1. Für die Annahme einer örtlich begrenzten Gruppenverfolgung von Tschetschenen in Tschetschenien fehlt es gegenwärtig an der erforderlichen Verfolgungsdichte.
2. Es sprechen gegenwärtig stichhaltige Gründe i.S.v. § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG i. V. m. Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie dagegen, dass vorverfolgten Tschetschenen bei einer Rückkehr nach Tschetschenien dort erneut eine an ihre Volkszugehörigkeit anknüpfende Verfolgung drohen wird, solange nicht im Einzelfall individuelle Gefahr erhöhende Gesichtspunkte hinzutreten.
3. Zu den Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG.
(Amtliche Leitsätze)
[...]
2. [...] b. Allerdings unterlagen die Kläger als tschetschenische Volkszugehörige zum Zeitpunkt ihrer Ausreise im Jahre 2001 einer an ihre tschetschenische Volkszugehörigkeit anknüpfenden örtlich begrenzten Gruppenverfolgung.
Der Senat hatte bereits in seinem Urteil vom 31.05.2006 (Az. 2 A 112/06.A), das zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung vom 29.04.2010 gemacht worden ist, für die Zeit seit Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges im Spätherbst 1999 die Voraussetzungen für eine örtlich begrenzte Gruppenverfolgung von Tschetschenen in Tschetschenien für gegeben erachtet. Nach Einschätzung des Senats führten die russischen Sicherheitskräfte den Kampf gegen die bewaffneten tschetschenischen Rebellen in einer Weise, die auch auf die physische Vernichtung der tschetschenischen Zivilbevölkerung gerichtet war, obwohl diese keinen Widerstand leistete oder nicht am militärischen Geschehen beteiligt war (Rz. 46 – 47 des juris-Ausdrucks des Urteils). Der Senat hielt nach Auswertung der in seinem Urteil näher bezeichneten Erkenntnisquellen das für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche Kriterium der Verfolgungsdichte für gegeben. Er legte hierbei zugrunde, dass wegen der seit Beginn des zweiten Krieges unzähligen und durchgehenden und ihrer Intensität nach asylerheblichen Vorkommnisse gegenüber der tschetschenischen Zivilbevölkerung eine derartige Verfolgungsdichte bestand, dass jeder Tschetschene und jede Tschetschenin im Alter der Kläger aktuell ein den genannten Vergleichsfällen entsprechendes Verfolgungsschicksal für sich befürchten musste. Der Senat kam nach der Auswertung damals aktueller Erkenntnismittel zu der Einschätzung, dass die Verfolgungssituation auch zum Zeitpunkt seiner Entscheidung im Mai 2006 noch in ihrer Intensität unvermindert andauerte (Rz. 61). Der Hessische Verwaltungsgerichtshof schloss sich in der Folgezeit dieser Bewertung an (vgl. Hess. VGH, Urt. v. 21.02.2008 - 3 UE 191/07.A).
Nach erneuter Prüfung der Sach- und Rechtslage hält der Senat an der Bewertung fest, dass seit Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges von einer örtlich begrenzten Gruppenverfolgung tschetschenischer Volkszugehöriger auszugehen war und diese bis über den Zeitpunkt der Ausreise der Kläger aus Tschetschenien im Oktober 2000 bzw. der Ausreise aus der Russischen Föderation im Februar 2001 hinaus noch andauerte. Der erkennende Senat verfügt heute über keine neueren oder zusätzlichen Erkenntnisquellen, die in Anwendung der in der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten und vom Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 21.04.2009 (Az. 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237) nochmals bestätigten Maßstäbe jetzt Anlass zu einer anderen Einschätzung der seinerzeitigen Lage geben könnten. Der Senat verweist deshalb auf seine Ausführungen im Urteil vom 31.05.2006, die er nach wie vor für zutreffend hält.
