichen Geltungsbereich vor, was wiederum ein Indiz für eine solche gleiche Wirkung sein könnte.

73 Art. 78-2 Abs. 4 der Strafprozessordnung, der Kontrollen unabhängig vom Verhalten der betreffenden Person und vom Vorliegen besonderer Umstände, aus denen sich die Gefahr einer Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung ergibt, erlaubt, enthält zudem insbesondere hinsichtlich der Intensität und der Häufigkeit der auf dieser Rechtsgrundlage möglichen Kontrollen weder genauere Regelungen noch Einschränkungen der solchermaßen eingeräumten Befugnis, die verhindern sollen, dass die tatsächliche Handhabung der Befugnis durch die zuständigen Behörden zu Kontrollen führt, die im Sinne von Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006 die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben.

74 Um den im Licht des Erfordernisses der Rechtssicherheit ausgelegten Art. 20 und 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006 zu genügen, muss eine nationale Regelung, die den Polizeibehörden eine Befugnis zur Durchführung von Identitätskontrollen einräumt, die zum einen auf das Gebiet an der Grenze des Mitgliedstaats zu anderen Mitgliedstaaten beschränkt ist und zum anderen unabhängig vom Verhalten der kontrollierten Person und vom Vorliegen besonderer Umstände, aus denen sich die Gefahr einer Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung ergibt, besteht, den erforderlichen Rahmen für die diesen Behörden eingeräumte Befugnis vorgeben, um insbesondere das Ermessen zu lenken, über das sie bei der tatsächlichen Handhabung der Befugnis verfügen. Dieser Rahmen muss gewährleisten, dass die tatsächliche Ausübung der Befugnis zur Durchführung von Identitätskontrollen nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben kann, wie insbesondere aus den in Art. 21 Buchst. a Satz 2 der Verordnung Nr. 562/2006 genannten Umständen hervorgeht.

75 Auf die zweite Frage ist daher zu antworten, dass Art. 67 Abs. 2 AEUV sowie die Art. 20 und 21 der Verordnung Nr. 562/2006 einer nationalen Regelung entgegenstehen, die den Polizeibehörden des betreffenden Mitgliedstaats die Befugnis einräumt, in einem Gebiet mit einer Tiefe von 20 km entlang der Landgrenze dieses Staates zu den Vertragsstaaten des SDÜ die Identität jeder Person unabhängig von deren Verhalten und vom Vorliegen besonderer Umstände, aus denen sich die Gefahr einer Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung ergibt, zu kontrollieren, um die Einhaltung der gesetzlichen Verpflichtungen in Bezug auf den Besitz, das Mitführen und das Vorzeigen von Urkunden und Bescheinigungen zu überprüfen, ohne dass diese Regelung den erforderlichen Rahmen für diese Befugnis vorgibt, der gewährleistet, dass die tatsächliche Ausübung der Befugnis nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben kann. [...]

2. Art. 67 Abs. 2 AEUV sowie die Art. 20 und 21 der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) stehen einer nationalen Regelung entgegen, die den Polizeibehörden des betreffenden Mitgliedstaats die Befugnis einräumt, in einem Gebiet mit einer Tiefe von 20 km entlang der Landgrenze dieses Staates zu den Vertragsstaaten des am 19. Juni 1990 in Schengen (Luxemburg) unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen die Identität jeder Person unabhängig von deren Verhalten und vom Vorliegen besonderer Umstände, aus denen sich die Gefahr einer Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung ergibt, zu kontrollieren, um die Einhaltung der gesetzlichen Verpflichtungen in Bezug auf den Besitz, das Mitführen und das Vorzeigen von Urkunden und Bescheinigungen zu überprüfen, ohne dass diese Regelung den erforderlichen Rahmen für diese Befugnis vorgibt, der gewährleistet, dass die tatsächliche Ausübung der Befugnis nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben kann.