VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 27.05.2010 - 10 K 264/09 - asyl.net: M17335
https://www.asyl.net/rsdb/M17335
Leitsatz:

Das Vorliegen der Voraussetzungen für eine zwingende Ausweisung nach § 53 AufenthG entbindet nicht davon, auch die Umstände des Einzelfalls zu prüfen, da nur diese Prüfung sicherstellen kann, dass die Verhältnismäßigkeit bezogen auf die Lebenssituation des betroffenen Ausländers gewahrt bleibt.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Ausweisung, zwingende Ausweisung, Verhältnismäßigkeit, Achtung des Privatlebens, Achtung des Familienlebens, Achtung des Privat- und Familienlebens, Straftat, Irak, Wiederholungsgefahr,
Normen: AufenthG § 53, EMRK Art. 8 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Die auf Dauer ausgesprochene Ausweisung des Klägers erweist sich nach der für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Ausweisung generell maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts (vgl. BVerwG, Urteile vom 03.12.2008, 1 C 35.07, NVwZ 2009, 326, und vom 15.11.2007, 1 C 45.06, BVerwGE 130, 20) als frei von Rechtsfehlern.

Nach § 53 Nr. 1 AufenthG wird ein Ausländer ausgewiesen, wenn er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist oder wegen vorsätzlicher Straftaten innerhalb von fünf Jahren zu mehreren Freiheits- oder Jugendstrafen von zusammen mindestens drei Jahren rechtskräftig verurteilt oder bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet worden ist.

Die Voraussetzungen dieses Ausweisungstatbestandes hat der Kläger erfüllt. Mit Urteil des Landgerichts A-Stadt vom 01.10.2007 wurde er wegen Vergewaltigung seiner Ehefrau zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Da dem Kläger, was zwischen den Beteiligten auch nicht im Streit steht, kein besonderer Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis Nr. 5 AufenthG zusteht, war seine Ausweisung mithin zwingend zu verfügen. Ein Ermessen war dem Beklagten als Ausländerbehörde nicht eingeräumt.

In der Person des Klägers liegen auch keine Gründe vor, die die Ausweisung im Hinblick auf das in Art. 8 Abs. 1 EMRK verbürgte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens als unverhältnismäßig erscheinen ließen.

Die Ausweisungsvorschriften der §§ 53 ff. AufenthG sind sowohl mit den Gewährleistungen des Grundgesetzes als auch der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 04.11.1950 – EMRK – vereinbar. Das geltende Ausländerrecht trägt mit seinem System der Abstufung von zwingender Ausweisung, Regel- und Ermessensausweisung (vgl. §§ 53, 54 und 55 AufenthG) sowie des besonderen Ausweisungsschutzes für bestimmte Ausländer (vgl. § 56 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG) den Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit von Ausweisungen grundsätzlich in ausreichender Weise Rechnung (vgl. dazu auch BVerfG, Beschluss vom 10.08.2007, 2 BvR 535/06, NVwZ 2007, 1300).

Die Anwendung des Stufensystems der §§ 53 ff. AufenthG entbindet aber nicht davon, im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auch die Umstände des Einzelfalls zu prüfen, da nur diese Prüfung sicherstellen kann, dass die Verhältnismäßigkeit bezogen auf die Lebenssituation des betroffenen Ausländers gewahrt bleibt. Die Maßstäbe, die für die Prüfung der Rechtfertigung eines Eingriffs in Art. 8 Abs. 1 EMRK gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK gelten (vgl. dazu EuGH, Urteil vom 22.03.2007, 1638/03, Maslov, InfAuslR 2007, 221; ferner BVerwG, Urteil vom 23.10.2007, 1 C 10.07, DÖV 2008, 329), sind auch hier heranzuziehen. Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit sind dabei insbesondere die konkreten Umstände, welche von typisierenden Bestimmungen – wie es die gesetzlich ausgeformten Ausweisungstatbestände zwangsläufig sein müssen – nicht oder nur unzureichend erfasst werden, zu würdigen (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 10.08.2007, 2 BvR 535/06, a. a. O.; ferner OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 26.05.2009, 18 E 1230/08, AuAS 2009, 184).

Der vorliegende Fall weist indes keine Besonderheiten auf, die mit Blick auf das nach Art. 8 Abs. 1 und Abs. 2 EMRK geschützte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens ein Abweichen von der gesetzlichen Regelung des § 53 Nr. 1 AufenthG gebieten würden.