3. Im vorliegenden Fall sprechen stichhaltige Gründe i.S.v. Art. 4 Abs. 4 QRL dagegen, dass die Kläger bei einer Rückkehr nach Tschetschenien dort von Verfolgung oder einem Schaden i.S.v. Art. 4 Abs. 4 QRL bedroht sein werden. [...]
b. Seit der Ausreise der Kläger aus Tschetschenien und insbesondere in dem Zeitraum nach dem o.a. Urteil des Senats vom 31.05.2006 hat sich die Sicherheitslage in Tschetschenien in einer Weise durchgreifend geändert, die den Senat zu der Überzeugung gelangen lässt, dass nunmehr "stichhaltige Gründe" dagegen sprechen, dass die Kläger bei einer Rückkehr in ihre Heimatregion erneut von einer politischen Verfolgung bedroht sein werden.
(1) Nach Auswertung der in das Gerichtsverfahren eingeführten Erkenntnisquellen stellt sich die Lage für den erkennenden Senat derzeit wie nachfolgend beschrieben dar.
Ramsan Kadyrow, der seit März 2006 Premierminister der russischen Kaukasus-Republik Tschetschenien war, wurde am 02.03.2007 vom tschetschenischen Parlament auf Vorschlag des russischen Staatschefs Putin zum Präsidenten des Landes gewählt und am 05.04.2007 in Gudermes in sein Amt eingeführt.
Das Auswärtige Amt führt in seinem "Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation" vom 04.04.2010 (Stand: Februar 2010; kurz: Lagebericht 2010) aus, dass Präsident Ramsan Kadyrow ein repressives, stark auf seine Person zugeschnittenes Regime etabliert habe. Seit der Regierung und Präsidentschaft Ramsan Kadyrows seien erhebliche Zeichen der Normalisierung festzustellen, jedoch fänden noch weiterhin kleinere Kämpfe zwischen Rebellen und regionalen sowie föderalen Sicherheitskräften statt. Bei den aktiven Rebellen hätten islamistische Kräfte die Oberhand gewonnen, die die Errichtung eines "Kaukasischen Emirates" im gesamten Nordkaukasus anstrebten und ihre Aktivitäten immer mehr in die Nachbarrepubliken, insbesondere nach Inguschetien und Dagestan, verlagert hätten. Eine dauerhafte Befriedung der Lage in Tschetschenien sei noch nicht eingetreten. Die Aktivitäten der tschetschenischen und föderalen Sicherheitskräfte gegen die Rebellen seien auch 2008 fortgesetzt worden (S. 17f.).
Auch andere Quellen weisen auf eine positive Entwicklung der Lage in Tschetschenien ab dem Jahre 2006 hin. [...]
Auch der UNHCR konstatiert in einer Stellungnahme an den Hessischen VGH vom 08.10.2007 eine graduelle Verbesserung der Sicherheitslage in Tschetschenien. Im Vergleich zu den früheren Jahren habe die Zahl von Entführungen und das Verschwindenlassen von Personen stark abgenommen, auch wenn solche Fälle weiterhin zu verzeichnen seien. [...]
In einem Bericht "Zur Lage der Bewohner Tschetscheniens in der Russischen Föderation August 2006 – Oktober 2007" (Hrsg. Svetlana Gannuschkina; im Folgenden: "Memorial-Bericht 2007") kommt die Nichtregierungsorganisation "Memorial" zu dem Ergebnis, dass es in dem untersuchten Zeitraum bedeutsame Änderungen gegeben habe: Bis Ende 2006 hätten die Entführungen und Morde schrittweise abgenommen. Seit Januar 2007 hätten die Entführungen sogar sehr stark abgenommen. Man vermute, Präsident Kadyrow habe den Chefs der ihm unterstehenden Strukturen klar gesagt, dass Entführungen nicht mehr geduldet würden (S. 22). Auch in der im Jahre 2009 veröffentlichten Fortschreibung des o.a. Lageberichts ("Bewohner Tschetscheniens in der Russischen Föderation, Oktober 2007 – April 2009"; im Folgenden: "Memorial-Bericht 2009") wird darauf hingewiesen, dass sich 2007 die Zahl der dokumentierten Entführungen durch "Angehörige der Rechtsschutzstrukturen" und Folter verringert habe.
