VG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
VG Frankfurt a.M., Beschluss vom 02.08.2010 - 8 L 1827/10.F.A(V) - asyl.net: M17354
https://www.asyl.net/rsdb/M17354
Leitsatz:

Vorläufige Aussetzung einer Dublin-Überstellung nach Italien für die Dauer von sechs Monaten.

1. Die Zuständigkeit Italiens ist erloschen, da der Antragsteller vor mehr als 12 Monaten dort in die EU eingereist ist (Art. 10 Abs. 1 Dublin II-VO). Auch wenn Italien auf das Wiederaufnahmeersuchen Deutschlands nicht geantwortet hat, kann somit keine rechtlich wirksame Zuständigkeitsbestimmung erfolgen (Art. 20 Abs. 1c Dublin II-VO).

2. Das BAMF ist für die behauptete Asylantragstellung in Italien aufklärungs- und beweispflichtig: Da Italien im Gegensatz zu Deutschland keinen Vorbehalt zur Kinderrechtskonvention erklärt hat, konnte der minderjährige Antragsteller in Italien ohne gesetzlichen Vertreter keinen Asylantrag stellen; das BAMF hat nicht nachweisen können, dass der Antragsteller entgegen dessen Angaben einen solchen gesetzlichen Vertreter in Italien hatte.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, Italien, Frankreich, Schweiz, unbegleitete Minderjährige, Zustellung, Asylantrag, Vormundschaft, Kinderrechtskonvention, Eritrea
Normen: VO 343/2003 Art. 20 Abs. 1c, VO 343/2003 Art. 10 Abs. 1, VO 343/2003 Art. 18 Abs. 7, VO 343/2003 Art. 19 Abs. 2, AsylVfG § 34a Abs. 2, VO 343/2003 Art. 2 Bst. c, AsylVfG § 24 Abs. 1 S. 1, VO 343/2003 Art. 4 Abs. 2, VwGO § 123 Abs. 1, VO 343/2003 Art. 20 Abs. 1c
Auszüge:

[...]

Es liegt auch ein Anordnungsanspruch vor. Denn die Antragsgegnerin (Bundesamt) kann sich nicht für die beabsichtigte Überstellung des Antragstellers nach Italien auf die Dublin II-Verordnung stützen und eine sonstige Rechtsgrundlage existiert dafür nicht.

Das primäre Ziel der Dublin II-Verordnung liegt darin, dass als besondere Drittstaatenregelung nach dem sog. One-Chance-only-Prinzip nur ein einziger Signatarstaat für die Prüfung eines Asylantrages eines Drittstaatsangehörigen - wie dem Antragsteller - und damit die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig ist (vgl. Filzwieser/Sprung, Dublin II-Verordnung, 3. Aufl. 2010, S. 24; Huber/Göbel-Zimmermann, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2008, Rn. 1885). Dies setzt denknotwendig voraus, dass in zwei Signatarstaaten jeweils wirksam - nur ein wirksamer Asylantrag kann die Durchführung eines Asylverfahrens auslösen - ein Asylantrag im Sinne von Art. 2 lit. c) Dublin II-VO gestellt wurde. Aufgrund des Satzes 2 dieser Vorschrift bestimmt sich dies nach dem jeweiligen Verfahrensrecht des Signatarstaates (vgl. Filzwieser/Sprung, a.a.O., S. 63).

Einen solchen Asylantrag hat der Antragsteller In der Bundesrepublik Deutschland mit Schreiben seiner Bevollmächtigten vom 14.04.2010 gestellt.

Der Antragsteller hat in seiner Anhörung vom 01.06.2010 vor dem Bundesamt auf Nachfrage ausdrücklich verneint, in Italien einen Asylantrag gestellt zu haben. Für das Gegenteil ist das Bundesamt nach Art. 24 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG aufklärungspflichtig. Mit seinem Hinweis auf die EURODAC-Response vom 13.04.2010 hat es keinen entsprechenden Nachweis der Stellung eines Asylantrages in Italien erbracht, denn dieser ist lediglich zu entnehmen, dass der Antragsteller am 23.05.2008 in Crotone (Italien) aufgegriffen wurde und dass vom ihm Fingerabrücke genommen wurden. Dieser EURODAC-Response ist zudem keine Asylantragstellung i.S.d. Art. 4 Abs. 2 Dublin II-VO zu entnehmen; ein Formblatt oder Protokoll i.S. dieser Bestimmung hat das aufklärungspflichtige Bundesamt von den zuständigen italienischen Behörden nicht beschafft.

Im Übrigen konnte der Antragsteller zum damaligen Zeitpunkt in Italien als Minderjähriger - er war sowohl nach der Angabe des Geburtsjahres 1991 in Italien als auch nach seinem in der Bundesrepublik Deutschland angegebenen Geburtsdatum 10.01.1993 damals minderjährig - mangels Handlungsfähigkeit keinen wirksamen Asylantrag, aufgrund dessen ein Asylverfahren durchzuführen ist, stellen. Denn im Gegensatz zur Bundesrepublik Deutschland hat Italien zur Kinderschutzkonvention keinen Vorbehalt erklärt, so dass dort 2008 ein Minderjähriger nur durch einen gesetzlichen Vertreter einen Asylantrag stellen konnte. Der Antragsteller gibt an, dass er keinen solchen gesetzlichen Vertreter gehabt habe; das Gegenteil hat das Bundesamt nicht nachweisen können.

Die Antragsgegnerin (Bundesamt) kann sich für ihre beabsichtigte Überstellung des Antragstellers nach Italien zudem deshalb nicht auf die Dublin II-Verordnung stützen, weil die Zuständigkeit Italiens nach Art. 10 Abs. 1 Dublin II-VO erloschen ist. Aus der EURODAC-Response vom 13.04.2010 ergibt sich, dass sich der Antragsteller am 23.05.2008 in Crotone (Italien) aufgehalten hat. Selbst bei Unterstellung der Richtigkeit der Auffassung der Antragsgegnerin, der Antragsteller habe damals in Italien einen Asylantrag gestellt, endete die Zuständigkeit Italiens zwölf Monate nach dem Grenzübertritt und mithin weit vor der Asylantragstellung in der Bundesrepublik Deutschland. Dem vom Bundesamt am 13.04.2010 an Italien gerichteten Wiederaufnahmeersuchen und dem nach dort gerichteten Verfristungsschreiben des Bundesamtes vom 21.08.2010 - beide blieben unbeantwortet - kann somit keine rechtliche Relevanz zukommen und die Wirkung des Art. 18 Abs. 7 Dublin II-VO nicht hervorrufen. Der Antragsteller weist im Übrigen unwidersprochen darauf hin, dass ein Wiederaufnahmeverfahren in Italien nur im Falle einer wirksamen Asylantragstellung möglich ist. [...]