Allein der Hinweis des Klägers darauf, dass er keine sonstigen Vorstrafen aufweise und damit zu rechnen sei, dass er zukünftig ein straffreies Leben führen werde, ist angesichts des konkreten Ausweisungsgrundes nicht geeignet, seine Ausweisung im Rahmen einer Einzelfallprüfung als unverhältnismäßigen Eingriff im Verständnis von Art. 8 EMRK erscheinen zu lassen. Dem von ihm selbst vorgelegten, vom Landgericht A-Stadt zur Frage der Schuldfähigkeit des Klägers sowie der Prognose im Sinne des § 63 StGB eingeholten psychiatrischen Gutachten des Instituts für Gerichtliche Psychologie und Psychiatrie der Universität des Saarlandes vom 07.09.2007 ist zu entnehmen, dass ein Rückfallrisiko vorrangig von der prinzipiell anzunehmenden Fähigkeit des Klägers abhängt, mit den subjektiv schweren Kränkungen adäquat umzugehen und diese entsprechend zu verarbeiten. Dabei wird in dem Gutachten ausdrücklich hervorgehoben, dass, sofern dies nicht gelingt, sich die Gefahr einer Wiederholung einschlägiger Delikte insbesondere vor dem Hintergrund der fehlenden sozialen Bezüge und der schwierigen sozialen Situation des Klägers als nicht unerheblich darstellt. Dass entgegen der zum Ausdruck gebrachten Auffassung des Klägers eine Wiederholungsgefahr gerade nicht ausgeschlossen werden kann, findet seine Bestätigung in der Stellungsnahme der Leiterin der Justizvollzugsanstalt A-Stadt vom 17.09.2009. Darin wird unter Hinweis auf ein weiteres Gutachten des Instituts für Gerichtliche Psychologie und Psychiatrie der Universität des Saarlandes vom 03.03.2009 dargelegt, dass der Kläger weiterhin seine Tat leugne und diese bagatellisiere. Bei dem Kläger, der eine erhöhte Kränkbarkeit aufweise, sei eine kritische Auseinandersetzung mit seinen Taten, eine Aufarbeitung der Delinquenz sowie eine therapeutische Bearbeitung seiner Persönlichkeit auch nicht in Ansätzen zu erkennen, so dass von einer weiterhin ungünstigen Legalprognose ausgegangen werden müsse. Die Problematik mit der getrennt lebenden Ehefrau beschäftige ihn weiter. Diese sei als gefährdete Person einzustufen, zumal es keine Hinweise gebe, dass der Kläger Abstand von seiner spezifischen soziokulturellen Wertehaltung gewinnen wolle, er vielmehr auf seinem patriarchalischen Standpunkt beharre. Ausreichende Bemühungen des Klägers, einer Rückfälligkeit durch eine therapeutische Aufarbeitung der bestehenden Problematik vorzubeugen, sind ausweislich der vorgenannten Stellungnahme der Leiterin der Justizvollzugsanstalt A-Stadt nicht erkennbar geworden. Vielmehr hat der Kläger nach Einschätzung des Psychologischen Dienstes keine wirkliche Therapiemotivation gezeigt. Dementsprechend hat auch das Landgericht A-Stadt ausweislich seines Beschlusses vom 11.11.2009, II StVK 881/09, keine begründeten Anknüpfungspunkte gesehen, um von der nach vollständiger Verbüßung der gegen den Kläger verhängten Freiheitsstrafe von drei Jahren gemäß § 68 f Abs. 1 StGB kraft Gesetzes eingetretenen Führungsaufsicht abzusehen, sondern hat ausdrücklich hervorgehoben, dass aufgrund der gegebenen Umstände nicht davon ausgegangen werden könne, dass der Kläger auch ohne Führungsaufsicht keine Straftaten mehr begehen werde.

Der Kläger wird durch die Ausweisung auch hinsichtlich seiner familiären Beziehungen im Bundesgebiet nicht in außergewöhnlich schwerer Weise betroffen. Dass insbesondere die beiden noch minderjährigen Kinder des Klägers in besonderer Weise auf seinen erzieherischen oder emotionalen Beistand angewiesen wären, ist weder dargetan noch ansonsten erkennbar. Im Gegenteil besitzt die geschiedene Ehefrau des Klägers ausweislich des Urteils des Amtsgerichts A-Stadt – Familiengericht – vom 13.02.2007 (Bl. 172 Verwaltungsakte) das alleinige Sorgerecht für die beiden gemeinsamen noch minderjährigen Kinder, und wurde selbst der Umgang des Klägers mit diesen Kindern bis zum 28.02.2009, mithin über einen Zeitraum von zwei Jahren ausgeschlossen. Auch angesichts des Umstandes, dass sich die Straftat des Klägers im häuslichen Bereich abgespielt und der Kläger seine Kinder ersichtlich in die Vorbereitungshandlungen zur Begehung der von ihm verübten Straftat einbezogen hat, gebieten es daher die Belange des Kindeswohls im konkreten Fall ersichtlich nicht, dem Kläger den weiteren Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland zu ermöglichen.

Der Kläger ist des Weiteren auch nicht zu einem in Deutschland außergewöhnlich integrierten und seinem Herkunftsland völlig entfremdeten "faktischen Inländer" geworden. Die geringe soziale wie wirtschaftliche Integration des Klägers in Deutschland spricht vielmehr mit Gewicht dagegen, dass er sich "aufgrund seiner gesamten Entwicklung" derart in Deutschland eingerichtet hat, dass ihm "wegen der Besonderheiten des Falles" ein Leben im Irak nicht mehr zuzumuten ist (zu diesen Anforderungen vgl. etwa OVG des Saarlandes, Beschlüsse vom 13.11.2009, 2 A 247/09, vom 09.04.2009, 2 B 318/09, und vom 08.08.2008, 2 B 265/08, m.w.N.).

Der Kläger ist erst im Jahr 2002 im Alter von 42 Jahren in das Bundesgebiet eingereist und hat, nachdem sein Asylverfahren erfolglos abgeschlossen wurde, keinen gesicherten Aufenthaltsstatus. Zudem verfügt der Kläger offenbar weder über einen sicheren Arbeitsplatz noch über ausreichende Mittel für die Sicherung seines Lebensunterhaltes. Von einer "Entwurzelung" hinsichtlich des Iraks und einer gelungenen Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse kann daher keine Rede sein. [...]

Letztlich begegnet die Ausweisung des Klägers auch nicht deshalb rechtlichen Bedenken, weil sie ohne Befristung verfügt worden ist. Angesichts der Schwere der vom Kläger begangenen Straftat, der von ihm auch weiterhin ausgehenden Gefährdung sowie der Bedeutung der betroffenen Rechtsgüter war es auch unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bisher nicht geboten, die Ausweisung zeitlich zu befristen (vgl. dazu BVerwG, Urteile vom 02.09.2009, 1 C 2.09, NVwZ 2010, 389 und vom 15.03.2005, 1 C 2.04, AuAS 2005, 220, m.w.N. [...]