Gleichwohl wird in den vorliegenden Erkenntnisquellen übereinstimmend die Sicherheitslage für die Zivilbevölkerung in Tschetschenien als noch nicht zufriedenstellend beschrieben. Insbesondere lässt sich nach einer Auswertung der Auskunftslage feststellen, dass sich in den Jahren 2008 und 2009 der Trend zu einer weiteren Verbesserung der Sicherheitslage nicht wie in den Vorjahren fortgesetzt hat.
Nach den im Lagebericht 2010 des Auswärtigen Amtes wiedergegebenen Erkenntnissen sollen Menschenrechtsorganisationen glaubwürdig über zahlreiche Strafprozesse auf der Grundlage fingierten Materials berichtet haben gegen angebliche Terroristen aus dem Nordkaukasus, insbesondere Tschetschenen, die aufgrund von unter Folter erlangten Geständnissen oder gefälschten Beweisen zu hohen Haftstrafen verurteilt worden seien. Im Nordkaukasus fänden die schwersten Menschenrechtsverletzungen in der Russischen Föderation statt. Hierzu seien seit 2005 zahlreiche Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegen Russland ergangen, der insbesondere Verstöße gegen das Recht auf Leben festgestellt habe. Nichtregierungsorganisationen, internationale Organisationen und die Presse berichteten, dass sich auch nach dem von offizieller Seite festgestellten Abschluss des "politischen Prozesses" zur Überwindung des Tschetschenienkonflikts dort erhebliche Menschenrechtsverletzungen durch russische und pro-russische tschetschenische Sicherheitskräfte gegenüber der tschetschenischen Zivilbevölkerung fortgesetzt hätten. Nach zwei Jahren mit deutlichen Fortschritten sowohl bei der Sicherheits- als auch bei der Menschenrechtslage habe sich die Situation in beiden Bereichen in den Jahren 2008 und 2009 insgesamt wieder verschlechtert. Nicht fortgesetzt habe sich der Rückgang der Entführungszahlen, von denen "Memorial" in der ersten Jahreshälfte 2009 74 registriert habe, gegenüber 42 im gesamten Jahr 2008. Die Entführungen würden größtenteils den (v.a. republikinternen) Sicherheitskräften zugeschrieben. Weiterhin würden zahlreiche Fälle von Folter gemeldet. Folter bleibe – auch außerhalb Tschetscheniens – ein drängendes Problem. Sie erfolge willkürlich und unvorhergesehen, ein Muster sei nicht erkennbar. [...]
Amnesty international führt in einer Stellungnahme vom 14.5.2008 für das VG Köln aus, dass von einer Normalisierung der Situation in Tschetschenien, von der russische und tschetschenische Regierungsvertreter wiederholt gesprochen hätten, nach wie vor keine Rede sein könne. Es komme in tschetschenischen Sicherheitskräften auf der einen und bewaffneten Oppositionsgruppen auf der anderen Seite. Die Übergriffe auf die Zivilbevölkerung, die mit schweren Menschenrechtsverletzungen einhergingen, dauerten fort und seien nach wie vor weit verbreitet. Es handele sich nicht um eine allgemeine Gefahrensituation, sondern vielmehr um Übergriffe, die darauf abstellten, das Leben, die Würde und die Sicherheit der Zivilbevölkerung anzutasten, und die nicht unmittelbar im Zusammenhang mit dem Kriegsgeschehen stünden. Die Menschenrechtsverletzungen umfassten "Verschwindenlassen", extralegale Tötungen, Folter und Misshandlung, willkürliche Festnahmen und Haft ohne Kontakt zur Außenwelt (Incommunicado) in inoffiziellen sowie offiziellen Hafteinrichtungen sowie wahllose Anwendung von Gewalt. In den letzten Jahren habe es jedoch langsam Veränderungen hinsichtlich des Verfolgungsmusters