Keine Gruppenverfolgung von Yeziden im Irak wegen fehlender Verfolgungsdichte. Es kann offenbleiben, ob im Irak ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt herrscht, da keine erhebliche individuelle Gefahr mangels hinreichender Gefährdungsdichte im Sinne von § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG (Provinz Ninive).
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1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG liegen zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung in der Person des Klägers nicht vor. [...]
b) Auch auf eine Gruppenverfolgung wegen seiner yezidischen Glaubenszugehörigkeit kann sich der Kläger nicht berufen. [...]
Aufgrund der Auskunftslage ist nicht von einem staatlichen Verfolgungsprogramm in Bezug auf die Yeziden im Irak auszugehen. Eine unmittelbare Diskriminierung oder Verfolgung religiöser oder ethnischer Minderheiten durch staatliche Behörden findet nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 11.04.2010 nicht in systematischer Weise, allerdings in signifikantem Umfang statt. Auch die sonstigen Auskünfte enthalten keine Anhaltspunkte für ein solches Verfolgungsprogramm in Bezug auf die Yeziden. Es ist auch nicht ersichtlich, dass es ein Verfolgungsprogramm nichtstaatlicher Akteure, die zur Umsetzung eines Programms in der Lage wären, gibt.
Für die Feststellung einer Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Gruppierungen fehlt es den Verfolgungsmaßnahmen gegen die Yeziden an der erforderlichen Verfolgungsdichte (ebenso: VGH Bad.-Württ., Urt. v. 16.11.2006 - A 2 S 1150/04 -, juris; ferner etwa VG Magdeburg, Urt. v. 20.01.2010 - 2 A 275/09 MD -, juris; Bayer. VG Ansbach, Urt. v. 04.02.2010 - AN 14 K 09.3035 -, juris; VG München, Urt. v. 13.10.2009 - M 16 K 09.50224 -, juris; VG Sigmaringen, Urt. v. 24.02.2010 - A 1 K 3310/09 -, juris).
Die Zahl der Yeziden liegt Schätzungen zufolge zwischen 200.000 und 600.000 Personen (Lagebericht des AA vom 12.08.2009, S. 22; Lagebericht des AA vom 11.04.2010, S. 26 und S. 7; Bundesasylamt der Republik Österreich, Die Sicherheitslage der Yeziden im Irak, vom 04.11.2009, S. 8; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Informationszentrum Asyl und Migration, Lage der Religionsgemeinschaft der ausgewählten islamischen Länder, Ziffer 6.3.4 vom Juni 2009). Von den Yeziden leben etwa 2/3 in der Gebirggsregion von Sinjar und etwa 1/3 im Distrikt Sheikhan oder in den Großstädten des Irak (vgl. insbesondere VGH Bad.-Württ., Urt. v. 16.11.2006 und Lagebericht des AA vom 11.04.2010, EZKS vom 17.02.2010 an VG München). Der Sinjar liegt ebenso wie der größte Teil des Sheikhan in der ehemals zentralirakischen Provinz Ninive. Nur ein Teil Sheikhans, der Norden inklusive des Laleschtals, liegt in der kurdischen Dohuk. [...]
Auf der Grundlage der dargestellten Erkenntnismittel kann in quantitativer Hinsicht nicht auf eine Verfolgungsdichte, die ohne weiteres für jeden einzelnen Yeziden die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entstehen lässt, geschlossen werden. Die bekannt gewordene Zahl der Übergriffe in den vergangenen Jahren ist - ungeachtet der anzunehmenden Dunkelziffer - gemessen an der Gesamtzahl der im Irak lebenden Yeziden nicht geeignet, eine Verfolgung der Yeziden als religiöse Gruppe zu belegen. Dies gilt selbst dann, wenn man in Anbetracht der Unklarheit über die Gruppengröße der Yeziden eine zahlenmäßig niedrige Gruppengröße der unterschiedlich groß geschätzten Gruppe von nur 200.000 bis 250.000 zugrunde legen würde und weiter davon ausginge, dass alle berichteten Maßnahmen gegen die Yeziden in Bezug auf die Verfolgungshandlung und in Bezug die Verknüpfung zwischen Handlung und Grund verfolgungsrelevant im Sinne der Art. 9 Abs. 1 Buchstabe a und Abs. 1 Buchstabe b, Art. 9 Abs. 2 Buchstabe a und Art. 9 Abs. 3 i.V.m. Art. 10 Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 (sog. Qualifikationsrichtlinie) wären, was kaum der Fall sein dürfte. Das Bundesverwaltungsgericht hat bei einer deutlich größeren Gruppe eine Verfolgungsdichte von etwa einem Drittel im Ansatz als hinreichend angesehen, um eine Gruppenverfolgung annehmen zu können (BVerwGE 101). Selbst bei der Annahme einer hinreichenden Verfolgungsdichte von nur einem Zehntel, was bei der hier zu betrachtenden deutlich kleineren Gruppe eher angemessen sein dürfte, würde sich eine hinreichende Verfolgungsdichte aufgrund des vorliegenden Tatsachenmaterials nicht konkret belegen lassen, auch wenn man nur die Verfolgungsschläge zwischen den Jahren 2004 und 2007 in den Blick nähme und dabei außer Acht ließe, dass die Dichte verfolgungsrelevanter Maßnahmen gegen die Yeziden und die Anzahl der Gewalttätigkeiten im Irak allgemein in den Jahren 2008 und 2009 gegenüber den Vorjahren erheblich zurückgegangen ist. Diese Aussage gilt auch, wenn man nur die Gruppe der in der Provinz Ninive lebenden Yeziden betrachtet (Lagebericht des AA vom 11.04.2010, S. 26). Damit liegt die tatsächlich festgestellte Verfolgungsdichte - selbst unter Berücksichtigung einer Dunkelziffer - weit unter der kritischen Verfolgungsdichte, bei deren Vorliegen eine Gruppenverfolgung zu bejahen wäre. Mit Blick auf die Distrikte Sheikhan und Al-Sheikhan, neben dem Sindjar eines der Hauptsiedlungsgebiete der Yeziden im Irak, ist zudem anzuführen, dass die Sicherheitslage dort grundsätzlich besser ist als im Sindjar. Der Großteil dieser Gebiete gehört zu den Gebieten, die de facto kurdisch verwaltet werden mit Ausnahme des nördlichsten Teils des Distrikts Sheikhan, der sogar unter de jure kurdischer Verwaltung steht (EZKS an VG München vom 17.02.2010, S. 23 ff.).
