OVG Thüringen

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Zitieren als:
OVG Thüringen, Beschluss vom 28.12.2009 - 3 EO 469/09 - asyl.net: M17369
https://www.asyl.net/rsdb/M17369
Leitsatz:

Der Wortlaut von Art. 20 Abs. 2 S. 2 Dublin II-VO (bzw. Art. 19 Abs. 4 S. 2 Dublin II-VO) legt nahe, dass die Verlängerung der sechsmonatigen Überstellungsfrist nicht "automatisch" eintritt, sondern einer ausdrücklichen Entscheidung des BAMF bedarf, welchem insoweit Ermessen (auch hinsichtlich der Dauer der Verlängerung) eingeräumt wird.

Es spricht auch einiges dafür, dass der betroffene Asylbewerber durch eine unzutreffende Handhabung der einschlägigen Bestimmungen der Dublin II-VO in seinen Rechten verletzt wird. Jedenfalls hat der einzelne Flüchtling ein schutzwürdiges Interesse daran, nach Ablauf der Überstellungsfrist nicht mehr überstellt zu werden.

Soweit die Frist für die Überstellung des Asylbewerbers abgelaufen ist, dürfte § 34a Abs. 2 AsylVfG bei der gebotenen restriktiven Auslegung der Norm der Zulässigkeit eines gegen die drohende Abschiebung gerichteten Eilantrags nicht entgegenstehen.

 

Schlagwörter: vorläufiger Rechtsschutz, Beschwerdeverfahren, Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, deutscher Ehegatte, Duldung, Ausweisungsgrund, Passpflicht, Dublin II-VO, Dublinverfahren, Schweden, Überstellungsfrist, Ermessen, subjektives Recht
Normen: VwGO § 123, VwGO § 146 Abs. 4 S. 6, AufenthG § 3, AufenthG § 55 Abs. 2, AufenthG § 60a Abs. 2, GG Art. 6, EMRK Art. 8, AsylVfG § 80, VO 343/2003 Art. 20 Abs. 2 S. 1, GR-Charta Art. 18, AsylVfG § 34a Abs. 2
Auszüge:

[...]

Vorsorglich weist der Senat zu dieser Frage auf Folgendes hin: Es spricht vieles dafür, dass eine Abschiebung des Antragstellers nach Schweden nicht mit den Bestimmungen der sog. Dublin II-Verordnung in Einklang steht. Einschlägig sein dürfte insoweit nicht Art. 19 der Verordnung, sondern Art. 20, auf den Art. 16 Abs. 1 Buchstabe e verweist. Letztere Bestimmung befasst sich gerade mit dem Fall der erneuten Aufnahme eines Drittstaatsangehörigen durch den Staat, der seinen Asylantrag abgelehnt hat. Nach Art. 20 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (der inhaltlich mit der vom Antragsteller angeführten Bestimmung des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 der Verordnung übereinstimmt) geht die Zuständigkeit auf den Mitgliedsstaat über, in dem der Asylantrag eingereicht wurde, wenn die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt wurde. Diese Frist kann nach Art. 20 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung (der mit Art. 19 Abs. 4 Satz 2 übereinstimmt) unter den dort genannten Voraussetzungen höchstens auf ein Jahr bzw. auf achtzehn Monate verlängert werden. Ihr Wortlaut legt nahe, dass die Verlängerung nicht sozusagen "automatisch“ eintritt, sondern einer ausdrücklichen Entscheidung der zuständigen Behörde (wohl im Einvernehmen mit dem aufnehmenden Staat) bedarf, der insoweit Ermessen (auch hinsichtlich der Dauer der Verlängerung) eingeräumt wird (vgl. nur - zu Art. 19 Abs. 4 der Verordnung - VG Neustadt, Urteil vom 16.06.2009 - 5 K 1166/08.NW - juris). Eine derartige ausdrückliche Fristverlängerung fehlt hier. Selbst wenn man aber davon ausgehen wollte, dass eine Verlängerungsentscheidung zwischen den betroffenen Mitgliedsstaaten auch konkludent erfolgen könne (was im Hinblick auf die in Art. 20 Abs. 1 Satz 1 Buchstabe c der Verordnung geregelte Mitteilungspflicht nicht unproblematisch erscheint), liegen hier jedenfalls keine greifbaren Anhaltspunkte für eine entsprechende Absprache oder Übung zwischen den betroffenen Staaten vor (vgl. zu dieser Frage auch VG Münster, Urteil vom 23.04.2008 - 8 K 1585/07.A -, InfAuslR 2008, 372 und juris Rdn. 29; zur notwendigen positiven Feststellung einer entsprechenden Übung vgl. ferner Funke-Kaiser in GK-AsylVfG [Loseblatt: Stand: 86. Ergänzungslieferung November 2009], Stand Oktober 2009, § 27a Rdn. 262). Der Antragsgegner hat hier im Beschwerdeverfahren lediglich vorgetragen, dass ausweislich einer Auskunft des Bundesamtes von Seiten Schwedens die Aufnahmebereitschaft bis zum 15.01.2010 bestehe.

Es spricht auch einiges dafür, dass der betroffene Asylbewerber durch eine unzutreffende Handhabung der einschlägigen Bestimmungen der sog. Dublin II-Verordnung in seinen Rechten verletzt wird. Jedenfalls die Bestimmungen des Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 2 der Verordnung dürften nicht nur den Interessen der beteiligten Staaten zu dienen bestimmt sein, sondern auch den Interessen der davon betroffenen Asylbewerber. Der einzelne Flüchtling hat ein schutzwürdiges Interesse daran, dass sein Schutzgesuch in angemessener Zeit durch die Bundesrepublik Deutschland sachlich geprüft wird und er nach Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist nur noch dann in den aufnahmepflichtigen Staat überstellt wird, wenn eine wirksame Fristverlängerung vorliegt (in diesem Sinne wohl Funke-Kaiser, a.a.O., Rdn. 263). Dafür, dass die Regelungen der Verordnung zumindest teilweise subjektive Rechte der betroffenen Flüchtlinge begründen können, sprechen nicht zuletzt der vierte und der fünfzehnte ihr vorangestellte Erwägungsgrund: Während der vierte Erwägungsgrund auf die (auch) für "die Betroffenen gerechten Kriterien" verweist, zielt die Verordnung nach dem fünfzehnten Erwägungsgrund insbesondere darauf ab, die uneingeschränkte Wahrung des in Art. 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Rechts auf Asyl zu gewährleisten.

Schließlich dürfte, soweit die Frist für eine Überstellung des Asylbewerbers in den aufnahmebereiten Staat abgelaufen ist, § 34 Abs. 2 AsylVfG bei der gebotenen restriktiven Auslegung dieser Norm (vgl. dazu OVG NW, Beschluss vom 07.10.2009 - 8 B 1433.09.A -, AuAS 2009, 273 und juris unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts) der Zulässigkeit eines gegen die drohende Abschiebung gerichteten Eilantrags nicht entgegenstehen. [...]