gegeben. Zunehmend seien für die Übergriffshandlungen auf die Zivilbevölkerung tschetschenische Sicherheitskräfte verantwortlich; an erster Stelle die Miliz von Kadyrow. "Verschwindenlassen" und extralegale Tötungen kämen in Tschetschenien immer noch in hohem Maße vor, diese Form der Übergriffe habe jedoch im Vergleich zu den Vorjahren abgenommen. Demgegenüber ließen zahlreiche Berichte, die amnesty international und andere Menschenrechtsorganisationen erhielten, den Schluss zu, dass stattdessen Folter und Misshandlungen zunähmen. Grundsätzlich könne jeder tschetschenische Zivilist zu irgendeinem Zeitpunkt von Übergriffshandlungen durch die Sicherheitskräfte betroffen werden (S. 8). Angesichts der Größe Tschetscheniens, der Dauer des Konfliktes und der Bevölkerungszahl sei davon auszugehen, dass sich letztlich in jeder (Groß-) Familie jemand finde, der sich zu irgendeinem Zeitpunkt für eine bestimmte Zeit dem bewaffneten Kampf angeschlossen habe. Warum dann letztlich in bestimmten Fällen eine Festnahme vorgenommen werde und in anderen nicht, folge keinem erkennbaren Muster (S. 9).
(2) In Anbetracht der vorstehend referierten aktuellen Auskunftslage besteht für die Kläger derzeit nicht die Gefahr, bei einer Rückkehr nach Tschetschenien erneut Opfer einer (örtlich begrenzten) Gruppenverfolgung von Tschetschenen zu werden. Für die Annahme einer (örtlich begrenzten) Gruppenverfolgung von Tschetschenen fehlt es an der erforderlichen Verfolgungsdichte.
aa. Für die Feststellung der Verfolgungsdichte genügt es, die ungefähre Größenordnung der Verfolgungsschläge zu ermitteln und sie in Beziehung zur Gesamtgruppe der von Verfolgung Betroffenen zu setzen. Dabei dürfen die Gerichte bei unübersichtlicher Tatsachenlage und nur bruchstückhaften Informationen aus einem Krisengebiet auch aus einer Vielzahl ihm vorliegender Einzelinformationen eine zusammenfassende Bewertung des ungefähren Umfangs der asylerheblichen Verfolgungsschläge und der Größe der verfolgten Gruppe vornehmen. Auch für die Annahme einer erheblichen Dunkelziffer nicht bekannter Übergriffe müssen die gerichtlichen Feststellungen zur Größenordnung der Gesamtheit der Anschläge aber in nachvollziehbarer und überprüfbarer Weise begründet werden (vgl. BVerwG, Beschl. v. 02.02.2010 -10 B 18.09-, juris).
bb. Offizielle belastbare Angaben über die aktuelle Einwohnerzahl Tschetscheniens sind nicht verfügbar. Die von tschetschenischen Behörden für den Stichtag 01.01.2007 genannte Bevölkerungszahl von 1.385.745 (vgl. UNHCR, a. a. O.) wird allgemein als zu hoch angesehen. Luchterhandt (a.a.O) geht, allerdings ohne Angabe von Quellen, von real 250.000 bis 350.000 Einwohnern Tschetscheniens aus. Im Memorial-Bericht 2007 ist – ebenfalls ohne Quellenangabe - im Zusammenhang mit den sozialen Lebensbedingungen in Tschetschenien von 318.000 Arbeitslosen die Rede, was 70% der "wirtschaftlich aktiven Bevölkerung der Republik" entspreche (S. 30). Amnesty international verweist auf dänische Quellen, die für den Stichtag 30.03.2007 von ca. 650.000 als Bedürftige registrierte Personen ausgingen. Verlässliches Zahlenmaterial über die Einwohnerzahl Tschetschenien liege nicht vor (Auskunft an Hess. VGH v. 27.04.2007). Der Senat war in seinem o.a. Urteil vom 31.05.2006 von einer verfolgungsbetroffenen Personenzahl (d.h. ausschl. der jüngeren Kinder) in Tschetschenien von wohl unter 400.000 ausgegangen. [...]