Die von den dargestellten Verfolgungsschlägen betroffenen Yeziden lassen sich auch nicht unter einem anderen Merkmal als der Religionszugehörigkeit als eventuell kleinere Gruppe zusammenfassen bzw. abgrenzen. [...]
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf subsidiären Schutz nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG. Insbesondere liegt in seiner Person keine spezifische individuelle Betroffenheit aufgrund persönlicher Gefahr erhöhender Umstände vor, die vor dem Hintergrund der herrschenden defizitären Sicherheitslage zur Bejahung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG führen könnten. [...]
Nach Auffassung des VGH Baden-Württemberg (Urt. v. 25.03.2010 - A 2 S 364/09 -) ist die Frage, ob die derzeitige Situation im Irak die landesweit oder auch nur regional gültige Annahme eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts rechtfertigt, wohl zu verneinen. Darauf kommt es jedoch hier nicht an, da selbst bei der Annahme eines solchen Konflikts ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG steht, wenn der Ausländer einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben "im Rahmen" dieses Konflikts ausgesetzt ist. Eine solche Gefahr lässt sich im Falle des Klägers nicht feststellen. [...]
Zur Abschätzung des sich ergebenden Gefahrengrads ist die Zahl der Opfer von Anschlägen in Bezug zu der Zahl der gesamten Bevölkerung des Irak zu setzen. Nach dem in der Ausarbeitung des Informationszentrums Asyl und Migration des Bundesamts zitierten Bericht der britischen Nichtregierungsorganisation Iraq Body Count, die seit dem Einmarsch der Koalitionsstreitkräfte in den Irak die Verluste unter der irakischen Zivilbevölkerung zählt, sind diese im Jahr 2009 auf den niedrigsten Stand seit 2003 gefallen. Im Jahr 2008 habe die Zahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei etwa 4.645 gelegen. Im Jahr 2009 habe die Zahl noch über 9.000 betragen. Das Informationszentrum Asyl und Migration zitiert ferner einen Bericht des amerikanischen Verteidigungsministeriums vom Juni 2009, in dem bezogen auf den Zeitraum März bis Mai 2009 eine durchschnittliche Zahl der Todesopfer unter der Zivilbevölkerung von 9,2 pro Tag genannt wird. In einem späteren Bericht vom September 2009, der sich auf den Zeitraum Juni bis August 2009 bezieht, sei von durchschnittlich 204 Anschlägen pro Woche gegen die Zivilbevölkerung, die irakischen Sicherheitskräfte und die Koalitionstruppen die Rede, die damit um 19 % gegenüber dem vorangegangenen Berichtszeitraum zurückgegangen seien. Die Zahl der Toten unter der Zivilbevölkerung sei in diesem Zeitraum allerdings leicht auf 9,5 Tote pro Tag gestiegen (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 25.03.2010, a.a.O.). In der Provinz Ninive (insgesamt ca. 2,8 Millionen Einwohner) mit der Hauptstadt Mosul (zweitgrößte Stadt des Iraks mit 1,7 Millionen Einwohnern) waren nach der Ausarbeitung des Informationszentrums Asyl und Migration des Bundesamts im Jahr 2009 845 Tote bei 474 Anschlägen zu beklagen, was auf 100.000 Einwohner bezogen 30,1 Tote bei 1,8 Toten je Vorfall bedeutet.
Danach kann nicht davon ausgegangen werden, dass der diesen Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht hat, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dieser Region einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt ist. Damit kann die Frage, ob ein innerstaatlicher oder internationaler Konflikt in der Provinz Ninive anzunehmen ist, offen bleiben.
Erreicht damit die Anzahl der Anschläge, denen die Zivilbevölkerung allgemein ausgesetzt ist, nicht die für die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 S AufenthG erforderliche Dichte, wird diese auch dann nicht erreicht, wenn die vom Kläger in Anspruch genommene Zugehörigkeit zu den Yeziden als persönliches, gefahrerhöhendes Merkmal in den Blick genommen wird. Es wurde bereits oben ausgeführt, dass sich daraus nicht die notwendigen Anhaltspunkte für die Annahme der für eine Gruppenverfolgung im Sinne des Flüchtlingsschutzes nach § 60 Abs. 1 AufenthG erforderlichen Verfolgungsdichte ergeben. [...]