Nach erneuter Überprüfung und Bewertung der Auskunftslage hält der Senat an der Schätzung der Einwohnerzahl Tschetscheniens in seinem o.a. Urteil vom 31.05.2006 fest. Die Einwohnerzahl ist in dem Urteil vom 31.05.2006 unter Auswertung der zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen plausibel hergeleitet worden und in der Folgezeit auch von anderen Obergerichten übernommen worden (vgl. Hess. VGH, Urt. v. 21.02.2008 – 3 UE 191/07.A). Es gibt keine Berichte oder Auskünfte darüber, in welchem zahlenmäßigen Umfang Tschetschenen seither in ihre Heimatrepublik zurückgekehrt sind, nachdem sich die Lage dort ab 2007/2008 wieder relativ stabilisiert hatte. Das Auswärtige Amt (Lagebericht 2009, S. 21; Lagebericht 2010, S. 21) berichtet zwar, dass die russische Regierung auf eine möglichst baldige Rückkehr aller tschetschenischen Flüchtlinge hinarbeite. Konkrete Angaben zum Stand der Bemühungen oder Zahlen von Rückkehrern werden jedoch nicht genannt. Entsprechendes gilt für den Memorial-Bericht 2009, der sich auf den Seiten 39 – 50 mit der Wohnsituation von Binnenflüchtlingen in Tschetschenien befasst, sowie für den Memorial-Bericht 2007 (S. 57ff.). Altenhofer (a.a.o) berichtet demgegenüber, dass der Trend zum Wegzug aus Tschetschenien auch im Jahre 2007 insbesondere bei jungen Menschen angehalten habe (S.6). Weitere Aufklärungsmöglichkeiten hinsichtlich einer verlässlicheren Feststellung des aktuellen Einwohnerzahl Tschetscheniens sieht der Senat nicht. Es kann allenfalls vermutet werden, dass sich aufgrund der seit etwa Anfang 2007 gegenüber den Vorjahren deutlich verbesserten Sicherheitslage in Tschetschenien die Bevölkerungszahl wohl eher erhöht als verringert haben wird.
bb. Der nach den vorstehenden Ausführungen anzunehmenden Zahl von etwa 300.000 bis 400.000 Einwohnern Tschetscheniens steht keine Anzahl von flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungshandlungen gegenüber, aus der für jeden Tschetschenen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. [...]
Insoweit unterscheidet sich die heutige Lage in Tschetschenien grundlegend von jener der Jahre 2004/2005, auf deren Grundlage der Senat in seinem o.a. Urteil vom 31.05.2006 von einer Fortdauer einer gegen die tschetschenische Zivilbevölkerung gerichteten Gruppenverfolgung ausgegangen war. Seinerzeit war die Situation noch geprägt von großflächigen "Säuberungsaktionen" und Razzien russischer und tschetschenischer Truppen und Sicherheitskräfte, bei denen auf der Suche nach mutmaßlichen Rebellen systematisch ganze Dörfer umstellt und durchsucht und mitunter mehrere tausend Zivilisten verhaftet oder nach nicht nachvollziehbaren Kriterien interniert wurden. Menschenrechtsgruppen gingen noch im Jahr 2005 von monatlich 50 bis 80 bei "Säuberungen" verschwundenen Personen aus (vgl. S. 22 ff. d. Urteils = juris-Rz. 61).
(3) Auch im Hinblick auf die Gefahr einer anlassgeprägten Einzelverfolgung sprechen stichhaltige Gründe i.S.v. Art. 4 Abs. 4 QRL dagegen, dass die Kläger bei einer Rückkehr nach Tschetschenien dort von Verfolgung oder einem Schaden i.S.v. Art. 4 Abs. 4 QRL bedroht sein werden.
Eine tatsächliche Gefährdung der Kläger relativiert sich dadurch, dass nicht alle Bewohner Tschetscheniens in gleicher Weise als gefährdet anzusehen sind, Opfer flüchtlingsrechtlich relevanter Übergriffe zu werden. Nach der Auskunftslage besteht für diejenigen Tschetschenen ein erhöhtes Verfolgungsrisiko, zu deren Volkszugehörigkeit und Herkunft weitere risikoerhöhende Umstände hinzutreten. Einer solchen Risikogruppe angehören die Kläger nicht an.
aa. Ein deutlich höheres Risiko, Opfer von flüchtlingsrechtlich relevanten Übergriffen zu werden, besteht nach der Auskunftslage für solche Personen, die von den Sicherheitskräften verdächtigt werden, den Rebellen anzugehören oder mit Rebellen verwandt zu sein oder solchen Personen nahe zu stehen (s. Luchterhandt S. 21; Altenhofer S. 5; a.i. v. 27.4.2007 S. 9; Gesellschaft für bedrohte Völker S. 10; Schweizerische Flüchtlingshilfe S. 19). Der UNHCR nennt in seiner o.a. Stellungnahme unter Bezugnahme auf Angaben von Menschenrechtsorganisationen in diesem Zusammenhang auch frühere Mitglieder illegaler, bewaffneter Formationen und deren Angehörige (S. 5). Im Lagebericht 2007 des Auswärtigen Amtes vom 13.01.2008 (Stand: Dezember 2007) ist von durch Sicherheitsbehörden organisierte Geiselnahmen von Familienangehörigen mutmaßlicher Rebellen, durch die diese zur Aufgabe gezwungen werden sollen, die Rede (S. 18). Auch die Gesellschaft für bedrohte Völker (a.a.O) referiert Fälle von Sippenhaft bei Angehörigen tschetschenischer Kämpfer (S. 7). Familiäre Beziehungen zu mutmaßlichen aktiven Rebellen werden auch von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (a.a.O) und im Memorial-Bericht 2009 als Grund für das Niederbrennen von Häusern in Tschetschenien und für die Vertreibung von Tschetschenen genannt (s.o.). In einer Auskunft an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof vom 06.08.2007 weist das Auswärtige Amt darauf hin, dass Tschetschenen, die nach Abschluss der Kampfhandlungen nach Tschetschenien zurückgekehrt seien, zwar in den Regel ein an dortigen Verhältnissen gemessen "normales Leben" führen könnten. Das gelte aber nicht für Personen, die an Kampfhandlungen teilgenommen hätten (S. 2).
Die Kläger, insbesondere der Kläger zu 1., zählen indes nicht zu der so umrissenen Risikogruppe mutmaßlicher aktiver oder ehemaliger Rebellen und deren Angehörigen. [...]
bb. Als weitere Risikogruppen werden in den in das Verfahren eingeführten Quellen insbesondere Oppositionelle, Regimegegner, Menschenrechtsverteidiger, Bürgerrechtler, Mitarbeiter von NGOs und kritische Journalisten genannt (s. Schweizerische Flüchtlingshilfe, a.a.O, S. 14 – 18). Nach Luchterhand (a.a.O.) ist es abstrakt betrachtet nicht nur wahrscheinlich, sondern selbstverständlich, dass bekannte oder gar prominente Funktionäre oder Parteigänger Maschadows und der "Tschetschenischen Republik Icherija" im Falle einer Rückkehr nach Tschetschenien nicht routinemäßig behandelt, sondern einer sorgfältigen Überprüfung und Kontrolle unterzogen werden (S. 14). Der UNHCR (a.a.O., S. 5) führt aus, dass laut Angaben von Menschrechtsorganisationen u.a. solche Rückkehrer besonders gefährdet seien, die offensichtlich von der Position der gegenwärtigen Regierung abweichende politische Ansichten hätten. Brandstetter/Hartl (a.a.O.; S. 5f.) heben hervor, dass Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen und insbesondere Menschenrechtsaktivisten der Gefahr ausgesetzt seien, schikaniert und bedroht zu werden. Die Mitarbeiter von "Memorial" und anderer NGO würden unter Druck und Bedrohung arbeiten. Gelegentlich sei es zu Fällen von "Verschwinden" von Menschenrechtsaktivisten gekommen. Der Mord an der Memorial-Mitarbeiterin Estemirova im Juni 2009 belege, dass geäußerte Bedenken im Hinblick auf Rechte und Sicherheit von NGO-Mitarbeitern nicht unbegründet seien. Brandstetter/Hartl weisen in diesem Zusammenhang auf weitere Mordfälle innerhalb und außerhalb der Nordkaukasusrepubliken hin. Amnesty international (Auskunft v. 27.4.2007, S. 9) sieht diejenigen einer gezielten Verfolgung ausgesetzt, die sich für die Einhaltung internationaler Menschenrechtsstandards oder aber für die Aufklärung begangener Menschenrechtsverletzung einsetzten. In ihrer Publikation "Die Menschenrechtslage in den Nordkaukasusrepubliken" (November 2009) bezeichnet die Gesellschaft für bedrohte Völker das Engagement für die Einhaltung der Menschenrechte in den Nordkaukasusrepubliken als selbstmörderisch. In Tschetschenien würden Menschenrechtsverteidiger, Journalisten und andere, die sich für die Opfer staatlicher Gewalt einsetzten, schikaniert, bedroht und ermordet.
Die Kläger zählen nicht zu dieser Risikogruppe. [...]
Eine besondere Gefährdungslage lässt sich auch für den Kläger zu 3. als junger Mann nicht feststellen.
Der im Februar 1994 geborene Kläger zu 3. ist jetzt 16 Jahre alt. Die Frage der Wehrpflicht und u.U. daraus folgender Gefährdungen, sei es aufgrund seiner Volkszugehörigkeit oder wegen der allgemein verbreiteten Praxis der Misshandlung von Rekruten (sog. Dedowschtschina), stellt sich bei ihm derzeit noch nicht, weil die allgemeine Wehrpflicht erst für Männer zwischen 18 und 28 Jahren besteht (s. AA Lagebericht 2010, S. 13).
Auch im Übrigen ist für den Kläger zu 3. ein erhöhtes Risiko nicht erkennbar. Zwar stellt sich nach Ansicht der Gesellschaft für bedrohte Völker (Auskunft an Hess. VGH v. 14.07.2007) die Sicherheitslage junger männlicher Tschetschenen (- In der Anfrage des Gerichts war nach 14 – 16-jährigen Jugendlichen gefragt worden -) als sehr bedenklich dar. Junge Männer gerieten sehr schnell in den Verdacht, tschetschenischen Widerstandskämpfern anzugehören (S. 8). Auch der UNHCR (a.a.O., S. 6) sieht diesen Personenkreis besonderen Gefahren ausgesetzt: Junge männliche Rückkehrer, die dem Rekrutierungsalter nahe sind, könnten von den Behörden als potentielle Gefahr für die Regierung angesehen werden, wenn sie Rebellenkämpfer unter ihren Familienangehörigen (im weiteren Sinne) hätten. Die Gefahr, als potentieller Rebell oder Verwandter eines Rebellen angesehen zu werden, wird der Kläger zu 3. durch den Nachweis seines langjährigen Auslandsaufenthalts indes leicht abwenden können. [...]
II. [...] 3. Auch für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG gibt es bei den Klägern keine Anhaltspunkte.
Nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. Die Regelung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist durch das Richtlinienumsetzungsgesetz vom 19.8.2007 in das Aufenthaltsgesetz neu eingefügt worden und dient der Umsetzung der Regelung über den subsidiären Schutz nach Artikel 15 Buchstabe c) QRL (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.07.2009 - 10 C 9.08 -, BVerwGE 134, 188-196 = NVwZ 2010, 196-198, juris-Rz. 11).
Es kann dahingestellt bleiben, ob die erst im bereits laufenden Gerichtsverfahren am 28.08.2007 in Kraft getretene Neuregelung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG überhaupt Gegenstand des anhängigen Berufungsverfahrens geworden ist (zur Problematik: VGH Mannheim, Urteile v. 09.06.2009 – A 11 S 982/06 – und v. 14.05.2009 – A 11 S 983/06 – sowie Hess. VGH, Urteil vom 11.12.2008 – 8 A 611/08.A).
Ebenso kann offen bleiben, ob die aktuelle Situation in Tschetschenien die Voraussetzungen eines "innerstaatliches bewaffneten Konflikts" im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG erfüllt (zur Begriffsbestimmung s. BVerwG, Urt. v. 24.6.2008 - 10 C 43.07 -, NVwZ 2008, 1241, juris- Rz. 22).
Jedenfalls kann hier nicht festgestellt werden, dass – sofern in Tschetschenien von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt auszugehen wäre – den Klägern daraus eine "erhebliche individuelle Gefahr für Leib und Leben" erwachsen würde.
Für die Feststellung der Gefahrendichte kann auf ähnliche Kriterien zurückgegriffen, wie sie im Bereich des Flüchtlingsrechts bei der Beurteilung Verfolgungsdichte bei einer Gruppenverfolgung herangezogen werden, sofern nicht die Besonderheiten des subsidiären Schutzes nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG entgegenstehen. Zudem ist zu beachten, dass die erhebliche individuelle Gefahr infolge "willkürlicher Gewalt" drohen muss, wie aus Art. 15 Buchst. c) QRL folgt, der mit der Regelung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG umgesetzt werden soll (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.6.2008 -10 C 43.07-, NVwZ 2008, 1241, juris- Rz. 35f). Die Kriterien für eine "ernsthafte individuelle Bedrohung als Folge von willkürlicher Gewalt" im Sinne von Art 15 Buchst. c) QRL hat der EuGH in einem Urteil vom 17.02.2009 (Rs C465/07 Elgafaji) näher umrissen. Danach kann das Vorliegen einer solchen Bedrohung ausnahmsweise als gegeben angesehen werden, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls in die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr läuft, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein (Rz. 43), die fragliche Person mithin wegen des hohen Gefahrengrades dieser Gefahr individuell ausgesetzt wäre (Rz. 37). Der EuGH weist zudem darauf hin, dass der Grad willkürlicher Gewalt, der vorliegen muss, damit ein Antragsteller Anspruch auf subsidiären Schutz habe, umso geringer ist, je mehr der Antragsteller möglicherweise zu belegen vermag, dass er aufgrund von seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist (Rz. 39). Das Bundesverwaltungsgericht sieht sich durch die o.a. Entscheidung des EuGH in seiner im Urteil vom 24.6.2008 (Az. 10 C 43.07) dargelegten Rechtsauffassung bestätigt. In einem Urteil vom 14.07.2009 (Az. 10 C 9.08 -, BVerwGE 134, 188-196 = NVwZ 2010, 196-198) führt das Bundesverwaltungsgericht in diesem Zusammenhang aus, dass wenn der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften verlange, dass der den bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreiche, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestünden, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr allein durch ihre Anwesenheit in dem betreffenden Gebiet tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften Bedrohung im Sinne des Art. 15 Buchst. c) QRL ausgesetzt zu sein, dies der Sache nach der vom Bundesverwaltungsgericht für erforderlich gehaltenen individuellen Verdichtung der allgemeinen Gefahr entspricht.
Daran gemessen, kann ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG hier nicht festgestellt werden. [...]